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VfGH vom 14.12.1992, G209/92

VfGH vom 14.12.1992, G209/92

Sammlungsnummer

13305

Leitsatz

Aufhebung der Regelung der aufschiebenden Wirkung eines Einspruches im ASVG wegen Verstoß gegen das rechtsstaatliche Prinzip

Spruch

§ 412 Abs 6 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes, BGBl. Nr. 189/1955, in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 676/1991 wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der unter der Rubrik "Einspruch gegen Bescheide der Versicherungsträger" stehende § 412 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. 189/1955, hatte in der Fassung der Novelle BGBl. 13/1962 folgenden Wortlaut:

"§412. (1) Bescheide der Versicherungsträger in Verwaltungssachen können binnen einem Monat nach der Zustellung durch Einspruch an den zuständigen Landeshauptmann angefochten werden. Der Einspruch hat den Bescheid zu bezeichnen, gegen den er sich richtet, und einen begründeten Entscheidungsantrag zu enthalten. Der Einspruch ist beim Versicherungsträger, der den Bescheid erlassen hat, einzubringen. Der Versicherungsträger hat den Bescheid ungesäumt, längstens jedoch binnen zwei Wochen, unter Anschluß der Akten und seiner Stellungnahme dem Landeshauptmann vorzulegen.

(2) Der Einspruch hat keine aufschiebende Wirkung; der Landeshauptmann kann dem Einspruch auf Antrag aufschiebende Wirkung zuerkennen, wenn durch die vorzeitige Vollstreckung ein nicht wiedergutzumachender Schaden einträte und nicht öffentliche Interessen die sofortige Vollstreckung gebieten. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung ist innerhalb der für die Einbringung des Einspruches vorgesehenen Frist (Abs1) beim Versicherungsträger zu stellen."

Der wiedergegebene Paragraph erhielt durch ArtV Z 12 der 50. Novelle zum ASVG, BGBl. 676/1991, mit Wirksamkeit vom (ArtV Z 38 dieser Novelle) eine neue Fassung. Anlaß hiezu war die Einführung der Rechtsinstitute der Einspruchsvorentscheidung und des Vorlageantrags, welche auch eine entsprechende Ergänzung des als Abs 6 sonst wörtlich unverändert übernommenen Abs 2 der früheren Fassung bedingte. § 412 lautet nunmehr wie folgt:

"§412. (1) Bescheide der Versicherungsträger in Verwaltungssachen können binnen einem Monat nach der Zustellung durch Einspruch an den zuständigen Landeshauptmann angefochten werden. Der Einspruch hat den Bescheid zu bezeichnen, gegen den er sich richtet, und einen begründeten Entscheidungsantrag zu enthalten. Der Einspruch ist beim Versicherungsträger, der den Bescheid erlassen hat, einzubringen. Ein beim Landeshauptmann eingebrachter Einspruch gilt als beim Versicherungsträger eingebracht und ist an diesen unverzüglich weiterzuleiten.

(2) Der Versicherungsträger kann auf Grund des Einspruches und allfälliger weiterer Ermittlungen binnen zwei Monaten nach Einbringung (Einlangen) des Einspruches den Bescheid im Sinne des Einspruchsbegehrens abändern, ergänzen oder aufheben (Einspruchsvorentscheidung).

(3) Binnen zwei Wochen nach Zustellung der Einspruchsvorentscheidung kann beim Versicherungsträger der Antrag gestellt werden, daß der Einspruch dem Landeshauptmann zur Entscheidung vorgelegt werden möge (Vorlageantrag). In der Einspruchsvorentscheidung ist auf die Möglichkeit eines solchen Vorlageantrages hinzuweisen. Mit dem Einlangen eines rechtzeitig eingebrachten Vorlageantrages tritt die Einspruchsvorentscheidung außer Kraft. Die Parteien sind über das Außerkrafttreten der Einspruchsvorentscheidung zu verständigen.

(4) Ergeht keine Einspruchsvorentscheidung, hat der Versicherungsträger den Einspruch ungesäumt, längstens jedoch binnen zwei Monaten nach Einbringung des Einspruchs, unter Anschluß der Akten und seiner Stellungnahme dem Landeshauptmann vorzulegen.

(5) Tritt eine Einspruchsvorentscheidung auf Grund eines rechtzeitig eingebrachten Vorlageantrages außer Kraft, hat der Versicherungsträger den Vorlageantrag ungesäumt, längstens jedoch binnen zwei Wochen, unter Anschluß der Akten und seiner Stellungnahme dem Landeshauptmann vorzulegen.

