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OGH 13.09.2016, 10ObS83/16b

OGH 13.09.2016, 10ObS83/16b

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Dr. Schramm als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter (Senat nach § 11a Abs 3 Z 1 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*****, vertreten durch Dr. Ralph Vetter und Dr. Andreas Fritsch, Rechtsanwälte in Lustenau, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, aus Anlass des Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 23 Rs 17/16w-12, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

1. Das Verfahren wurde durch den Tod des Klägers am unterbrochen.

2. Zur Aufnahme des unterbrochenen Verfahrens sind die in § 19 BPGG genannten Personen in der dort festgelegten Rangordnung und unter den dort geregelten Voraussetzungen berechtigt.

3. Die Akten werden den Vorinstanzen zurückgestellt.

Text

Begründung:

Mit der am eingebrachten Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung von Pflegegeld ab .

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht hob das Ersturteil auf und verwies die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück.

Am brachte die beklagte Partei einen Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss ein. Der rechtsanwaltlich vertretene Kläger erstattete am eine Rekursbeantwortung.

Das Erstgericht hat mitgeteilt, dass der Kläger am verstorben ist.

Rechtliche Beurteilung

In einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG wird das Verfahren durch den Tod des Klägers in jeder Lage des Verfahrens – also auch in dritter Instanz – unterbrochen. Die Unterbrechung erfolgt zwingend kraft Gesetzes; dies auch dann, wenn der Kläger durch einen Rechtsanwalt oder eine andere mit Prozessvollmacht ausgestattete Person vertreten war (RIS-Justiz RS0116063; 10 ObS 36/94, SSV-NF 8/78 mwN).

§ 76 Abs 2 ASGG regelt, wer zur Aufnahme eines durch den Tod des Klägers unterbrochenen Verfahrens berechtigt ist. Handelt es sich – wie hier – um Ansprüche nach dem BPGG, so sind § 76 Abs 1 und 2 ASGG nach dessen Abs 4 mit der Maßgabe des § 19 Abs 3 BPGG sinngemäß anzuwenden (10 ObS 210/02h, 10 ObS 106/04t, je mwN). Eine Aufnahme des unterbrochenen Verfahrens erfolgt nur über Antrag einer der dazu berechtigten Person. Da die Sozialrechtssache zur Zeit des Eintritts des Unterbrechungsgrundes () beim Obersten Gerichtshof anhängig war, ist der zur Erwirkung der Aufnahme des Verfahrens erforderliche Antrag nach § 165 Abs 1 ZPO beim Obersten Gerichtshof zu stellen. Dann werden die Vorinstanzen um Wiedervorlage der vorläufig zurückgestellten Akten ersucht werden.

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Dr. Schramm als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. A*****, als Fortsetzungsberechtigte nach dem am verstorbenen B*****, vertreten durch Dr. Ralph Vetter und Dr. Andreas Fritsch, Rechtsanwälte in Lustenau, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 23 Rs 17/16w-12, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 35 Cgs 246/15s-9, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

I. Das durch den Tod des früheren Klägers am unterbrochene Verfahren wird gemäß § 19 Abs 3 BPGG mit der Ehegattin des Verstorbenen als nunmehriger Klägerin fortgesetzt.

II. Dem Rekurs der beklagten Partei wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das die Klage abweisende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Zur Fortsetzung des Verfahrens:

Der frühere Kläger (im Folgenden Pflegebedürftiger) ist am , nach Vorlage des Aktes an den Obersten Gerichtshof, verstorben. Mit Beschluss vom , 10 ObS 83/16b, sprach der Oberste Gerichtshof aus, dass das Verfahren durch den Tod unterbrochen wurde. Am stellte die Ehegattin des Verstorbenen, die mit ihm im gemeinsamen Haushalt gelebt hatte, den Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens. Entsprechend diesem Antrag wird das unterbrochene Verfahren gemäß § 19 Abs 3 BPGG mit der Ehegattin des Verstorbenen als nunmehriger Klägerin fortgesetzt.

