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VfGH vom 30.09.2021, E3445/2021

VfGH vom 30.09.2021, E3445/2021

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Leben und im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden durch die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten an einen Staatsangehörigen von Afghanistan; Verkennung der spätestens seit erkennbaren extremen Volatilität der Sicherheitslage begründet eine reale Gefahr der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte durch die später ergangene Entscheidung

Spruch

I.1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art 2 EMRK sowie im Recht gemäß Art 3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II.Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird stattgegeben.

III.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist in der Provinz Ghazni geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise Ende 2015.

2. Der Beschwerdeführer stellte in Österreich am einen Antrag auf internationalen Schutz mit der Begründung, dass seine Ehefrau von den Taliban bedroht werde, weil diese Lehrerin sei. Er sei nach Österreich geflohen, um seine Ehefrau später in das Bundesgebiet zu holen. Zudem habe sein Bruder gemeinsam mit drei anderen Männern im Jahr 2004 einen Paschtunen getötet. An seinem Bruder sei daraufhin die Todesstrafe vollstreckt worden. Der Sohn des getöteten Paschtunen wolle sich nun auch am Beschwerdeführer rächen.

3. Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer nicht (Spruchpunkt III.), sondern erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Zudem legte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

4. Mit Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht die vom Beschwerdeführer gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Im Wesentlichen schließt das Bundesverwaltungsgericht zunächst eine asylrelevante Verfolgung mangels glaubhaften Fluchtvorbringens aus. Der Beschwerdeführer sei im Herkunftsstaat weder einer individuellen, gegen ihn gerichteten Verfolgung – etwa durch Feinde seines Bruders in Folge einer Blutfehde – ausgesetzt gewesen noch wäre er im Falle seiner Rückkehr einer solchen ausgesetzt. Das Fluchtvorbringen sei nicht glaubhaft, weil sich der Beschwerdeführer in Widersprüche verstrickt habe und seine Angaben nicht schlüssig gewesen seien.

Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erachtet das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben. Auf Grund der im Entscheidungszeitpunkt volatilen Sicherheitslage könne der Beschwerdeführer zwar nicht in seine Herkunftsprovinz Ghazni zurückkehren. Die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründet das Bundesverwaltungsgericht aber damit, dass dem Beschwerdeführer in den Städten Herat und Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Auf Grund der persönlichen Umstände des Beschwerdeführers sei ihm eine Neuansiedlung in diesen Städten zumutbar. Auch die Sicherheitslage stehe, wie das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung ausführt, einer Rückkehr nicht entgegen:

"Vorauszuschicken ist, dass sich die Sicherheitslage in der Provinz Balkh in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechterte und die Provinz im Jahr 2020 zu den konfliktreichsten Provinzen des Landes gehörte, sodass auch eine Steigerung der zivilen Opfer zu verzeichnen war (263 Tote und 449 Verletzte im Jahr 2020 laut UNAMA). Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität (etwa in Form bewaffneter Raubüberfälle) in Mazar-e Sharif ein Problem.

Auch im Jahr 2021 finden in der Provinzhauptstadt und den Distrikten – ungeachtet der Friedensgespräche – weiterhin sicherheitsrelevante [Vorfälle] statt. In Mazar-e Sharif kommt es wiederholt zu IED-Anschlägen sowie zu Angriffen auf und zur Tötung von Sicherheitskräften. Nach Schätzungen des Long War Journal befindet sich der Distrikt Dawlat Abad mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dehdadi, Kishindeh, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari umkämpft sind. Insgesamt zählen Balkh und die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif jedoch noch zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans (LIB Stand , S. 71 f.).

Mazar-e Sharif ist für den Beschwerdeführer sicher erreichbar. Die Provinz verfügt über einen internationalen Flughafen und ist über den Luftweg via Kabul zu erreichen. Auch wenn die Flugverbindungen in Zeiten einer Pandemie unzuverlässig sind, weil Flüge gestrichen oder verschoben werden können (LIB Stand , S. 390), werden dennoch auch aktuell regelmäßig Flüge von Kabul nach Mazar-e Sharif angeboten.