(6) Der Einspruch hat keine aufschiebende Wirkung; der Landeshauptmann kann dem Einspruch auf Antrag aufschiebende Wirkung zuerkennen, wenn durch die vorzeitige Vollstreckung des Bescheides ein nicht wiedergutzumachender Schaden einträte und nicht öffentliche Interessen die sofortige Vollstreckung gebieten. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung des Einspruches ist innerhalb der für die Einbringung des Einspruches vorgesehenen Frist (Abs1) beim Versicherungsträger zu stellen. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung des Einspruches gilt gleichzeitig als Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung bei Einbringung eines Vorlageantrages; dies gilt auch dann, wenn der Vorlageantrag nicht vom Einspruchswerber, sondern von einer anderen Partei gestellt wird."

2. Mit dem am 28. Feber 1992 - also nach dem Inkrafttreten der 50. ASVG-Novelle - gefällten Erkenntnis G293/91 (und weitere Zahlen) sprach der Verfassungsgerichtshof aus, daß § 412 Abs 2 idF BGBl. 13/1962 verfassungswidrig war (s. die Kundmachung BGBl. 205/1992).

II. 1.a) Gemäß Art 140 Abs 1 B-VG beschloß der Verfassungsgerichtshof zunächst aus Anlaß der Beschwerdesache B525/92, von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Absatzes 6 im § 412 ASVG in der Fassung der 50. ASVG-Novelle einzuleiten. Zu diesem Beschwerdefall ist folgendes festzuhalten:

Die Steiermärkische Gebietskrankenkasse schrieb der beschwerdeführenden Gesellschaft mit Bescheiden vom bestimmte Beitragsleistungen vor, wogegen diese Einspruch an den Landeshauptmann von Steiermark erhob und damit den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung verband. Mit Bescheid vom wies der Landeshauptmann diesen Antrag ab. Sein Bescheid ist Gegenstand der Verfassungsgerichtshofbeschwerde, in welcher die beschwerdeführende Gesellschaft behauptet, durch die Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein.

b) Der Gerichtshof nahm vorläufig an, daß der meritorischen Erledigung der unter B525/92 eingetragenen Beschwerde keine Prozeßhindernisse entgegenstehen sowie daß er § 412 Abs 6 ASVG idF der 50. ASVG-Novelle anzuwenden hätte. Die im angefochtenen Bescheid enthaltene Zitierung des § 412 Abs 2 ASVG beruhe anscheinend auf einem Versehen; sie beziehe sich auf die frühere Fassung der für die Entscheidung der Einspruchsbehörde über einen Antrag auf aufschiebende Wirkung maßgeblichen Gesetzesstelle und beeinflusse den Umstand anscheinend nicht, daß sich der bekämpfte Bescheid tatsächlich auf die zum Zeitpunkt seiner Erlassung geltende Regelung über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung, nämlich § 412 Abs 6 ASVG idF BGBl. 676/1991, stütze und daß er im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren an dieser Fassung der Gesetzesvorschrift zu messen wäre.

c) Aus der Beschwerde zu B525/92 hob der Verfassungsgerichtshof hervor, daß sich die beschwerdeführende Gesellschaft auf das Erkenntnis G293/91 (und weitere Zahlen) vom 28. Feber 1992 beziehe und geltend mache, die dort angestellten verfassungsrechtlichen Erwägungen träfen auf § 412 Abs 6 ASVG idF der 50. ASVG-Novelle entsprechend zu. Auch der Gerichtshof sei - im Rahmen einer vorläufigen Beurteilung der Verfassungsrechtslage - dieser Meinung und halte es für ausreichend, hinsichtlich seiner verfassungsrechtlichen Bedenken auf die Entscheidungsgründe des zitierten Erkenntnisses hinzuweisen und § 412 Abs 2 aF dem § 412 Abs 6 nF im Wortlaut gegenüberzustellen.

2. Einen in allen wesentlichen Belangen entsprechenden Gesetzesprüfungsbeschluß faßte der Gerichtshof weiters anläßlich der Beschwerdesache B957/92; er nahm auch hier die Präjudizialität des § 412 Abs 6 idF der 50. ASVG-Novelle und das Vorliegen der übrigen Prozeßvoraussetzungen vorläufig an und äußerte - durch Verweisung auf den im Beschwerdefall B525/92 gefaßten Einleitungsbeschluß - die gleichen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Der Beschwerdeführer in der Beschwerdesache B957/92 hatte gegen einen Bescheid der Landesstelle Kärnten der Sozialversicherungsanstalt der Bauern vom Einspruch an den Landeshauptmann von Kärnten erhoben und damit den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung verbunden. Mit Bescheid vom (- gegen den sich nunmehr die Verfassungsgerichtshofbeschwerde richtet -) gab der Landeshauptmann dem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung unter Berufung auf § 182 des Bauern-Sozialversicherungsgesetzes iVm § 412 Abs 6 ASVG keine Folge und wies den Einspruch ab.