II. Zum Rekurs der beklagten Partei:

Im vorliegenden Fall ist allein die Frage zu beantworten, ob der Pflegebedürftige die in § 3a Abs 1 BPGG idF BGBl I 2015/12 normierten Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld erfüllt. § 3a Abs 1 BPGG in der hier bereits anzuwendenden novellierten Fassung lautet folgendermaßen:

„Anspruch auf Pflegegeld … besteht … für österreichische Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, sofern nach der VO (EG) Nr. 883/2004 ... nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist.“

Namentlich geht es darum, ob die Schweiz der zuständige Staat für die Erbringung der Pflegeleistungen ist, was vom Erstgericht bejaht und vom Berufungsgericht verneint wurde.

Der am geborene Pflegebedürftige lebte seit jeher in Österreich. Zuletzt unterlag er im Oktober 1996 einer Pflichtversicherung nach dem ASVG. Jedenfalls seit war er in der Schweiz beschäftigt; seit war er dort von der obligatorischen Krankenversicherungspflicht befreit. Der Kläger hatte mit einem in Österreich ansässigen Versicherungsunternehmen eine private Krankenversicherung abgeschlossen, die an Kosten für Hauskrankenpflege durch diplomiertes Pflegepersonal jährlich bis zu 964,63 EUR leistet. Eine Leistung im Sinn des § 3 BPGG bezog der Pflegebedürftige in Österreich weder zum Stichtag noch zum Schluss der Verhandlung erster Instanz am .

Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Pflegebedürftigen vom auf Gewährung von Pflegegeld ab.

Das Erstgericht wies die auf Zuspruch von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klage ab. Angesichts des aufrechten Beschäftigungsverhältnisses des Pflegebedürftigen sei die Schweiz zuständiger Staat für Leistungen aus dem Versicherungsfall der Krankheit (und damit auch der Pflegebedürftigkeit). Österreich wäre gemäß § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 nur dann zur Leistung von Pflegegeld verpflichtet, wenn nicht ein anderer Staat aufgrund der Verordnung (EG) 883/2004 für die Erbringung von Pflegeleistungen im Rahmen der Koordination von Leistungen bei Krankheit zuständig sei. Der Pflegebedürftige erfülle somit nicht alle im österreichischen Recht aufgestellten Anspruchsvoraussetzungen.

Das Berufungsgericht hob die Entscheidung des Erstgerichts auf und verwies die Sozialrechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück.

