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VfGH vom 02.07.2015, G240/2014

VfGH vom 02.07.2015, G240/2014

Leitsatz

Abweisung des Antrags eines Landesverwaltungsgerichtes auf Aufhebung einer Regelung des VerwaltungsgerichtsverfahrensG über die Nichtgewährung von Akteneinsicht; vorgebrachte Bedenken im Hinblick auf die Rechtsschutzeffizienz nicht zutreffend; kein Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit

Spruch

Der Antrag wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art 140 Abs 1 Z 1 lita B VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol (im Folgenden: LVwG Tirol), § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG, BGBl I 33/2013, als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

1. § 21 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), in der zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung, BGBl I 33/2013, lautet wie folgt (der angefochtene Satz ist hervorgehoben):

"Akteneinsicht

§21. (1) Entwürfe von Erkenntnissen und Beschlüssen des Verwaltungsgerichtes und Niederschriften über etwaige Beratungen und Abstimmungen sind von der Akteneinsicht ausgenommen.

(2) Die Behörden können bei der Vorlage von Akten an das Verwaltungsgericht verlangen, dass bestimmte Akten oder Aktenbestandteile im öffentlichen Interesse von der Akteneinsicht ausgenommen werden. In Aktenbestandteile, die im Verwaltungsverfahren von der Akteneinsicht ausgenommen waren, darf Akteneinsicht nicht gewährt werden. Die Behörde hat die in Betracht kommenden Aktenbestandteile bei Vorlage der Akten zu bezeichnen."

2. § 17 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG), BGBl 51/1991 idF BGBl I 33/2013, lautet wie folgt:

"Akteneinsicht

§17. (1) Soweit in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, können die Parteien bei der Behörde in die ihre Sache betreffenden Akten Einsicht nehmen und sich von Akten oder Aktenteilen an Ort und Stelle Abschriften selbst anfertigen oder auf ihre Kosten Kopien oder Ausdrucke erstellen lassen. Soweit die Behörde die die Sache betreffenden Akten elektronisch führt, kann der Partei auf Verlangen die Akteneinsicht in jeder technisch möglichen Form gewährt werden.

(2) Allen an einem Verfahren beteiligten Parteien muß auf Verlangen die Akteneinsicht in gleichem Umfang gewährt werden.

(3) Von der Akteneinsicht sind Aktenbestandteile ausgenommen, insoweit deren Einsichtnahme eine Schädigung berechtigter Interessen einer Partei oder dritter Personen oder eine Gefährdung der Aufgaben der Behörde herbeiführen oder den Zweck des Verfahrens beeinträchtigen würde.

(4) Die Verweigerung der Akteneinsicht gegenüber der Partei eines anhängigen Verfahrens erfolgt durch Verfahrensanordnung."

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Beim LVwG Tirol ist ein Verfahren über eine Berufung (nunmehr Beschwerde) gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Kufstein (im Folgenden: BH Kufstein) vom anhängig, mit dem dem – im Rahmen eines Verfahrens betreffend Entzug der Lenkberechtigung gestellten – Antrag des Berufungswerbers (nunmehr Beschwerdeführers) vom auf Akteneinsicht in vollem Umfang gemäß § 17 Abs 3 AVG keine Folge gegeben wurde. Die BH Kufstein begründet ihre Entscheidung damit, dass sich die Verweigerung der Akteneinsicht auf das Tatbestandsmerkmal der Schädigung berechtigter Interessen einer dritten Person beziehe. Im Verwaltungsakt befindet sich zudem ein Kuvert, das mit dem Vermerk "gem. § 17 AVG von der Akteneinsicht ausgenommen. " beschriftet und mit einer Unterschrift versehen ist. Der Beschwerdeführer führt in seiner Beschwerde an das LVwG Tirol im Wesentlichen aus, dass die Behörde keine Interessenabwägung vorgenommen und sich nicht ausreichend mit seinem Vorbringen auseinandergesetzt habe. Mit Schreiben vom stellte der Beschwerdeführer auch beim LVwG Tirol einen Antrag auf Gewährung der Akteneinsicht in den Verwaltungs- und Gerichtsakt inklusive der gemäß § 17 Abs 3 AVG von der BH Kufstein ausgenommenen Aktenbestandteile.

2. Bei Behandlung dieser Beschwerde sind beim LVwG Tirol Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG entstanden.