Die Sicherheitslage in Herat unterscheidet sich auf Stadt- und Distriktebene voneinander. Während einige Distrikte als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, kam es in Herat-Stadt in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte. Darüber hinaus fanden im Juli und September 2020 sowie Oktober 2019 Angriffe statt, die sich gegen Schiiten richteten. Je weiter man sich von der Stadt Herat (die im Januar 2019 als 'sehr sicher' galt) und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban. Nach Schätzungen des Long War Journal befindet sich der Distrikt Fersi mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Adraskan, Chishti Sharif, Ghoryan, Gulran, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun und Shindand umkämpft sind. Unklar ist, ob und welche Art von Präsenz der ISKP in Herat hat. Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 339 zivile Opfer (124 Tote und 215 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 15 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von gezielten Tötungen und improvisierten Sprengkörpern. Im Jahr 2020 wurden auch mehrere Fälle von zivilen Opfern aufgrund von Luftangriffen gemeldet. Es kommt in mehreren Distrikten der Provinz Herat zu Kämpfen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban sowie zu Angriffen der Taliban auf Regierungseinrichtungen. Vorfälle mit IEDs, wie Detonationen von an Fahrzeugen befestigten IEDs (VBIED) und einer Sprengfalle am Straßenrand kommen auch in der Stadt Herat vor. Weiters werden sowohl in den Distrikten als auch der Stadt Herat gezielte Tötungen durchgeführt (LIB Stand , S. 113 f.).

Auch Herat verfügt über einen internationalen [Flughafen] und kann vom Beschwerdeführer gut erreicht werden.

In den EASO Leitlinien von Dezember 2020 werden die Städte Mazar-e Sharif und Herat als Gebiete genannt, in denen das Ausmaß willkürlicher Gewalt nicht ein derart hohes Niveau erreicht, dass wesentliche Gründe zur Annahme bestehen, ein Zivilist hätte – bloß aufgrund seiner Anwesenheit – ein tatsächliches Risiko zu gewärtigen, ernsthaften Schaden zu nehmen (EASO Country Guidance: Afghanistan, Dezember 2020, S. 34). Spezifisch gefahrenerhöhende Elemente liegen beim Beschwerdeführer – auch mangels Glaubhaftigkeit des vorgebrachten Fluchtgrundes – nicht vor.

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes, das hierbei nicht verkennt, dass sich die in der Berichtslage und auch in der medialen Berichterstattung abgebildete Sicherheitslage im Falle einer Einnahme Kabuls und der sonst als innerstaatliche Fluchtalternativen in Betracht kommenden Städte durch die Taliban künftig landesweit (entscheidungs-)erheblich verschlechtern könnte, steht die aktuelle – im Entscheidungszeitpunkt allein maßgebliche – Sicherheitslage einer Ansiedelung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif und Herat nicht entgegen. Daran vermögen im Übrigen weder das kürzlich ergangene Ersuchen der afghanischen Regierung um Aussetzung von Abschiebungen aus Europa noch (politische) Entscheidungen einzelner europäischer Staaten, diesem Ersuchen nachzukommen, etwas zu ändern. Hinsichtlich allfälliger künftiger Änderungen der Sicherheitslage ist darauf hinzuweisen, dass die Vollzugsbehörde verpflichtet ist, bei der Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme Art 3 EMRK insbesondere auch im Hinblick auf die aktuelle Lage im Herkunftsstaat zu beachten."

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet, die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof sowie die Gewährung von Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita bis d ZPO beantragt wird.

6. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor und sah von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festsetzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet:

2. Das gemäß Art 2 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben wird durch ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn es auf einer Art 2 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage oder auf einer diesem Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht sowie auch bei groben Verfahrensfehlern.

In gleicher Weise verletzt ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes das gemäß Art 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wenn eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn sie auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn dem Verwaltungsgericht grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005).

3. Der Verfassungsgerichtshof geht – in Zusammenhang mit Art 3 EMRK – in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR , Fall Soering, EuGRZ1989, 314 [319]; , Fall Vilvarajah ua, ÖJZ1992, 309 [309]; , Fall Hilal, ÖJZ2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art 3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.314/1992, 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997). Nichts anderes ist im Hinblick auf Art 2 EMRK anzunehmen, wenn dem Fremden im Zielland mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tötung droht (s etwa EGMR , Fall Baderua, NLMR 2005/6, 273 [274]; [GK], Fall F.G., NLMR 2016/2, 105 [105 f.]).

Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Rechtsgrundlagen des angefochtenen Erkenntnisses könnte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer in den gemäß Art 2 und 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte unter anderem verletzen, wenn das Erkenntnis auf einer den genannten Grundrechten widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten eine Art 2 und 3 EMRK zuwiderlaufende Anwendung des § 8 Abs 1 AsylG 2005 vorgenommen:

4.1. Gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

4.2. Das Bundesverwaltungsgericht legt seinen Feststellungen zur Lage in Afghanistan das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand " (im Folgenden: Länderinformationsblatt vom ) zugrunde. Spezifisch hinsichtlich der "Sicherheitslage im Jahr 2021" stellt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes fest:

"Mit April bzw Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen 'taktischen Rückzug' angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung.

Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte. Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert."