Da die Sonderregeln der Art 12 bis 16 der VO (EG) 883/2004 nicht zur Anwendung kämen, gelte die grundsätzliche Regelung des Art 11 Abs 3 lit a der Verordnung, die für Arbeitnehmer die Zuständigkeit des Beschäftigungsstaates – hier der Schweiz – festlege. Nach der Ergänzung des Anhangs XI der VO 883/2004 für die Schweiz (auf der Grundlage von Abschnitt A des Anhangs II zum Freizügigkeitsabkommen vom [FZA]) könnten Personen, die nach den Art 11–18 der Verordnung den schweizerischen Rechtsvorschriften über die Krankenversicherungspflicht unterliegen, auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit werden, wenn sie in Österreich wohnen und nachweisen, dass sie dort für den Krankheitsfall gedeckt seien. Da der Kläger seit von der Versicherungspflicht in der Schweiz befreit sei, habe er in der Schweiz keinen Anspruch auf Leistungen. Nach der Rechtsprechung des EuGH (, C-611/10 und C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, ECLI:EU:C:2012:339, Rz 41, 45 ff) würden es die Koordinierungsbestimmungen einem Mitgliedstaat, der nach den Vorschriften der VO 883/2004 nicht als zuständiger Staat bestimmt sei, nicht verwehren, allein nach seinem nationalen Recht einem Wanderarbeitnehmer Familienleistungen zu gewähren. Demnach dürfe ein Mitgliedstaat einen Leistungsanspruch nicht deshalb verneinen, weil er nach Unionsrecht nicht zuständig sei, wenn der Anspruchswerber alle Anspruchsvoraussetzungen nach rein nationalem Recht erfülle. Dieses zu Familienleistungen ergangene Urteil sei auch auf die Kategorie „Leistungen bei Krankheit“ übertragbar. Daher sei zu prüfen, ob der Pflegebedürftige die Anspruchsvoraussetzungen nach § 3a Abs 1 BPGG erfülle. Im konkreten Fall sei die Änderung der Rechtslage durch Novellierung des § 3a Abs 1 KBGG (BGBl I 2015/12) für den vom Pflegebedürftigen geltend gemachten Anspruch nicht schädlich. An sich sei die Schweiz der zuständige Staat für die Erbringung von Pflegeleistungen. Art 1 der Verordnung enthalte in seiner lit s die Definition des zuständigen Mitgliedstaates: Das sei jener, in dem der zuständige Träger seinen Sitz habe. Nach Art 1 lit q sublit i der Verordnung bezeichne der Ausdruck „zuständiger Träger“ jenen, bei dem die betreffende Person zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Leistungen versichert sei. Gerade das sei der Pflegebedürftige aber am in der Schweiz nicht gewesen, sodass es an diesem Tag keinen zuständigen Träger dort gegeben habe, weshalb die Schweiz nicht als zuständiger Mitgliedstaat qualifiziert werden könne. Dasselbe gelte infolge Art 1 lit q sublit ii der Verordnung aufgrund der Befreiung von der Versicherungspflicht; der Pflegebedürftige habe in der Schweiz keinen Anspruch auf Leistungen. Damit sei aber diese negative Anspruchsvoraussetzung erfüllt, sodass § 3a Abs 1 BPGG auch in der geltenden Fassung dem vom Pflegebedürftigen erhobenen Pflegegeldanspruch nicht entgegenstehe.

Da das Erstgericht keine Feststellungen zur allfälligen Pflegebedürftigkeit getroffen habe, sei das Urteil des Erstgerichts aufzuheben und die Sozialrechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei im Hinblick auf das Fehlen höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Auslegung des § 3a Abs 1 BPGG in der hier maßgeblichen Fassung zulässig.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der beklagten Partei aus dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Ersturteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei beantragt in ihrer Rekursbeantwortung die Bestätigung des angefochtenen Beschlusses des Berufungsgerichts.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zur Sanierung eines dem Berufungsgericht unterlaufenen Subsumtionsfehlers aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig; er ist auch im Sinne einer Wiederherstellung des die Klage abweisenden Ersturteils berechtigt.

In ihrem Rekurs stellt die beklagte Partei in den Vordergrund, dass der Pflegebedürftige nicht alle Anspruchsvoraussetzungen nach nationalem Recht erfülle. Nach den einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen, die auf der Grundlage des Freizügigkeitsabkommens auch im Verhältnis zur Schweiz gelten, sei die Schweiz für die Erbringung von Pflegeleistungen zuständig. Damit erfülle der Kläger die in § 3a Abs 1 BPGG normierte negative Anspruchsvoraussetzung, dass kein anderer (Mitglied-)Staat für Pflegeleistungen zuständig sei, nicht. Der Umstand, dass der Kläger aufgrund schweizerischer Bestimmungen von der Verpflichtung zur Krankenversicherung ausgenommen sei, indiziere grundsätzlich, dass die Schweiz auch tatsächlich der zuständige (Mitglied-)Staat sei. Die Möglichkeit der Einräumung einer – nur bedingt leistungsabdeckenden – privatrechtlichen Krankenversicherung entlasse den unionsrechtlich zuständigen Staat nicht aus seiner Zuständigkeit.

Diese Ausführungen sind berechtigt.