2.1. Zur Frage der Präjudizialität wird ausgeführt, dass "die Sache" auf Sachverhaltsebene entscheidungsreif sei und das LVwG Tirol § 21 Abs 2 VwGVG bei der Lösung der verfahrenswesentlichen Rechtsfrage anzuwenden habe.

2.2. In der Sache bringt das LVwG Tirol unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes VfSlg 19.730/2012 im Wesentlichen vor, dass § 21 Abs 2 VwGVG gegen den in Art 6 EMRK enthaltenen Grundsatz der Waffengleichheit verstoße: Im anhängigen Verfahren bestünden die zentralen Fragen darin, ob die Verweigerung der Akteneinsicht rechtmäßig erfolgt sei und ob ein Dokument von der Akteneinsicht ausgenommen werden dürfe, wenn die Behörde auf Grund dieser Information konkrete Anordnungen getroffen habe. Der Beschwerdeführer sei gegenüber der Behörde insofern benachteiligt, als diese in Kenntnis des von der Akteneinsicht ausgenommenen Dokumentes weitere Ermittlungsschritte gesetzt habe. Dadurch, dass der Beschwerdeführer die das Verfahren auslösenden Beweismittel nicht kenne, sei er im weiteren Verfahren "völlig blockiert". Gemäß § 21 Abs 2 VwGVG "schlage die Verweigerung der Akteneinsicht im verwaltungsbehördlichen Verfahren auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren durch". § 21 Abs 2 VwGVG gehe von einer die Verwaltungsgerichte bindenden, absoluten Entscheidung der Verwaltungsbehörden aus.

2.3. Massive Bedenken bestünden zudem zur grundsätzlichen Frage, ob Verwaltungsgerichte an die behördliche Verweigerung der Akteneinsicht in einzelne Dokumente zwingend gebunden werden könnten: Die Verfügung, Aktenbestandteile von der Akteneinsicht auszunehmen, sei regelmäßig im Rahmen des Ermittlungsverfahrens, bei der Feststellung des verfahrenswesentlichen Sachverhaltes, von Bedeutung. Indem den Verwaltungsgerichten nun nur mehr die Möglichkeit der kassatorischen Überprüfung – ob die Verweigerung der Akteneinsicht rechtmäßig erfolgt sei oder nicht – bleibe, ergäben sich verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Rechtsschutzeffizienz. Insbesondere "in reinen Aktenverfahren" sei die Akteneinsicht unabdingbare Voraussetzung für die Wahrung der Rechte und rechtlichen Interessen der Parteien. Eine rein kassatorische verwaltungsgerichtliche Prüfung einer behördlichen Verfügung sei zudem mit der von Art 47 GRC geforderten vollen Kognitionsbefugnis nicht vereinbar und führe zu unnötigen Verfahrensverzögerungen.

2.4. Werde in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren lediglich ein Antrag auf Akteneinsicht gestellt – ohne bereits in der Beschwerde eine Überprüfung der verwaltungsbehördlichen Entscheidung zur Akteneinsicht moniert zu haben – könne die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung auf Grund der Bestimmung des § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG nicht überprüft werden. Das Bestehen einer gleichartigen Regelung in § 25 Abs 2 VwGG "vermöge an der Situation des Rechtsschutzsuchenden nichts zu verbessern." Es sei fraglich, ob der Gesetzgeber durch eine abweichende Regelung zur meritorischen Entscheidungsbefugnis der Verwaltungsgerichte seinen Gestaltungsspielraum in Hinblick auf den in Art 130 Abs 4 B VG festgeschriebenen Vorrang der Sachentscheidung überschritten habe (vgl. auch ). Das Verwaltungsgericht könne weder faktisch noch durch eine stattgebende meritorische Entscheidung dem Beschwerdeführer Akteneinsicht gewähren, obwohl der maßgebliche Sachverhalt im vorliegenden Fall feststehe; da Akteneinsicht nicht gewährt werden dürfe, komme nur die Aufhebung der verwaltungsbehördlichen Entscheidung in Frage, wofür das VwGVG jedoch keine geeignete Rechtsgrundlage enthalte. Überhaupt sei fraglich, ob die Verweigerung der Akteneinsicht als verfahrensleitender Beschluss im Zuge einer ordentlichen oder außerordentlichen Revision an den Verwaltungsgerichtshof bekämpft werden könne, weil eine solche nach Art 133 Abs 3 B VG nur zulässig sei, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhänge, der grundsätzliche Bedeutung zukomme.

3. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der den im Antrag erhobenen Bedenken entgegengetreten und beantragt wird, die angefochtene Bestimmung nicht als verfassungswidrig aufzuheben. Für den Fall der Aufhebung wird der Antrag gestellt, der Verfassungsgerichtshof wolle gemäß Art 140 Abs 5 B VG für das Außerkrafttreten eine Frist von einem Jahr bestimmen.

3.1. Es seien keine Anhaltspunkte erkennbar, die gegen die Zulässigkeit des Antrages und die Präjudizialität der angefochtenen Bestimmung sprechen würden. Die Frage der Bindung der Gerichte an Bescheide der Verwaltungsbehörde sei in Lehre und Rechtsprechung seit Jahrzehnten geklärt: Die Bundesverfassung setze eine wechselseitige Bindung geradezu als notwendig voraus; eine solche Bindung sei in Hinblick auf Art 94 B VG und Art 6 EMRK verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn die Grenzen der Rechtskraft und der Grundsatz des rechtlichen Gehörs beachtet würden. Das antragstellende Gericht unterstelle § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG einen verfassungswidrigen Inhalt; bei richtiger Auslegung sei diese Bestimmung hingegen verfassungsrechtlich unbedenklich. Der normative Inhalt der – historisch betrachtet relativ alten, aus dem Jahr 1934 stammenden – Regelung des § 25 Abs 2 dritter Satz VwGG, der § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG in der aktuellen Fassung beinahe wörtlich entspreche, sei abgesehen vom Anwendungsbereich identisch. In Bezug auf § 25 Abs 2 VwGG hätten nie Zweifel daran bestanden, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behörden und dem Verwaltungsgerichtshof über den Umfang der Akteneinsicht von Letzterem zu entscheiden seien. Auch der Verfassungsgerichtshof entscheide selbst, ob und in welchem Umfang ihm vorgelegte Akten der Verwaltungsbehörden gemäß § 20 Abs 3 VfGG der Akteneinsicht unterliegen würden. Es sei daher davon auszugehen, dass es gemäß § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG Sache der Verwaltungsgerichte sei, darüber zu entscheiden.

3.2. Die im Antrag zitierten Ausführungen von Fister/Fuchs/Sachs , Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren (§21), 2013, dass die Verweigerung der Akteneinsicht im verwaltungsbehördlichen Verfahren auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren "durchschlage", wenn sie "rechtmäßig" erfolgt sei, scheine auf die bescheidmäßige Verweigerung der Akteneinsicht hinzudeuten. Auch im Anlassfall sei die Akteneinsicht mit Bescheid der BH Kufstein vom verweigert worden. An anderer Stelle im Antrag werde allerdings ausgeführt, dass die Verfügung, Aktenbestandteile von der Akteneinsicht auszunehmen, regelmäßig im Rahmen des Ermittlungsverfahrens von Bedeutung sei, wodurch anzunehmen sei, dass diesfalls eine Verweigerung durch Verfahrensanordnung zu treffen sei. Im Anlassfall hingegen sei der Antrag auf Akteneinsicht erst nach rechtskräftiger Beendigung des Verfahrens der Lenkberechtigung gestellt worden. Schließlich könne sich auch in der bloßen Willensentscheidung der Behörde, keine Akteneinsicht zu gewähren – im Anlassfall: durch Verwahrung in einem Kuvert mit dem Vermerk "von der Akteneinsicht ausgenommen" – eine "verwaltungsbehördliche Verweigerungsentscheidung" manifestieren. Für diese Deutung würde sprechen, dass im Antrag an manchen Stellen vom "Faktum der Verweigerung der Akteneinsicht" gesprochen werde. Dies erscheine insofern bemerkenswert, als die bloße behördeninterne Behandlung eines Aktenbestandteils wohl kaum eine (faktische) Verweigerung der Akteneinsicht darstellen könne, wenn die Partei des Verwaltungsverfahrens Akteneinsicht nicht beantragt habe. Da im Antrag unklar bleibe, ob sich die Bedenken des antragstellenden Verwaltungsgerichtes auf die Verweigerung der Akteneinsicht durch Bescheid, durch Verfahrensanordnung oder auf die faktische Verweigerung beziehe, werde auf alle Fälle näher eingegangen:

3.2.1. § 17 Abs 4 AVG bestimme, dass die Verweigerung der Akteneinsicht gegenüber der Partei eines anhängigen Verfahrens durch Verfahrensanordnung erfolge. Verfahrensanordnungen im Verwaltungsverfahren seien für das Verwaltungsgericht von vornherein nicht verbindlich und könnten daher keinesfalls auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren "durchschlagen". Über die Verweigerung der Akteneinsicht außerhalb eines anhängigen Verfahrens sei durch (selbständigen) verfahrensrechtlichen Bescheid zu entscheiden. Ein rechtskräftiger Bescheid der Verwaltungsbehörde oder ein rechtskräftiges Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes über die Frage der Akteneinsicht gemäß § 17 AVG sei hingegen für alle Gerichte und Verwaltungsbehörden verbindlich, allerdings könne dagegen gemäß Art 130 Abs 1 Z 1 B VG Beschwerde beim Verwaltungsgericht erhoben werden. Hervorzuheben sei, dass diese Bindung keine absolute sei, sondern nur innerhalb der persönlichen – nur gegenüber jener Partei des Verwaltungsverfahrens, die gemäß § 17 AVG Akteneinsicht verlangt habe – und zeitlichen – wenn sich der maßgebliche Sachverhalt seit der damaligen Entscheidung nicht wesentlich geändert habe und die Interessenabwägung gleich ausfallen würde – Grenzen der Rechtskraft bestehe. Die Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht sei nach herrschender Lehre und ständiger Rechtsprechung keine Ermessensentscheidung, sodass ihre Verweigerung rechtlich zur Gänze überprüfbar sei. Eine behördeninterne Behandlung von Aktenbestandteilen als nicht der Akteneinsicht unterliegend bzw. eine bloß (faktische) Verweigerung durch die Verwaltungsbehörde habe keinesfalls zur Folge, dass auch das Verwaltungsgericht die Einsicht in den Verwaltungsakt zu verweigern hätte.

3.2.2. Zusammenfassend sei die einfachgesetzliche Rechtslage nach Ansicht der Bundesregierung wie folgt auszulegen: Das Verwaltungsgericht sei bei der ihm gemäß § 21 Abs 2 VwGVG obliegenden Beurteilung der Frage, ob und inwieweit in ihm vorgelegte Verwaltungsakten Einsicht zu gewähren sei, an die Meinung der Verwaltungsbehörde im Allgemeinen nicht gebunden. Bei Meinungsverschiedenheiten entscheide das Verwaltungsgericht anhand der Kriterien des § 17 Abs 3 AVG (bzw. ggf. des § 90 Abs 2 BAO) selbst. Ob die Verwaltungsbehörde Aktenstücke intern als nicht der Akteneinsicht unterliegend gekennzeichnet habe, sei von vornherein unerheblich. Auch eine Verweigerung durch Verfahrensanordnung entfalte keine über den Abschluss des Verwaltungsverfahrens hinausgehende Bindungswirkung. Eine Ausnahme bestehe lediglich dann, wenn die Behörde oder das Verwaltungsgericht bereits rechtskräftig über die Akteneinsicht entschieden habe. Diesfalls sei die Entscheidung für das Verwaltungsgericht im Rahmen der ihm gemäß § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG obliegenden und den Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der ihm gemäß § 25 Abs 2 dritter Satz VwGG obliegenden Beurteilung von Bedeutung. Allerdings liege schon deswegen keine verfassungsrechtlich bedenkliche "Rechtsschutzlücke" vor, weil gegen einen Bescheid über die Verweigerung der Akteneinsicht Beschwerde beim Verwaltungsgericht erhoben werden könne bzw. das Verwaltungsgericht die maßgebliche Rechtsfrage ohnedies bereits selbst beurteilt habe.