III. Die Bundesregierung sah von Äußerungen ab.

IV. 1. Die - zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen - Gesetzesprüfungsverfahren sind zulässig. Anhaltspunkte für die Annahme von Prozeßhindernissen haben sich nicht ergeben. Der Verfassungsgerichtshof hält insbesondere an der im Einleitungsbeschluß zu B525/92 dargelegten Auffassung fest, daß (auch) der in dieser Beschwerdesache bekämpfte, erst nach dem Inkrafttreten der 50. ASVG-Novelle erlassene Bescheid auf § 412 Abs 6 ASVG idF dieser Novelle beruht.

2. Die verfassungsrechtlichen Bedenken erweisen sich als gerechtfertigt.

Der Verfassungsgerichtshof findet keinen Anlaß, von der im Erkenntnis G293/91 vorgenommenen Beurteilung der Verfassungsrechtslage abzugehen; seine dort dargelegten verfassungsrechtlichen Erwägungen treffen auch für die in Prüfung stehende Gesetzesvorschrift zu, welche die materiellen Voraussetzungen für die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung in der gleichen Weise umschreibt wie der als verfassungswidrig befundene § 412 Abs 2 idF BGBl. 13/1962. Er bleibt sohin bei der mit seinem Erk. VfSlg. 11196/1986 eingeleiteten und in späteren Entscheidungen (s. außer G293/91 auch ; vgl. auch VfSlg. 12409/1990 und ) bekräftigten Rechtsprechung, daß es lnter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Prinzips nicht angeht, den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange zu belasten, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur seine Position, sondern auch Zweck und Inhalt der Regelung, ferner die Interessen Dritter sowie schließlich das öffentliche Interesse. Der Gesetzgeber hat - wie der Gerichtshof in seiner Vorjudikatur ebenfalls schon darlegte - unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen, wobei aber dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfs der Vorrang zukommt und dessen Einschränkung nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig ist; auf welche Weise dieser Ausgleich vom Gesetzgeber vorgenommen werden muß, läßt sich nicht allgemein sagen. Der Verfassungsgerichtshof ist ferner weiterhin der Meinung, daß die im Erk. VfSlg. 11196/1986 über die spezielle Situation im Abgabenverfahren angestellten Erwägungen auf das Administrativverfahren über die Vorschreibung von Beiträgen (einschließlich von Beitragszuschlägen) in der gesetzlichen Sozialversicherung (und zwar trotz des Unterschieds, daß die Geldleistungen nicht einer Gebietskörperschaft, sondern Sozialversicherungsträgern zufließen und zur Bedeckung ihres Aufwandes dienen) sinngemäß zu übertragen sind; auch bezüglich solcher Administrativverfahren ist dem Gesetzgeber eine Interessenabwägung bei der Schaffung eines Systems aufgegeben, das (zwar) den regelmäßigen Zufluß von Beiträgen an die Sozialversicherungsträger sicherstellt, die Beitragspflichtigen aber (dennoch) nicht einseitig mit dem Rechtsschutzrisiko belastet. Diesen Anforderungen entspricht (auch) § 412 Abs 6 ASVG idF der 50. ASVG-Novelle zum Nachteil der beitragspflichtigen Rechtsmittelwerber nicht, weil eine derartige Interessenabwägung weder im Gesetz selbst vorgenommen wird noch die Verwaltungsbehörde zu einer solchen Abwägung verpflichtet ist. Das im § 412 Abs 6 als Voraussetzung für die Gewährung aufschiebender Wirkung festgelegte Kriterium, daß für den Einspruchswerber "durch die vorzeitige Vollstreckung ein nicht wiedergutzumachender Schaden einträte", genügt nicht, die extremen Auswirkungen des die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels ausschließenden § 412 auszugleichen.

2. Die in Prüfung gezogene Gesetzesvorschrift erweist sich sohin als verfassungswidrig und ist daher aufzuheben.

3. Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art 140 Abs 5 dritter und vierter Satz B-VG. Es erscheint ausreichend, die Frist mit rund sechs Monaten zu bemessen, da die zur Gesetzesaufhebung führende verfassungsrechtliche Problematik seit der Fällung des Erkenntnisses G293/91 bekannt war.

Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VerfGG.