1. In Anhang II des am unterzeichneten und seit in Kraft stehenden Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz wird normiert, dass die in Abschnitt A dieses Anhangs genannten Rechtsakte der Europäischen Union anzuwenden sind, wobei unter Punkt 1 die VO (EG) 883/2004 angeführt ist. Zudem wird in Art 1 Abs 2 des Anhangs II festgelegt, dass der Begriff „Mitgliedstaat“ in den Rechtsakten, die in Abschnitt A genannt sind, neben den durch die betreffenden Rechtsakte der Europäischen Union erfassten Staaten auch die Schweiz umfasst.

2. Der sachliche Geltungsbereich der VO 883/2004 wird in ihrem Art 3 festgelegt, wobei in Abs 1 die diversen Zweige der sozialen Sicherheit aufgezählt werden, für deren Rechtsvorschriften die Verordnung gilt. In die Koordinierung sind nicht nur die klassischen Sozialversicherungssysteme einbezogen, sondern auch solche, die – ohne hoheitlich verwaltet zu werden – Teil des staatlichen Systems der sozialen Sicherheit sind (Fuchs in Fuchs [Hrsg], Europäisches Sozialrecht6 [2013] VO [EG] 883/2004 Art 3 Rz 2 mwN). „Rechtsvorschriften“ im Sinn der Verordnung können unter bestimmten Voraussetzungen auch die Regelungen privatrechtlicher Verträge sein, durch die ein sozialrechtlich einzustufender Leistungsanspruch begründet wird (Leopold in BeckOK Sozialrechted41 [] VO 833/2004 Art 1 Rz 67). Private Versicherungen werden dann erfasst, wenn diese auf einer gesetzlichen Grundlage an die Stelle sonst greifender Versicherungen in einem gesetzlichen System der sozialen Sicherheit treten können (Spiegel in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [44. Lfg, 2014] Art 1 VO 883/2004 Rz 40). So gilt etwa ein privater Krankenversicherungsträger für die bei ihm in einer Gruppenversicherung versicherten Kammerangehörigen aufgrund des obligatorischen Elements des Abschlusses eines solchen Versicherungsvertrags nach § 5 GSVG als zuständiger Träger iSd VO 883/2004 (Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 1 Rz 47).

3. Die Aufzählung der Zweige der sozialen Sicherheit in Art 3 enthält in Abs 1 lit a Leistungen bei Krankheit. Beim Pflegegeld handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des EuGH um eine solche Leistung bei Krankheit (für das österreichische Pflegegeld , Jauch, ECLI:EU:C:2001:139; , C-286/03, Hosse, ECLI:EU:C:2006:125), weil das Pflegegeld eine „Ergänzung der Leistungen der Krankenversicherung“ sei, mit dem es „auch organisatorisch verknüpft“ sei. Es bezwecke die Verbesserung des Gesundheitszustands und der Lebensbedingungen der Pflegebedürftigen (, Jauch, ECLI:EU:C:2001:139, Rz 28; , C-388/09, da Silva Martins, ECLI:EU:C:2011:439, Rz 43).

4. Indem Art 11 Abs 1 der VO 883/2004 den Grundsatz betont, dass Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates unterliegen (vgl auch ErwGr 18a), werden positive wie negative Rechtsanwendungskonflikte ausgeschlossen: Mit der Festlegung der Anwendbarkeit einer bestimmten Rechtsordnung ist zugleich entschieden, dass die Rechtsvorschriften anderer, eventuell ebenfalls betroffener Staaten nicht anzuwenden sind (Leopold in BeckOK Sozialrechted41 [] VO 833/2004 Art 11 Rz 6 und 19). Auch den Sozialversicherten ist es nicht freigestellt, die Wirkungen der VO 883/2004 aushebeln zu können, etwa durch abweichende vertragliche Abreden (, Fischer-Lintjens, ECLI:EU:C:2015:359, Rz 38).

4.1. Im hier zu beurteilenden Fall gilt, dass der Pflegebedürftige, da er nach den Feststellungen im maßgeblichen Zeitraum eine Beschäftigung in der Schweiz ausübt, nach Art 11 Abs 3 lit a der VO 883/2004 den Rechtsvorschriften der Schweiz unterliegt.

