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VfGH vom 24.11.2017, E1741/2016

VfGH vom 24.11.2017, E1741/2016

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht mangels Prüfung der behaupteten Geschäftsunfähigkeit im Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides über die Rückforderung der Mindestsicherung infolge grober Verkennung der Rechtslage unter Verletzung des Prozessunfähigenschutzes

Spruch

I.Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Beschluss wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 Abs 2 erster Satz B-VG) in ihren Rechten verletzt worden.

Der Beschluss wird aufgehoben.

II.Das Land Tirol ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

1.1.Die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck gewährte der Beschwerdeführerin mit Bescheid vom auf ihren Antrag für den Zeitraum vom bis Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zur Deckung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes.

Die Tiroler Gebietskrankenkasse gewährte der Beschwerdeführerin mit "Schreiben" vom für den Zeitraum von bis Rehabilitationsgeld in Höhe von täglich € 28,59.

1.2.Mit Bescheid vom stellte die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck die bewilligten Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung auf Grund geänderter Verhältnisse per ein und verpflichtete die Beschwerdeführerin die in den Monaten August bis November 2014 bezogenen Geldleistungen in der Höhe von € 1.070,16 zu erstatten. Die Behörde begründete dies damit, dass die Beschwerdeführerin auf Grund des zuerkannten Rehabilitationsgeldes über ein Einkommen verfüge und daher im genannten Zeitraum kein Anspruch auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung bestehe. Die gewährten Leistungen seien daher zurückzufordern. Dieser Bescheid wurde der Beschwerdeführerin am zugestellt. Die Beschwerdeführerin überwies in der Folge den geforderten Betrag an die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck.

1.3.Das Bezirksgericht Hall in Tirol bestellte mit Beschluss vom für die Beschwerdeführerin eine Sachwalterin zur Besorgung aller Angelegenheiten. Die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck stellte der Sachwalterin – auf Grund deren schriftlichen Nachfrage – den Bescheid vom am zu.

2.Gegen diesen Bescheid erhob die Sachwalterin am Beschwerde an das Verwaltungsgericht Tirol. Begründend führte sie aus, es werde bestritten, dass die Voraussetzungen für die Rückforderung der Leistungen vorgelegen haben. Die Beschwerdeführerin sei geschäftsunfähig und habe daher keine "unwahren" Angaben machen können. Der Tatbestand des § 20 des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes – so er denn die Rechtsgrundlage für die Rückforderung sei – könne schon deshalb nicht erfüllt sein. Auf Grund der Geschäftsunfähigkeit der Beschwerdeführerin sei die Zustellung des angefochtenen Bescheides nicht rechtswirksam. Die von der zum damaligen Zeitpunkt unvertretenen Beschwerdeführerin getätigte Überweisung sei daher ohne Rechtsgrund erfolgt. Die belangte Behörde habe es rechtswidrig unterlassen, zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin die überwiesene Summe gutgläubig verbraucht habe bzw. ob sie geschäftsunfähig gewesen sei.

3.Das Verwaltungsgericht Tirol wies die Beschwerde mit Beschluss vom als verspätet zurück. Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, um zu prüfen, ob die Beschwerde rechtzeitig erhoben worden sei, sei darauf abzustellen, ob die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Bescheiderlassung bzw. der Zustellung des Rückforderungsbescheides "bereits für die Behörde erkennbar geschäfts- bzw. handlungsunfähig" gewesen sei. Die "Voraussetzungen der amtswegigen Wahrnehmung der Prüfung der Handlungsfähigkeit der betroffenen Person" bestünden nur dann, "wenn der Behörde ein Umstand bekannt ist oder allenfalls im Zuge des Verfahrens bekannt wird, der darauf hinweist, dass die betroffene Person möglicherweise nicht (voll) geschäfts- bzw handlungsfähig sein könnte". Im gegenständlichen Fall sei "das Vorliegen eines solchen Hinweises klar zu verneinen". Im "gesamten Verfahren hat sich [...] aus den äußeren Umständen und dem Verhalten der Beschwerdeführerin kein Hinweis ergeben, der die belangte Behörde dazu veranlassen hätte müssen, die Geschäftsfähigkeit der Beschwerdeführerin in Frage zu stellen, geschweige denn, diese einer Überprüfung zu unterziehen". Die Zustellung des Rückforderungsbescheides an die Beschwerdeführerin sei daher rechtswirksam erfolgt und die Beschwerde der nunmehrigen Sachwalterin sei daher als verspätet zurückzuweisen.

