OGH vom 28.07.2020, 10ObS81/20i
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Angela Taschek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Dr. Bernhard Zettl, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Ebner Aichinger Guggenberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 5/20i13, womit das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 11 Cgs 5/19w9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben wie folgt:
„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei für den Zeitraum von bis 5.754,20 EUR an Ausgleichszahlung zum österreichischen einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld zu leisten, wird abgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen.“
Text
Entscheidungsgründe:
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Beurteilung der subsidiären Leistungszuständigkeit Österreichs nach der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in weiterer Folge: „VO 883/2004“) für die Erbringung von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld („Sonderleistung I“ nach § 24d Abs 1 KBGG) als Ausgleichszahlung an die in Deutschland wohnhafte Klägerin anlässlich der Geburt ihres zweiten Kindes.
Die Klägerin lebt mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern, dem Sohn F*****, geboren ***** 2016 und der Tochter P*****, geboren ***** 2018, in Deutschland. Sie ist seit 2013 bei einem Unternehmen mit Sitz in Deutschland beschäftigt, ihr Beschäftigungsort liegt in Österreich. Ihr Ehemann ist als Angestellter in Deutschland erwerbstätig. Die Klägerin befindet sich seit dem aufgrund der Geburt ihres ersten Kindes im Karenzurlaub. Ihr Dienstverhältnis ist aufrecht. Nach der Geburt des ersten Kindes nahm der Ehemann der Klägerin von bis sowie von bis (deutsche) Elternzeit in Anspruch. Die Klägerin erhielt ab dem Ende des Mutterschutzes nach der Geburt des zweiten Kindes von bis deutsches Basiselterngeld sowie vom 4. bis zum 15. Lebensmonat und vom 16. bis zum 21. Lebensmonat Elterngeld plus, insgesamt in einer Höhe von 4.844 EUR. Weiters bezog sie vom 13. bis zum 36. Lebensmonat des zweiten Kindes deutsches Familiengeld (monatlich 250 EUR).
Die Klägerin beantragte vorerst das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von bis . Am modifizierte sie ihren Antrag dahin, dass sie die Gewährung der Sonderleistung I gemäß § 24d KBGG begehrte.
Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Partei diesen Antrag ab.
Das Erstgericht sprach der Klägerin 5.754,20 EUR an Ausgleichszahlung zum österreichischen einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von bis zu. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren wurde abgewiesen. Zusammengefasst ging es davon aus, dass aufgrund der Prioritätsregelungen vorrangig die deutschen Rechtsvorschriften heranzuziehen seien, sodass die nach den österreichischen Rechtsvorschriften zustehenden Familienleistungen ausgesetzt seien und lediglich in Form eines Unterschiedsbetrags gewährt werden können. Der Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld gemäß § 24a Abs 1 KBGG betrage (abzüglich des Wochengeldes) 10.598,20 EUR. Ziehe man das von der Klägerin in Deutschland bezogene Elterngeld von 4.844 EUR ab, errechne sich der Unterschiedsbetrag mit 5.754,20 EUR. Ein gleichzeitiger Karenzurlaub bzw Elterngeld/Kinderbetreuungsgeldbezug der Klägerin mit ihrem Ehemann liege im beantragten Zeitraum nicht vor. Die gleichzeitig von beiden Elternteilen nach der Geburt des ersten Kindes konsumierte Karenz habe keine Auswirkungen auf den Kinderbetreuungsgeldbezug nach der Geburt des zweiten Kindes.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Nach dem MSchG und VKG sei eine gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile grundsätzlich nicht zulässig. Lediglich aus Anlass des erstmaligen Wechsels der Betreuungsperson könne die Mutter gleichzeitig mit dem Vater Karenz in der Dauer von einem Monat in Anspruch nehmen. Die gleichzeitige Inanspruchnahme einer ausländischen Karenz durch den einen Elternteil und einer österreichischen Karenz durch den anderen Elternteil sei jedoch nach dem MSchG nicht ausgeschlossen. Die Novelle des KBGG mit dem Bundesgesetz BGBl I 2016/53 habe zu keiner Änderung geführt. Die gleichzeitige Inanspruchnahme der (deutschen) Elternzeit durch den Ehemann der Klägerin und die Inanspruchnahme einer österreichischen Karenzzeit durch die Mutter (Klägerin) schließe nicht aus, dass Österreich Beschäftigungsstaat sei. Infolge des Beschäftigungsorts des Vaters in Deutschland und des in Deutschland gelegenen Wohnorts der Kinder sei Deutschland vorrangig und Österreich subsidiär leistungszuständig (Art 68 Abs 1 lit b sublit i der VO 883/2004).
Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass der Oberste Gerichtshof zu § 24 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 noch nicht Stellung bezogen habe.
Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag auf Abänderung im klageabweisenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
In ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Klägerin, der Revision nicht stattzugeben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil im Geltungsbereich des § 24 Abs 3 KBGG in der Fassung BGBl I 2016/53 noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage besteht, ob die Karenz des einen Elternteils bei gleichzeitiger Inanspruchnahme einer ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil eine der Beschäftigung iSd Art 1 lit a VO 883/2004 gleichgestellte Situation darstellt. Die Revision ist auch berechtigt.
Die Revisionswerberin bringt im Wesentlichen vor, dass bei Anwendung des Art 68 VO 883/2004 für den Bezug von Kinderbetreuungsgeld die in § 24 Abs 2 KBGG idF BGBl I 2016/53 festgelegten einschlägigen nationalen Gleichstellungserfordernisse gelten. Um Karenzzeiten mit Zeiten einer Erwerbstätigkeit gleichhalten zu können, müssten die für den Anspruch auf Karenz vom MSchG/VKG geforderten Voraussetzungen eingehalten werden. Unter anderem dürfte keine länger als einen Monat andauernde gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile vorliegen. Dies gelte selbstverständlich auch, wenn der andere Elternteil eine ausländische Karenzzeit in Anspruch nehme. Da der Ehemann der Klägerin länger als einen Monat in deutscher Elternzeit (Karenz) gewesen sei, sei die gleichzeitige Karenzzeit der Klägerin beendet. Ab diesem Zeitpunkt sei sie (ohne Bezüge) nicht erwerbstätig. Ihre karenzierte Beschäftigung stelle keine gleichgestellte Situation iSd Art 68 iVm Art 1 lit a VO 883/2004 dar. Österreich sei mangels eines grenzüberschreitenden Anknüpfungspunkts nicht mehr für die Gewährung von Familienleistungen (subsidiär) leistungszuständig.
Diese Ausführungen sind berechtigt.
1.1 Die Klägerin ist Grenzgängerin gemäß der Definition nach Art 1 lit f VO 883/2004, in deren persönlichen Geltungsbereich sie sowie ihr Ehemann und ihre Kinder fallen (Familienangehörige gemäß Art 1 lit i VO 883/2004).
1.2 Der sachliche Geltungsbereich der Verordnung umfasst ua Familienleistungen iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j der VO 883/2004, zu denen das österreichische Kinderbetreuungsgeld zählt (EuGH C-543/03, Dodl und Oberhollenzer; C-347/12, Wiering; RS0122905), auch wenn es als Ersatz des Erwerbseinkommens gewährt wird (RS0122905 [T4]).
2. Familienleistungen werden nach den Art 67–69 der VO 883/2004 koordiniert.
2.1 Art 67 sieht einen Anspruch auf Export von Familienleistungen für Familienangehörige vor, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Zuständig für den Export von Familienleistungen ist jener Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften gemäß Art 11 ff VO 883/2004 anwendbar sind (10 ObS 148/14h, SSV-NF 29/59 = DRdA 2016/29, 259 [Rief]).