4.2. Der Umstand, dass der Pflegebedürftige in der Schweiz tatsächlich gar nicht versichert war, spielt kollisionsrechtlich keine Rolle. Wie die Mitgliedstaaten ihr System der sozialen Sicherheit ausgestalten ist nicht Gegenstand der Kollisionsregeln der VO 883/2004. Konsequenterweise stellt Art 11 Abs 3 lit a der Verordnung lediglich auf den Tatbestand „Beschäftigung“ ab und nicht etwa auf das Vorliegen einer Versicherung in einem Mitgliedstaat aufgrund einer Beschäftigung.

4.3. Entgegen der in der Rekursbeantwortung vertretenen Ansicht unterlag der Pflegebedürftige – worauf das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat – in der Schweiz der Versicherungspflicht, weshalb kein Raum für die Anwendung des Art 14 der Verordnung („Freiwillige Versicherung oder freiwillige Weiterversicherung“) besteht.

4.4. Auch eine andere, dem Art 11 der VO 883/2004 vorgehende Sonderregelung nach Art der Art 12–16 der Verordnung oder ihres Titels III ist in casu nicht einschlägig.

4.5. Zusammenfassend ist nach dem Kollisionsrecht der VO 883/2004 die Schweiz für die Erbringung von Pflege-(geld-)leistungen zuständig. Ob in der Schweiz tatsächlich Pflegeleistungen erbracht werden oder nicht, ist für die Bestimmung der Leistungszuständigkeit ohne Bedeutung. Ein Leistungsanspruch aus Österreich kann sich nur aus dem nationalen Recht ergeben, nicht auf der Grundlage der VO 883/2004.

4.6. Da das nationale Recht in § 3a BPGG in der hier anzuwendenden Fassung (BGBl I 2015/12) darauf abstellt, dass nicht ein anderer Mitgliedstaat „nach der VO (EG) Nr. 883/2004 ... zuständig ist“ ist, liegt es an sich nahe, dass kein Anspruch nach nationalem Recht besteht.

Das Berufungsgericht hat diesen Schluss nicht gezogen. Vielmehr differenziert es zwischen der Auslegung von Unionsrecht und dem im hier gegebenen Zussammenhang (offensichtlich) auf das Unionsrecht verweisenden nationalen Recht:

a) Zur Bestimmung des anzuwendenden Rechts (und damit des leistungszuständigen Staates) nach der VO 883/2004 seien deren Artikel 11 ff heranzuziehen. Demnach bestehe die Zuständigkeit der Schweiz.

b) Soweit die maßgebliche innerstaatliche (österreichische) Rechtsvorschrift (§ 3a Abs 1 BPGG) auf die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der VO 883/2004 abstelle (hier also prinzipiell der Schweiz), seien nicht nur die Zuständigkeitsregeln der VO 883/2004, sondern auch die in Art 1 der Verordnung enthaltenen Begriffsbestimmungen heranzuziehen. Maßgeblich sei, ob es in der Schweiz einen leistungszuständigen Träger gebe. Fehle ein solcher, entfalle die laut Punkt a) gegebene Leistungszuständigkeit der Schweiz wiederum.

§ 3a Abs 1 BPGG wird also so interpretiert, dass es nicht auf die Zuständigkeit nach der VO 883/2004 ankommen soll, sondern darauf, dass nach dem innerstaatlichen Recht des zuständigen Staates ein Träger vorhanden ist, der eine Pflegeleistung erbringt.

5. Diese Interpretation ist nicht mit dem Wortlaut des § 3a Abs 1 BPGG vereinbar. Es ist auch kein zwingender Grund erkennbar, warum die Zuständigkeitsregeln der VO 883/2004 unterschiedlich interpretiert werden sollten, je nachdem ob es um die genuine Auslegung der Verordnung selbst oder um die Auslegung von nationalem Recht geht, das auf die Regeln der Verordnung verweist.

