VfGH vom 28.11.2019, E2786/2019
Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren durch Absehen von einer mündlichen Verhandlung vor dem Landesverwaltungsgericht betreffend die Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen Verstoßes gegen das Öffnungszeitengesetz für den Verkauf von – einer Ausnahmebestimmung unterliegenden – Waren
Spruch
I.Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II.Der Bund (Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin ist verantwortliche Beauftragte iSd § 9 Abs 2 Verwaltungsstrafgesetzes (im Folgenden: VStG) für mehrere Filialen einer Supermarktkette. Am Sonntag, , führte der Magistrat der Stadt Wien, Abteilung 59, eine Überprüfung einer Supermarktfiliale an einem näher bezeichneten Standort durch, in der die Betreiberin der Supermarktkette die Gewerbe "Handelsgewerbe beschränkt auf den Kleinhandel" und "Gastgewerbe in der Betriebsart Restaurant" ausübt. Am erließ die Bezirkshauptmannschaft Mödling (als zuständige Strafbehörde, da der Sitz der Unternehmensleitung in Wiener Neudorf gelegen ist) gegen die Beschwerdeführerin eine Strafverfügung, da das Handelsgewerbe in der Filiale am überprüften Standort an einem Sonntag und damit außerhalb der gesetzlich vorgesehenen Öffnungszeiten ausgeübt worden sei. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom wurde die Beschwerdeführerin in weiterer Folge als verantwortliche Beauftragte wegen Verstoßes gegen das Öffnungszeitengesetz 2003 zu einer Geldstrafe von insgesamt € 121,– verurteilt, da die Supermarktfiliale am näher bezeichneten Standort "am Sonntag, , 12.15 Uhr, den Bereich der Verkaufsstelle nicht geschlossen gehalten hat, da im Zeitpunkt der Kontrolle durch die Magistratsabteilung 59 das Geschäftslokal geöffnet war und eine Vielzahl von Kundinnen und Kunden anwesend waren, welche übliche Handelswaren einkauften."
2.Die gegen dieses Straferkenntnis erhobene Beschwerde, im Zuge derer die Beschwerdeführerin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte, wurde mit Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet abgewiesen. Ferner wurde die Beschwerdeführerin zur Zahlung eines Verfahrenskostenbeitrages verpflichtet und der Gesamtbetrag der zu zahlenden Strafe mit € 143,– festgesetzt. Begründend führte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich zusammengefasst das Folgende aus:
2.1.Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich stellte zunächst fest, dass die Betreiberin der Supermarktkette in der Filiale am näher bezeichneten Standort die Gewerbe "Handelsgewerbe beschränkt auf den Kleinhandel" und "Gastgewerbe in der Betriebsart Restaurant" ausübt. Laut gewerbebehördlichem Genehmigungsbescheid vom müssten die Regale mit Produkten, welche an Sonn- und Feiertagen nicht zum Verkauf angeboten werden, mit Kunststoffjalousien abgedeckt werden. Am Sonntag, , sei die Supermarktfiliale am überprüften Standort um 12.15 Uhr geöffnet gewesen und es seien unter anderem Erdäpfel, Zwiebel, Lauch, Haferflocken, diverse Müslis, Mehl, Zucker, Backzutaten, diverse Alnatura Produkte (Dinkel, Amaranth, Leinsamen, Sesam etc.), Säfte, Gemüse (Gurken, Karotten, Salat) zum Verkauf angeboten worden. Dies sei durch Farbfotos, die die Magistratsabteilung 59 im Zuge der Überprüfung am aufgenommen habe, belegt. Auf diesen Fotos seien neben den konkreten zum Verkauf angebotenen Waren, die sowohl vom Inhalt als auch von der Menge des Warenangebotes nahezu das übliche Sortiment des Supermarktes umfasst hätten (Beschrankung lediglich des Bereiches von Kosmetik- und Tiefkühlprodukten), auch Kunden zu sehen.