3.3. Abschließend sei auf das im Antrag genannte Bedenken einzugehen, wonach § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG im Widerspruch zum Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes und zum "Grundrecht auf Waffengleichheit" stehe. Zu dem im Antrag genannten "Informationsvorteil" der Behörde, weil sie Kenntnis vom Akteninhalt habe, die Partei des Verfahrens jedoch nicht, sei auszuführen, dass eine Verwaltungsbehörde deswegen immer über einen "Informationsvorteil" verfüge, weil es ihr von Gesetzes wegen zur Pflicht gemacht sei, den maßgeblichen Sachverhalt vollständig und von Amts wegen zu ermitteln. Wäre dies als solches verfassungsrechtlich bedenklich, müsste dieses Bedenken gegen § 17 Abs 3 AVG gerichtet werden, weil diese Bestimmung die Verwaltungsbehörde dazu ermächtige und verpflichte, bestimmte Aktenbestandteile von der Akteneinsicht auszunehmen. Träfen die vom antragstellenden Gericht geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken zu, wären Ausnahmen von der Akteneinsicht ausnahmslos unzulässig. Zweck der Schutzbestimmung des § 17 Abs 3 AVG sei der Schutz bestimmter, im Gesetz genannter öffentlicher und privater Interessen, die verfassungsrechtlich unbedenklich erscheinen. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes dürfe nicht auf Beweismittel gegründet werden, die der Partei nicht zugänglich seien; es sei von einem Beweisverwertungsverbot auszugehen.

3.4. Werde das Gesetz im Anlassfall richtig ausgelegt, seien keine in die Verfassungssphäre reichenden Fehler zu erblicken: Zur Beurteilung der Frage, ob die Behörde die Lenkberechtigung zu Recht auf bestimmte Klassen eingeschränkt bzw. befristet verlängert habe, komme es ausschließlich darauf an, ob das eingeholte amtsärztliche Gutachten in sich schlüssig sei und der Behörde eine erschöpfende rechtliche Beurteilung ermögliche. Selbst im Falle einer rechtswidrigen Verweigerung der Akteneinsicht habe die Entscheidung in der Hauptfrage nicht anders ausfallen können. Im Anlassfall habe sich die Frage der Verweigerung der Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren jedoch gar nie gestellt, weil kein entsprechender Antrag gestellt worden sei. Für die Entscheidung über den Antrag auf Akteneinsicht sei es auch unerheblich, ob das Schriftstück die BH Kufstein veranlasst habe, im rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren betreffend die Verlängerung der Lenkberechtigung ein amtsärztliches Gutachten einzuholen. Sollte das antragstellende Verwaltungsgericht zur Auffassung gelangt sein, das Schriftstück sei zu Unrecht von der Akteneinsicht ausgenommen gewesen, habe es bereits ausreichend Zeit gehabt, in dieser verfahrensrechtlichen Angelegenheit gemäß § 28 Abs 2 VwGVG "in der Sache selbst" zu entscheiden und in Stattgebung der Berufung (nunmehr Beschwerde) mit Erkenntnis auszusprechen, dass dem Beschwerdeführer gemäß § 17 AVG Akteneinsicht zu gewähren sei. Da eine verbindliche Entscheidung der Verwaltungsbehörde oder des Verwaltungsgerichtes selbst darüber, ob das fragliche Schriftstück der Akteneinsicht unterliege, im Anlassfall nicht vorliege, könne das antragstellende Verwaltungsgericht diese Frage – unter Berücksichtigung von § 17 Abs 3 AVG – völlig frei beurteilen. Zusammenfassend werde festgehalten, dass § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG nicht verfassungswidrig sei.

4. Die Tiroler Landesregierung erstattete eine Äußerung, in der die Zulässigkeit des Antrages bestritten und den im Antrag dargelegten Bedenken wie folgt entgegengetreten wird:

4.1. Der Verfassungsgerichtshof habe sich bereits im Jahr 2014 – im selben Anlassfall – mit einem Antrag des LVwG Tirol auf Aufhebung des § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG auseinandergesetzt und den Antrag mit Beschluss vom zu G23/2014 zurückgewiesen, weil Gegenstand des beim LVwG Tirol anhängigen Verfahrens die Frage der Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht durch die Behörde gewesen sei und das LVwG Tirol zu prüfen gehabt habe, ob § 17 Abs 3 AVG richtig angewendet worden sei; § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG sei denkmöglich nicht anzuwenden gewesen. Beim vorliegenden, neuerlichen Antrag auf Aufhebung dieser Bestimmung handle es sich noch immer um dasselbe Verfahren, dessen Gegenstand nach wie vor die Frage der Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht durch die belangte Behörde sei. Neu sei lediglich, dass der Beschwerdeführer beim LVwG Tirol einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt habe, was bei dieser Verfahrenskonstellation aber keine gesonderte Entscheidungspflicht des LVwG Tirol auslösen könne, weil dieses ohnehin im Rahmen des Beschwerdeverfahrens in der Hauptsache zur Entscheidung über diese Frage verpflichtet sei. Nach Ansicht der Tiroler Landesregierung sei die angefochtene Bestimmung daher erneut nicht präjudiziell.