5.1. Aus der zu Familienleistungen ergangenen Rechtsprechung des EuGH zur Überlagerung der Zuständigkeitsregeln der VO 883/2004 durch Primärrecht (, Bosmann, ECLI:EU:C:2008:290; , C-611/10 und C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, ECLI:EU:C:2012:339) hat der Oberste Gerichtshof in drei Entscheidungen zu § 3a BPGG in der Fassung vor der Novelle BGBl I 2015/12 abgeleitet, dass der Umstand, dass nach Unionsrecht ein anderer Mitgliedstaat der für Geldleistungen bei Krankheit zuständige Staat sei, einem Anspruch auf Pflegegeld nach dem BPGG nicht entgegenstehe, wenn die Anspruchsvoraussetzungen nach dem nationalen Recht erfüllt sind (10 ObS 2/14p, SSV-NF 28/38; 10 ObS 36/14p, SSV-NF 28/39 = DRdA 2015/23, 186 [Pfalz]; 10 ObS 86/14s).

Diese Aussage, die auf durchaus nicht unkritisch aufgenommener EuGH-Rechtsprechung beruht (dazu etwa Fuchs, Kindergeldzahlung des unzuständigen Mitgliedstaates – Entscheidungsanmerkung zu ua, DRdA 2013/18, 223 [225 ff]; Felten, Pflegegeld für Ausgleichszulagenbezieher aus anderen EU-Mitgliedstaaten? ÖZPR 2014/25, 44 [46]), wird nicht in Zweifel gezogen.

5.2. Als Konsequenz dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber mit der Novelle BGBl I 2015/12 § 3a Abs 1 BPGG um die negative Anspruchsvoraussetzung ergänzt, dass Österreich nur zur Leistung verpflichtet ist, wenn nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig ist.

Die Änderung des § 3a BPGG beruhte auf einem Initiativantrag. In den Materialien wird darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung nur das Recht einräumt, trotz Unzuständigkeit eine Leistung zu gewähren; dabei handle es sich jedoch um keine unabwendbare Verpflichtung. Durch die vorgeschlagene Änderung des § 3a BPGG solle klargestellt werden, dass Österreich nur dann zur Leistung von Pflegegeld verpflichtet ist, wenn nicht ein anderer Staat aufgrund der VO 883/2004 für die Pflegeleistungen im Rahmen der Koordination als Leistung bei Krankheit zuständig ist (IA 883/A BlgNR 25. GP 29).

5.3. Pfalz geht in seiner Glosse zu OGH 10 ObS 36/14p auf § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 ein und spricht davon, dass der österreichische Gesetzgeber als Konsequenz der EuGH- und der OGH-Rechtsprechung die an sich unmittelbar anwendbaren Kollisionsvorschriften der VO 883/2004 „in gewisser Weise in nationales Recht transformierte“. Die Unionsrechtskonformität des § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 wird von ihm bejaht (Pfalz, DRdA 2015, 189). Die Zulässigkeit einer solchen Regelung wird demgegenüber von Jorens/Van Overmeiren bezweifelt, die die Vermutung äußern, dass eine solche Bestimmung als mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit beurteilt werden könnte (Jorens/Van Overmeiren, Allgemeine Prinzipien der Koordinierung der Verordnung 883/2004, in Eichenhofer [Hrsg], 50 Jahre nach ihrem Beginn – Neue Regeln für die Koordinierung sozialer Sicherheit [2009] 105 [139]).

5.4. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 nur einen sehr geringen Anwendungsbereich hat, da die Bestimmung nun auf die Zuständigkeit nach der VO 883/2004 abstellt, also eine Leistung nur gewährt, wenn ohnehin eine Zuständigkeit Österreichs nach der Verordnung besteht. In Übereinstimmung mit Pfalz ist die Unionsrechtskonformität des § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 zu bejahen, zumal mit der Novelle die Rechtslage vor den – den Zuständigkeitsregeln der Verordnung entgegenstehenden – Entscheidungen des EuGH und des Obersten Gerichtshofs wiederhergestellt wurde. Diese Maßnahme steht in Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, da dieser den Mitgliedstaaten lediglich das Recht – und nicht die Pflicht – einräumt, über die Zuständigkeitsregeln der VO 883/2004 hinaus Leistungen nach nationalem Recht zu gewähren (so auch IA 883/A BlgNR 25. GP 29).