2.2.Durch das Offenhalten der Verkaufsstelle am Sonntag sei gegen § 3 Öffnungszeitengesetz 2003 verstoßen worden, unabhängig davon, ob einzelne Waren der Gruppe des Produktkataloges des § 111 Abs 4 Z 4 Gewerbeordnung 1994 (im Folgenden: GewO 1994) zu unterstellen seien (unter Verweis auf ). Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass nicht der gesamte Warenkatalog angeboten worden sei. Der Charakter eines "gewöhnlichen" Supermarktes gehe dadurch nicht verloren, wenn nur wenige Produkte bzw Produktgruppen vom Verkauf ausgenommen würden. Dass eine Betriebsanlagengenehmigung gemäß § 77 bzw § 81 GewO 1994 für das Offenhalten an Sonntagen vorliege, ändere am grundsätzlichen Verbot des Öffnungszeitengesetzes, das das Offenhalten von Handelseinrichtungen an Sonntagen verbiete, nichts. Gemäß § 11 Öffnungszeitengesetz 2003 sei nach der Gewerbeordnung zu bestrafen, wer entgegen den Bestimmungen des Öffnungszeitengesetzes Waren verkaufe. Gemäß § 368 GewO 1994 begehe eine Verwaltungsübertretung und sei mit einer Geldstrafe bis zu € 1.090,– zu bestrafen, wer die auf Grund der Gewerbeordnung erlassenen Verordnungen nicht einhalte.
2.3.Zur Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung führte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich aus, dass der Beschwerdeführerin eine Aktenabschrift (samt Fotobeilage) per E-Mail vom übermittelt worden sei. Sie habe daraufhin nicht mehr die angebotenen Waren bestritten, sondern nur noch vorgebracht, dass diese der Ausnahmebestimmung des § 111 Abs 4 Z 4 GewO 1994 zuzurechnen seien. Gemäß § 44 VwGVG habe die Durchführung einer mündlichen Verhandlung daher unterbleiben können, zumal die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse und einem Entfall der Verhandlung weder Art 6 EMRK noch Art 47 GRC entgegenstehe.
3.Mit Eingabe vom erhob die Beschwerdeführerin gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Darin rügt sie eine Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht gemäß Art 47 GRC und auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK und stellt den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Begründend führt die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde zusammengefasst das Folgende aus:
3.1.Das Offenhalten der Filiale am um 12.15 Uhr sei auf Grund der anwendbaren gewerberechtlichen Vorschriften zulässig gewesen. Ebenso sei der Verkauf von Waren, die in den Anwendungsbereich des § 111 Abs 4 Z 4 GewO 1994 fallen, zulässig gewesen. Eine inhaltliche Konkretisierung, welche der "üblichen" Handelswaren nach Ansicht der Behörde nicht unter die Bestimmung des § 111 Abs 4 Z 4 GewO 1994 fallen würden, sei jedoch nicht erfolgt. Es sei nicht nachvollziehbar, was das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich in der angefochtenen Entscheidung unter "nahezu das übliche" Supermarkt-Sortiment verstehe. Entgegen der Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich sei die Übermittlung von Fotos, auf denen Waren zu erkennen seien, per E-Mail nicht ausreichend, um einen angelasteten Tatvorwurf zu konkretisieren. Die gebotene Auseinandersetzung mit dem Beschwerdevorbringen, welche auf den Fotos ersichtlichen Waren konkret von der Bestimmung des § 111 Abs 4 Z 4 GewO 1994 erfasst gewesen seien, sei nicht erfolgt.
3.2.Ferner sei keine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass sie das Gastgewerbe am näher bezeichneten Standort seit dem Jahr 2011 ausübe, erfolgt. Außerdem habe das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich nicht überprüft, ob die Betreiberin der Supermarktkette das Gastgewerbe an diesem Standort tatsächlich ausübe.
3.3.Eine mündliche Verhandlung hätte zu einer weiteren Klärung der vorliegenden Rechtssache geführt. Im Fall sachverhaltsbezogenen Vorbringens der beschwerdeführenden Partei sei eine mündliche Verhandlung sogar dann durchzuführen, wenn kein entsprechender Antrag gestellt worden sei (). Da das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich – trotz entsprechenden Antrages der Beschwerdeführerin und widersprechender prozessrelevanter Behauptungen – keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe, habe es gegen § 24 VwGVG verstoßen (unter Verweis auf ) und die Beschwerdeführerin in ihren Rechten gemäß Art 47 GRC und Art 6 EMRK verletzt. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich habe es auch unterlassen, gesetzes- und EMRK-konform zu begründen, warum keine mündliche Verhandlung durchgeführt worden sei.