Im Kapitel betreffend den Taliban stellt das Bundesverwaltungsgericht unter "Abzug der Internationalen Truppen" sowie "Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse" auszugsweise Folgendes fest:

"Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen – etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen – bis zum an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan.

[…]

Der Abzug wird eine große Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte sein. US-Generäle und andere Offizielle äußerten die Befürchtung, dass er zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung und einer Übernahme durch die Taliban führen könnte.

Viele befürchten, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan eine neue Phase des Konflikts und des Blutvergießens beginnen wird. Mit dem Abzug der US-Truppen in den nächsten Monaten können die ANDSF mit einem Rückgang der Luftunterstützung und der Partner am Boden rechnen, während die Taliban in jüngsten Äußerungen [Anm: Ende April 2021] von einem bevorstehenden Sieg sprachen. Es gab auch einen Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden und verstärkte Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im April.

[…]

Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im 'Jihad' der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt. Für die Taliban ist die Errichtung einer 'islamischen Struktur' eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert.

Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten."

4.3. Ausgehend vom Länderinformationsblatt vom geht das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis vom davon aus, für den Beschwerdeführer sei in den Städten Herat und Mazar-e Sharif eine (Neu-)Ansiedlungsmöglichkeit gegeben, weil das Ausmaß an willkürlicher Gewalt nicht ein derart hohes Niveau erreiche, dass für Zivilisten eine Gefahr für erhebliche Eingriffe in die psychische oder physische Unversehrtheit bestehe. Das Bundesverwaltungsgericht verkenne nicht, dass sich die in der Berichtslage sowie in der medialen Berichterstattung abgebildete Sicherheitslage im Falle einer Einnahme Kabuls und der sonst als innerstaatliche Fluchtalternativen in Betracht kommenden Städte durch die Taliban künftig landesweit (entscheidungs-)erheblich verschlechtern könnte. Die – im Entscheidungszeitpunkt allein maßgebliche – Sicherheitslage stehe jedoch einer Ansiedelung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif und Herat nicht entgegen. Hinsichtlich allfälliger künftiger Änderungen der Sicherheitslage sei darauf hinzuweisen, dass die Vollzugsbehörde verpflichtet sei, bei der Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme Art 3 EMRK insbesondere auch im Hinblick auf die aktuelle Lage im Herkunftsstaat zu beachten.

4.4. Im Länderinformationsblatt vom wird bereits nicht nur von einer vielfach befürchteten massiven Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle des Abzuges internationaler Truppen berichtet, sondern auch darüber, dass sich die Sicherheitslage nach dem erfolgten Truppenabzug tatsächlich stetig verschlechtert habe. In diesem Sinne halten die genannten Länderinformationen ausdrücklich fest, dass auf Grund des US-Truppenabzuges der Beginn "eine[r] neue[n] Phase des Konflikts und des Blutvergießens", der "Zusammenbruch der afghanischen Regierung" und die "Übernahme durch die Taliban" zu befürchten sei, und verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass die "Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, […] in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen [hat], den Vormarsch der Taliban aufzuhalten". Die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen hätten seit dem Abzug der internationalen Truppen im April stark zugenommen, die Taliban "den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt" und "seit Beginn des Truppenabzugs am bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert". Zudem gebe es einen "Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet" würden.

4.5. In der Kurzinformation der Staatendokumentation vom wird zudem darüber berichtet, dass "die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan" kontrollierten. Zudem seien "die Distriktzentren nur mehr in vier Provinzen vollständig in Regierungshand". Weiters seien im Juli "wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh durch die Taliban" erobert worden. Darüber hinaus komme es weiterhin zu "gezielten Angriffen auf Zivilisten".

4.6. Der Verfassungsgerichtshof ist der Auffassung, dass auf Grundlage der im angefochtenen Erkenntnis abgedruckten (und behandelten) länderberichtlichen Informationen vom , insbesondere aber auf Grund der Kurzinformation der Staatendokumentation vom (und der zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes verfügbaren, breiten medialen Berichterstattung) spätestens ab , dh auch zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art 2 und 3 EMRK aussetzt (zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art 2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg 19.466/2011, 20.296/2018, 20.358/2019; ).

4.7. Indem das Bundesverwaltungsgericht somit von einer im Hinblick auf Art 2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers ausgegangen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit sie sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran knüpfend – die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, gegen das Recht auf Leben gemäß Art 2 EMRK sowie das Recht gemäß Art 3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, und ist insoweit aufzuheben.

5. Die Behandlung der Beschwerde wird im Übrigen, soweit damit die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Leben, ferner darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art 144 Abs 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (§19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 bzw § 19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lita ZPO genießt.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2021:E3445.2021
Schlagworte:
Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Entscheidungsbegründung

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