5.5. Somit ist die Frage zu klären, was unter der in § 3a Abs 1 BPGG normierten Anspruchsvoraussetzung der „Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats“ zu verstehen ist.

(a) Die Gesetzesmaterialien (IA 883/A BlgNR 25. GP) verweisen diesbezüglich auf die VO 883/2004 und den Anwendungsvorrang des Unionsrechts, sofern die nationalen Zuständigkeitsregeln nicht mit den unionsrechtlich normierten Zuständigkeitsregeln übereinstimmen.

(b) Das Berufungsgericht stellt bei der Auslegung des § 3a Abs 1 BPGG nicht nur auf die Art 11–16 der VO 883/2004 ab, sondern greift auch auf die Begriffsdefinitionen in Art 1 der Verordnung zurück. Nach Ansicht des Berufungsgerichts sei der „zuständige Mitgliedstaat“ als derjenige Mitgliedstaat zu verstehen, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat (Art 1 lit s der VO 883/2004). Der zuständige Träger wiederum sei derjenige, bei dem die betreffende Person zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags versichert ist (Art 1 lit q sublit i). Da es in der Schweiz keinen „zuständigen Träger“ gebe, könne die Schweiz nicht als zuständiger Mitgliedstaat iSd § 3a Abs 1 BPGG qualifiziert werden. Damit sei die negative Anspruchsvoraussetzung des § 3a Abs 1 BPGG erfüllt, sodass diese Bestimmung dem Pflegegeldanspruch nicht entgegenstehe.

(c) Allerdings wird die Zuständigkeit in der VO 883/2004, auf die § 3a Abs 1 BPGG nach seinem Wortlaut explizit verweist, in den Kollisionsregeln der Art 11 ff geregelt und nicht in den Begriffsbestimmungen. Alleine aufgrund von Begriffsdefinitionen könnte die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates auch gar nicht beurteilt (und erst recht nicht begründet) werden.

Greift man auf die Kollisionsregeln zurück, so kommt man – wie das Berufungsgericht in seinem ersten Schritt – zu dem Ergebnis, dass die Rechtsvorschriften der Schweiz anzuwenden sind. Demnach ist die Schweiz in casu zuständig für die Leistung von Pflegegeld, weshalb die negative Anspruchsvoraussetzung des § 3a Abs 1 BPGG, dass kein anderer Staat zuständig sein dürfe, nicht erfüllt ist.

(d) Wie bereits erwähnt stellt der Wortlaut des § 3a Abs 1 BPGG darauf ab, dass nach der VO 883/2004 kein anderer Mitgliedstaat „für Pflegeleistungen zuständig“ ist.

Der EuGH versteht etwa in seiner Entscheidung in der Rechtssache Hudzinski und Wawrzyniak unter dem „zuständigen Mitgliedstaat“ jenen, der nach Titel II der VO (EWG) 1408/71 – also der Vorgänger-VO der VO (EG) 883/2004 – als zuständig gilt ( und C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, ECLI:EU:C:2012:339, Rz 49 f). Der Titel II der VO 1408/71 enthält Kollisionsnormen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und entspricht im Wesentlichen dem Titel II der VO 883/2004. Dies spricht dafür, dass unter dem zuständigen Mitgliedstaat nach der VO 883/2004 jener verstanden wird, der sich nach den Kollisionsregeln der Verordnung ergibt, ohne dass auf das zusätzliche Merkmal des Sitzes eines Trägers abgestellt werden dürfte.