4.Die Bezirkshauptmannschaft Mödling und das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich haben im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof die Verwaltungs- bzw Gerichtsakten vorgelegt, jedoch keine Gegenschrift erstattet.
II.Rechtslage
1.Die einschlägigen Bestimmungen der Gewerbeordnung 1994 (GewO 1994), BGBl 194/1994 (WV), idF BGBl I 112/2018 lauten:
"Sonstige Rechte von Gewerbetreibenden
§32. (1) Gewerbetreibenden stehen auch folgende Rechte zu:
1. […]
(1a) Gewerbetreibenden steht auch das Erbringen von Leistungen anderer Gewerbe zu, wenn diese Leistungen die eigene Leistung wirtschaftlich sinnvoll ergänzen. Dabei dürfen die ergänzenden Leistungen insgesamt bis zu 30 vH des im Wirtschaftsjahr vom Gewerbetreibenden erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen. Innerhalb dieser Grenze dürfen auch ergänzende Leistungen reglementierter Gewerbe erbracht werden, wenn sie im Fall von Zielschuldverhältnissen bis zur Abnahme durch den Auftraggeber oder im Fall von Dauerschuldverhältnissen bis zur Kündigung der ergänzten eigenen Leistungen beauftragt werden und sie außerdem bis zu 15 vH der gesamten Leistung ausmachen.
(2) Bei Ausübung der Rechte gemäß Abs 1 und Abs 1a müssen der wirtschaftliche Schwerpunkt und die Eigenart des Betriebes erhalten bleiben. Soweit dies aus Gründen der Sicherheit notwendig ist, haben sich die Gewerbetreibenden entsprechend ausgebildeter und erfahrener Fachkräfte zu bedienen.
(3) […]
Gastgewerbe
§111. (1) Einer Gewerbeberechtigung für das Gastgewerbe (§94 Z 26) bedarf es für
1.die Beherbergung von Gästen;
2.die Verabreichung von Speisen jeder Art und den Ausschank von Getränken.
(2) Keines Befähigungsnachweises für das Gastgewerbe bedarf es für
1.[…]
(3) Unter Verabreichung und unter Ausschank ist jede Vorkehrung oder Tätigkeit zu verstehen, die darauf abgestellt ist, dass die Speisen oder Getränke an Ort und Stelle genossen werden.
(4) Unbeschadet der den Gastgewerbetreibenden gemäß § 32 zustehenden Rechte stehen ihnen noch folgende Rechte zu:
1.[…]
4.während der Betriebszeiten des Gastgewerbebetriebes der Verkauf folgender Waren:
a)die von ihnen verabreichten Speisen und ausgeschenkten Getränke, halbfertige Speisen, die von ihnen verwendeten Lebensmittel sowie Reiseproviant;
b)Waren des üblichen Reisebedarfes (zB Treib- und Schmierstoffe, Toiletteartikel, Badeartikel, Fotoverbrauchsmaterial, Ansichtskarten, Lektüre, übliche Reiseandenken);
c)Geschenkartikel.
Beim Verkauf von Waren gemäß lita bis c muss der Charakter des Betriebes als Gastgewerbebetrieb gewahrt bleiben. Liegt auch eine Berechtigung nach § 94 Z 3 oder Z 19 vor, genügt es, dass der Charakter des Betriebes als Bäcker oder Fleischer gewahrt bleibt, hiebei müssen Verabreichungsplätze bereitgestellt werden.
(5) […]"
2.Die einschlägigen Bestimmungen des Öffnungszeitengesetzes 2003, BGBl I 48/2003, idF BGBl I 62/2007 lauten:
"Geltungsbereich
§1. (1) Die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes gelten, sofern sich nicht nach § 2 anderes ergibt, für alle ständigen und nichtständigen für den Kleinverkauf von Waren bestimmten Betriebseinrichtungen (Läden und sonstige Verkaufsstellen) von Unternehmungen, die der Gewerbeordnung 1994 (GewO 1994) unterliegen.