2.2 Art 68 Abs 1 VO 883/2004 legt zwecks Vermeidung von Doppelleistungen fest, welcher Staat vorrangig zuständig ist, wenn Ansprüche auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen zusammentreffen. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehene Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist einUnterschiedsbetrag zu leisten (Art 68 Abs 2 VO 883/2004).
2.3 Art 67 (Exportverpflichtung) und Art 68 (Prioritätsregeln) der VO 883/2004 knüpfen an die Bestimmung des anwendbaren Rechts nach Art 11 der VO 883/2004 an. Zunächst ist daher festzustellen, welchen Rechtsvorschriften die Klägerin unterliegt.
3.1 Nach Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, dies unabhängig davon, wo die betreffende Person ihren Wohnsitz hat. Geht die Person keiner Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit nach und sind die Spezialbestimmungen der lit b bis d nicht erfüllt, sind gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats anwendbar.
3.2 Zu prüfen ist daher, ob die von der Klägerin in Anspruch genommene Karenz gemäß § 15 MSchG als „Beschäftigung“ im Sinne des Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 zu qualifizieren ist und zur Anwendbarkeit österreichischen Rechts führt oder – falls dies zu verneinen ist – auf das deutsche Recht (als Recht ihres Wohnsitzstaats) abzustellen ist.
3.3 Der Begriff der „Beschäftigung“ iSd VO 883/2004 wird in deren Art 1 lit a definiert. Beschäftigung ist demnach jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. Damit verweist Art 1 lit a VO 883/2004 auf das Sozialrecht des betreffenden Mitgliedstaats (10 ObS 117/14z SSV-NF 29/13 = EvBl 2016/4, 32 [Niksova] = DRdA 2016/3, 37 [Kunz] = ZAS 2016/5, 33 [Petric]).
3.4 Gleichzeitig fingiert Art 11 Abs 2 der VO 883/2004 unter bestimmten Umständen eine Beschäftigung. Bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, wird davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben.
3.5 Darüber hinaus gilt als Beschäftigung im Sinne des Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 auch eine „gleichgestellte Situation“. Dazu enthält der Beschluss Nr F1 der Verwaltungskommission vom zur Auslegung des Art 68 der VO (EG) 883/2004 eine Gleichstellungsregelung hinsichtlich Zeiten einer vorübergehenden Unterbrechung einer Beschäftigung durch unbezahlten Urlaub zum Zweck der Kindererziehung, solange dieser Urlaub nach einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt ist.
4.1 Eine Definition des Begriffs „Beschäftigung“ iSd Art 1 lit a VO 883/2004 ist für den Bereich des pauschalen und des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes in § 24 Abs 2 KBGG festgelegt (RS0130043), wobei diese Definition gleichzeitig der Festlegung der Anspruchsvoraussetzungen von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld dient. Die in § 24 Abs 2 KBGG festgelegten nationalen Gleichstellungserfordernisse gelten auch für die Anwendung des Art 68 der VO 883/2004 (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 11).
4.2 Gemäß § 24 Abs 2 KBGG idF BGBl I 2013/117 ist unter Erwerbstätigkeit im Sinne dieses Bundesgesetzes zu verstehen
„die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit. Als der Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt gelten Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 6 Monate andauernden Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbotes nach dem Mutterschutzgesetz 1979 (MSchG), BGBl. Nr. 221, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, sowie Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder Väter-Karenzgesetz (VKG), BGBl. Nr. 651/1989, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes“.
4.3 Auf diese Rechtslage bezogen sich die Entscheidungen 10 ObS 148/14h, DRdA 2016/29, 259 (Rief) = SZ 29/59 und 10 ObS 115/16h. Die Aussage dieser Entscheidungen lässt sich dahin zusammenfassen, dass § 15 Abs 1a MSchG iVm § 15a Abs 2 MSchG sowie § 2 VKG die gleichzeitige Inanspruchnahme von Karenz durch beide Elternteile für länger als einen Monat für nicht zulässig erklären, aber keine ausdrückliche Aussage zur gleichzeitigen Inanspruchnahme einer ausländischen Karenz durch den anderen Elternteil träfen. Die Inanspruchnahme der (deutschen) Elternzeit durch den anderen Elternteil stehe der Karenz nach dem MSchG daher nicht entgegen.