Dazu kommt, dass nach ErwGr 18a der VO 883/2004 auch der Umstand, dass ein Staat tatsächlich Leistungen gewährt, keinen Einfluss auf die Zuständigkeit hat, sondern dass sich die Zuständigkeit auch in diesen Fällen nach dem Titel II der Verordnung richtet (Pöltl in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [38. Lfg, 2013] Art 11 VO 883/2004 Rz 4/1).

(e) Selbst wenn man mit dem Berufungsgericht und der in der Rekursbeantwortung vertretenen Meinung davon ausginge, dass zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates die Begriffsdefinitionen der VO 883/2004 heranzuziehen seien, steht dem Argument, dass es in der Schweiz keinen zuständigen Träger gebe, Folgendes entgegen:

Unionsrechtlich zuständiger Träger nach der VO 883/2004 ist jener schweizerische Träger, der an sich für die Leistungserbringung zuständig wäre (gäbe es eine entsprechende Pflegegeldleistung in der Schweiz und wäre keine Befreiung des Klägers von der Krankenversicherungspflicht in der Schweiz ausgesprochen worden). Wie die Schweiz ihr innerstaatliches System der sozialen Sicherheit organisiert, ob sie es privatisiert oder unter gewissen Umständen Befreiungen von der Versicherungspflicht vorsieht, bleibt ihr nach der VO 883/2004 unbenommen (siehe bereits oben 4.2.). Die Zuständigkeit nach den Kollisionsregeln der Verordnung bleibt davon unberührt.

(f) Die grundsätzliche Zuständigkeit der Schweiz nach den Kollisionsregeln der VO 883/2004 zeigt sich schon darin, dass die Schweiz den Kläger von der Versicherungspflicht befreit hat.

(g) Wird – wie hier – eine differenzierte Auslegung der VO 883/2004 je nachdem, ob die Verordnung selbst oder eine nationale Bestimmung, die auf die Verordnung verweist, ausgelegt wird, abgelehnt, hätte die Ansicht des Berufungsgerichts und der Rekursgegnerin zur fehlenden Zuständigkeit der Schweiz (mangels eines zuständigen Trägers) die Konsequenz, dass dann kein Mitgliedstaat zuständig wäre. Ziel der VO 883/2004 ist es aber, die Systeme der sozialen Sicherheit so zu koordinieren, dass immer die Rechtsvorschriften (nur) eines Mitgliedstaates anzuwenden sind (anstatt vieler Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld3 [2013] Rz 183, 192), nicht aber, dass es keinen zuständigen Mitgliedstaat gibt.

(h) Zusammenfassend sind – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates auch nach § 3a Abs 1 BPGG allein die Kollisionsregeln nach Art 11 ff der VO 883/2004 heranzuziehen.

6. Da der Pflegebedürftige aufgrund der Zuständigkeit der Schweiz die negative Anspruchsvoraussetzung des § 3a Abs 1 BPGG (dass kein anderer Mitgliedstaat nach der VO 883/2004 zuständig ist) nicht erfüllt, besteht kein Anspruch auf Pflegegeld nach innerstaatlichem Recht.

7. Der Oberste Gerichtshof hat gemäß § 519 Abs 2 letzter Satz ZPO über einen Rekurs gegen einen Beschluss des Berufungsgerichts durch Urteil in der Sache selbst zu erkennen, wenn die Sache zur Entscheidung reif ist (RIS-Justiz RS0043853 [T7]). Mangels einer tauglichen Anspruchsgrundlage für das begehrte Pflegegeld war demnach in Stattgebung des Rekurses das die Klage abweisende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

8. Die Kostenentscheidung hinsichtlich der klagenden Partei beruht auf dem § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse, die einen ausnahmsweisen Kostenersatzanspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht geltend gemacht und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

Zusatzinformationen


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Rechtsgebiet
Zivilrecht
Schlagworte
Sozialrecht,Europarecht
ECLI
ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00083.16B.0913.000
Datenquelle

Fundstelle(n):
UAAAE-14490