(2) […]
§2. Von den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes sind ausgenommen
1.die Warenabgabe aus Automaten;
2.der Warenverkauf im Rahmen eines Gastgewerbes in dem im § 111 Abs 4 Z 4 GewO 1994 bezeichneten Umfang und eines Konditorgewerbes in dem im § 150 Abs 11 GewO 1994 bezeichneten Umfang;
3.[…]
§3. Die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes regeln das Offenhalten der Verkaufsstellen (§1). An Samstagen nach 18 Uhr, an Sonntagen, an Feiertagen (§7 Abs 2 des Arbeitsruhegesetzes) und an Montagen bis 6 Uhr sind die Verkaufsstellen, soweit sich nicht nach den folgenden Bestimmungen anderes ergibt, geschlossen zu halten."
3.Die einschlägigen Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I 33/2013, idF BGBl I 57/2018 lauten:
"Verhandlung
§44. (1) Das Verwaltungsgericht hat eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
(2) Die Verhandlung entfällt, wenn der Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
(3) Das Verwaltungsgericht kann von einer Verhandlung absehen, wenn
1.in der Beschwerde nur eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet wird oder
2.sich die Beschwerde nur gegen die Höhe der Strafe richtet oder
3.im angefochtenen Bescheid eine 500 Euro nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde oder
4.sich die Beschwerde gegen einen verfahrensrechtlichen Bescheid richtet und keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.
(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn es einen Beschluss zu fassen hat, die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art 6 Abs 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.
(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.
(6) Die Parteien sind so rechtzeitig zur Verhandlung zu laden, dass ihnen von der Zustellung der Ladung an mindestens zwei Wochen zur Vorbereitung zur Verfügung stehen."
III.Erwägungen
1.Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2.Die Beschwerdeführerin behauptet unter anderem eine Verletzung in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK wegen Unterbleibens einer mündlichen Verhandlung vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich.
2.1.Art6 Abs 1 EMRK normiert das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem "unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen [den Betroffenen] erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".
2.1.1.Im Verwaltungsstrafverfahren liegt eine Verletzung der durch Art 6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Verfahrensgarantien dann vor, wenn ein Verwaltungsgericht, das insofern als das zur Entscheidung über die strafrechtliche Anklage zuständige – über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügende – Gericht im Sinne des Art 6 EMRK einschreitet, einen Schuldspruch fällt, ohne zuvor die erforderliche mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben, sofern keine Gründe für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung vorliegen (vgl VfSlg 16.624/2002, 16.790/2003, 18.289/2007, 18.721/2009).
2.1.2.§44 VwGVG ist im Lichte des Art 6 EMRK auszulegen, der den Prüfungsmaßstab für den Verfassungsgerichtshof bildet. Dessen Garantien werden zum Teil absolut gewährleistet, zum Teil stehen sie unter einem ausdrücklichen (so etwa zur Öffentlichkeit einer Verhandlung) oder einem ungeschriebenen Vorbehalt verhältnismäßiger Beschränkungen. Dem entspricht es, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung für gerechtfertigt ansieht, etwa wenn der Fall auf der Grundlage der Akten und der schriftlichen Stellungnahmen der Parteien angemessen entschieden werden kann (vgl EGMR , Fall Döry, Appl 28.394/95 [Z37 ff.]).
2.2.Die Beschwerdeführerin beantragte gleichzeitig mit der Erhebung der Beschwerde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, um insbesondere zu klären, ob bzw inwiefern zum angegebenen Zeitpunkt in der überprüften Filiale Waren verkauft wurden, die nicht unter die Ausnahmebestimmung des § 111 Abs 4 Z 4 GewO 1994 fallen. Wie dem dem Verfassungsgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt zu entnehmen ist, blieb diese entscheidungserhebliche Frage zum Sachverhalt ungeklärt.
2.3.Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich sah, obzwar der Sachverhalt hier offensichtlich nicht hinreichend geklärt erscheint und entgegen dem Antrag der Beschwerdeführerin, im konkreten Fall – in einer den Garantien des Art 6 EMRK widersprechenden Weise – von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Die vergleichsweise geringe Höhe der von der zuständigen Verwaltungsstrafbehörde verhängten Geldstrafe ist dabei ohne Belang (vgl VfSlg 16.894/2003; ).
IV.Ergebnis
1.Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK verletzt worden.
2.Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2019:E2786.2019 |
Schlagworte: | fair trial, Parteiengehör, Strafe (Verwaltungsstrafrecht), Verhandlung mündliche |
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