4.Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

5.Das Verwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II.Rechtslage

1.§20 des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes lautete in der hier maßgeblichen Fassung LGBl 99/2010 wie folgt:

"§20

Rückerstattung von Leistungen

(1) Wurde die Gewährung von Leistungen der Mindestsicherung vom Mindestsicherungsbezieher durch

a) unwahre Angaben über die Anspruchsvoraussetzungen, insbesondere hinsichtlich der Einkommens- und Vermögensverhältnisse,

b) Verschweigen entscheidungswesentlicher Tatsachen oder

c) Verletzung der Anzeigepflicht nach § 32

herbeigeführt, so hat dieser zu Unrecht bezogene Geldleistungen bzw. den Aufwand für zu Unrecht bezogene Sachleistungen zurückzuerstatten.

(2) Ist dem Verpflichteten eine andere Art der Rückerstattung nicht zumutbar, so kann diese in angemessenen Teilbeträgen bewilligt werden. Die Rückerstattung kann auch durch Anrechnung auf laufende Leistungen erfolgen. In besonders begründeten Fällen kann die Rückerstattung auch zur Gänze nachgesehen werden, wenn durch sie der Erfolg der Mindestsicherung gefährdet wäre."

III.Erwägungen

1.Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

2.Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.

Ein willkürliches Verhalten kann dem Verwaltungsgericht unter anderem dann vorgeworfen werden, wenn es den Beschwerdeführer aus unsachlichen Gründen benachteiligt hat oder aber, wenn die angefochtene Entscheidung wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage in einem besonderen Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (zB VfSlg 10.065/1984, 14.776/1997, 16.273/2001).

Ein solcher Fehler ist dem Verwaltungsgericht Tirol unterlaufen:

2.1.Das Verwaltungsgericht begründet die angefochtene Entscheidung damit, dass darauf abzustellen sei, ob die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Bescheiderlassung bzw. der Zustellung des Rückforderungsbescheides "bereits für die Behörde erkennbar geschäfts- bzw. handlungsunfähig" gewesen sei. Die "Voraussetzungen der amtswegigen Wahrnehmung der Prüfung der Handlungsfähigkeit der betroffenen Person" bestünden nur dann, "wenn der Behörde ein Umstand bekannt ist oder allenfalls im Zuge des Verfahrens bekannt wird, der darauf hinweist, dass die betroffene Person möglicherweise nicht (voll) geschäfts- bzw handlungsfähig sein könnte". Im gegenständlichen Fall sei "das Vorliegen eines solchen Hinweises klar zu verneinen". Im "gesamten Verfahren hat sich [...] aus den äußeren Umständen und dem Verhalten der Beschwerdeführerin kein Hinweis ergeben, der die belangte Behörde dazu veranlassen hätte müssen, die Geschäftsfähigkeit der Beschwerdeführerin in Frage zu stellen, geschweige denn, diese einer Überprüfung zu unterziehen".

2.2.Das Verwaltungsgericht verkennt damit die Grundsätze des Prozessunfähigenschutzes (§9 AVG iVm § 11 VwGVG und §§21, 268 ff. ABGB). Es kommt nämlich nicht darauf an, was der Behörde bei Erlassung ihres Bescheides bekannt war, sondern darauf, ob die Beschwerdeführerin tatsächlich – wie sie behauptet – geschäfts- bzw. prozessfähig gewesen ist. Wenn sich das Verwaltungsgericht an Stelle der Prüfung der behaupteten Geschäftsunfähigkeit auf die Unkenntnis bzw. das Nicht-Erkennen-Können dieses Umstandes zurückzieht, dann ist dies eine grobe Verkennung der Rechtslage unter Verletzung des Prozessunfähigenschutzes. Die Frage der Prozessfähigkeit ist nach der ständigen Rechtsprechung sowohl des Verfassungs- als auch des Verwaltungsgerichtshofes in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen aufzugreifen (vgl. zB , mwH; , mwH). Das Verwaltungsgericht hat bei der Erlassung seiner Entscheidung die Grundsätze dieser Judikatur in besonderem Maße verkannt.

2.3.Das Verwaltungsgericht hat damit bei der Erlassung der angefochtenen Entscheidung Willkür geübt.

IV.Ergebnis

1.Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

2.Der Beschluss ist daher aufzuheben.

3.Die Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4.Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2017:E1741.2016
Schlagworte:
Mindestsicherung, Zustellung, Rechts- und Handlungsfähigkeit, Sachwalterbestellung

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