4.2. Inhaltlich führt die Tiroler Landesregierung aus, dass die Bindung staatlicher Organe an individuelle Rechtsakte anderer staatlicher Organe zum Kernbereich des rechtsstaatlichen Prinzips zähle. § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG könne nur in der Weise ausgelegt werden, dass mit der Formulierung "von der Akteneinsicht ausgenommen waren" nicht an faktische Gegebenheiten, sondern an nicht mehr anfechtbare – allenfalls bis zu den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts bekämpfte – Entscheidungen über die Nichtgewährung der Akteneinsicht angeknüpft werde. Eine Bindungswirkung könne jedoch nicht eintreten, wenn die Verweigerung der Akteneinsicht mittels Verfahrensanordnung erfolgt sei und der verfahrensbeendende Bescheid mittels Beschwerde bekämpft werde; diesfalls könne die Entscheidung durch das Verwaltungsgericht selbst abgeändert oder aufgehoben werden. Zur Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit sei auszuführen, dass aus diesem nicht eine völlige verfahrensrechtliche Gleichstellung der Behörde mit den Parteien ableitbar sei. Zudem erblicke das antragstellende Gericht den Sitz der Verfassungswidrigkeit ohnehin nicht in § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG, sondern in § 17 Abs 3 AVG, weil es die Unkenntnis einer Partei betreffend den Inhalt eines Dokumentes sogar dann als bedenklich ansehe, wenn tatsächlich schutzwürdige Interessen Dritter vorlägen und ein Ausschluss der Akteneinsicht nach § 17 Abs 3 AVG rechtmäßig erfolgt sei. Die Aufhebung dieser Bestimmung sei aber nicht beantragt worden. Auch ein Rechtsschutzdefizit könne bei dem in § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG grundgelegten Vorgehen nicht erblickt werden, zumal das Verwaltungsgericht nach § 17 Abs 3 AVG neuerlich beurteile, ob Gründe für die Verweigerung der Akteneinsicht vorliegen würden.

5. Das Verwaltungsgericht Wien erstattete eine Äußerung, in der es sich dem Antrag des LVwG Tirol mit näherer Begründung vollinhaltlich anschließt.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art 139 Abs 1 Z 1 B VG bzw. des Art 140 Abs 1 Z 1 lita B VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

1.2. Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der bekämpften Bestimmung im Verfahren vor dem LVwG Tirol zweifeln ließe. Soweit die Tiroler Landesregierung in ihrer Äußerung die Präjudizialität des § 21 Abs 2 VwGVG in Zweifel zieht, vermag dieses Vorbringen nichts an der Zulässigkeit des Antrages zu ändern, weil § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG vom LVwG Tirol denkmöglich anzuwenden ist.

1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag hinsichtlich des § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG daher als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (vgl. VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).

2.2. Der Antrag ist jedoch nicht begründet.

2.2.1. Die Bedenken des antragstellenden Gerichtes gehen zunächst dahin, dass den Verwaltungsgerichten auf Grund der angefochtenen Bestimmung nur mehr die Möglichkeit der kassatorischen Überprüfung der behördlichen Entscheidung zur Akteneinsicht bleibe. Dadurch würden sich verfassungsrechtliche Bedenken in Hinblick auf die Rechtsschutzeffizienz ergeben. Eine rein kassatorische verwaltungsgerichtliche Prüfung sei auch mit der von Art 47 GRC geforderten vollen Kognitionsbefugnis nicht vereinbar und führe zu unnötigen Verfahrensverzögerungen.

2.2.2. Der im Wortlaut – im Vergleich zu den Bestimmungen des § 25 Abs 2 VwGG und § 20 Abs 3 VfGG – anderslautende § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG verlangt nach Anhörung der belangten Behörde eine Entscheidung der Verwaltungsgerichte über die Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht; insoweit trifft die Verwaltungsgerichte die Verpflichtung, zu überprüfen, ob der Ausschluss der Akteneinsicht durch die Behörde zu Recht erfolgt ist. Dem antragstellenden Gericht kann somit nicht gefolgt werden, wenn es "von einer die Verwaltungsgerichte bindenden absoluten Entscheidung der Verwaltungsbehörden" über die Gewährung der Akteneinsicht ausgeht. Wie die Bundesregierung zutreffend ausführt, ist der Rechtsschutz bei einer bescheidmäßigen Verweigerung der Akteneinsicht ohnehin durch die Beschwerdemöglichkeit beim Verwaltungsgericht nach Art 130 Abs 1 Z 1 B VG gegeben. Erfolgt die Verweigerung der Akteneinsicht durch Verfahrensanordnung, die gemäß § 7 Abs 1 VwGVG nicht gesondert angefochten werden kann, kann die Verweigerung der Akteneinsicht in der Beschwerde gegen den die Sache erledigenden Bescheid bekämpft werden. Behandelt die Behörde einen Aktenbestandteil lediglich faktisch als nicht der Akteneinsicht unterliegend, etwa durch Verwahrung in einem gesonderten Kuvert, hat diese Art der Verweigerung keine über das Verfahren vor der Behörde hinausgehende Wirkung. In allen drei Varianten hat das Verwaltungsgericht somit eine Überprüfungsmöglichkeit hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht.

Die vom antragstellenden Gericht vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die Rechtsschutzeffizienz treffen daher nicht zu, weil das Verwaltungsgericht jedenfalls die Entscheidung der Behörde hinsichtlich einer Verweigerung der Akteneinsicht selbst inhaltlich zu beurteilen hat. Das antragstellende Verwaltungsgericht verkennt, dass es bei systematischer Auslegung des § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG iVm dem im Wortlaut übereinstimmenden § 17 Abs 3 AVG nicht auf das faktische Verhalten der Behörde ankommen kann, sondern auf die Beurteilung, ob im konkreten Fall Aktenbestandteile in rechtmäßiger Weise von der Akteneinsicht ausgenommen wurden. Ebenso kommt eine Revision gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes, das über die Gewährung der Akteneinsicht abspricht, unter den Voraussetzungen des Art 133 Abs 4 B VG in Betracht.

2.2.3. Vor diesem Hintergrund gehen auch die Ausführungen des antragstellenden Gerichtes ins Leere, dass § 21 Abs 2 VwGVG gegen den in Art 6 EMRK enthaltenen Grundsatz der Waffengleichheit verstoße. Unter Hinweis auf das Erkenntnis VfSlg 19.730/2012 wird vorgebracht, dass dem Beschuldigten bzw. Angeklagten hinlänglich Zugang zu allen Beweisen der Strafverfolgungsbehörde ermöglicht werden müsse, um nicht in eine gegenüber der Anklagebehörde nachteilige Position zu geraten. Der Beschwerdeführer im Anlassverfahren, der das Verfahren auslösende Beweismittel nicht kenne, habe einen Informationsnachteil gegenüber der Behörde und sei im weiteren Verfahren "völlig blockiert".

2.2.4. Der Verfassungsgerichtshof hat sich wiederholt der Auffassung des EGMR zum Prinzip der Waffengleichheit angeschlossen, wonach das nationale Recht hinreichende Schutzvorkehrungen bieten muss, die sicherstellen, dass die Fairness des Verfahrens garantiert ist, wozu auch der Zugang zu den Verfahrensakten zählt (VfSlg 16.560/2002, 19.730/2012; ua).

Allerdings müssen die gesetzlichen Vorschriften auch Schutzvorkehrungen ua. in Hinblick auf Art 8 EMRK und das dort gewährleistete Recht auf Privatleben, das auch das Recht auf Schutz persönlicher Daten umfasst, treffen. Dies wird durch die Bestimmung des § 17 Abs 3 AVG gewährleistet, der eine Interessenabwägung zwischen näher genannten privaten und öffentlichen Interessen mit dem Interesse auf Aktensicht vorsieht. Das Verwaltungsgericht ist wiederum zur Überprüfung verpflichtet, ob der Ausschluss der Akteneinsicht durch die Behörde zu Recht erfolgt ist.

2.3. Der Verfassungsgerichtshof vermag daher die behauptete Verfassungswidrigkeit des § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG nicht zu erkennen.

V. Ergebnis

1. Die vom LVwG Tirol ob der Verfassungsmäßigkeit des § 21 Abs 2 zweiter Satz VwGVG, BGBl I 33/2013, erhobenen Bedenken treffen nicht zu. Der Antrag ist daher abzuweisen.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2015:G240.2014