4.4 § 24 Abs 2 KBGG in der hier anzuwendenden, für Geburten nach dem geltenden Fassung (BGBl I 2016/53; § 50 Abs 14 KBGG) ist – soweit hier von Interesse – im Wesentlichen unverändert geblieben.
Mit der Novelle BGBl I 2016/53 wurde dem § 24 KBGG ein dritter Absatz angefügt. Dieser lautet:
„Nur bei Erfüllung des nationalen Gleichstellungserfordernisses des Abs. 2 zweiter Satz liegt eine gleichgestellte Situation im Sinne des Art. 68 iVm Art. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 […] vor, wobei diese der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation für alle Eltern spätestens mit Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes endet. Eine Scheinkarenz löst keine österreichische Zuständigkeit aus, dasselbe gilt für Zeiten, in denen mangels Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen kein gesetzlicher Anspruch auf die österreichische Karenz besteht, etwa bei gleichzeitiger Inanspruchnahme einer in- oder ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil “
4.5 Nach den Gesetzesmaterialien zu § 24 Abs 3 KBGG strebte der Gesetzgeber die Klarstellung an, dass für die Zwecke der VO 883/2004 nicht „europarechtliche Zuständigkeitsregeln (anwendbares Recht), sondern – europarechtskonform – auf die jeweiligen nationalen Voraussetzungen abgestellt wird“ (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 11). Eine der Ausübung der Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation im Sinn des Art 68 iVm Art 1 lit a VO 883/2004 soll demnach nur bei Erfüllung der nationalen Gleichstellungserfordernisse des § 24 Abs 2 KBGG vorliegen. Ausschließlich die Karenz nach dem MSchG und dem VKG (und nach gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften) soll gleichstellungsfähig sein. Werden die gesetzlichen Voraussetzungen einer österreichischen Karenz nicht eingehalten, wird die österreichische Zuständigkeit nicht ausgelöst, etwa wenn die Mindestdauer, Meldefristen nicht eingehalten wurden oder der andere Elternteil gleichzeitig Karenz in Anspruch nimmt („dasselbe gilt selbstverständlich auch für eine ausländische Karenz des anderen Elternteils“ (ErläutRV 1110 BlgNR 24. GP 11).
5.1 Felten (in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO [EG] 883/2004 Rz 6/1) weist darauf hin, dass mit § 24 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 die einer Erwerbstätigkeit gleichzustellenden Situationen ausdrücklich wieder eingeschränkt werden. Der Gesetzgeber berufe sich zwar zu Recht darauf, die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Familienleistungen autonom festzulegen. Dem sei zwar zuzustimmen, dabei dürfe der Gesetzgeber freilich keine diskriminierenden Anspruchsvoraussetzungen definieren.
5.2 Holzmann-Windhofer (in Holzmann-
Windhofer/Weißenböck,Kinderbetreuungsgeldgesetz,§ 24 Anm 2.2.5.2 [153]), verweist zu den Gleichstellungserfordernissen im Zusammenhang mit der Karenz nach dem MSchG und dem VKG auf die Voraussetzungen und Bedingungen des MSchG. Sollten diese nicht eingehalten werden, lägen die Gleichstellungserfordernisse nicht vor und bliebe die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld verwehrt. Dazu gehöre auch das Verbot der gleichzeitigen (in- oder ausländischen) Karenz von Mutter und Vater (mit Ausnahme eines Überlappungsmonats beim erstmaligen Karenzwechsel).
5.3 Sonntag (Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 [7]) geht davon aus, dass sich § 24 Abs 3 KBGG als inhaltsleer erweise, weil darin vorausgesetzt werde, dass die gleichzeitige Inanspruchnahme einer ausländischen Karenz durch den anderen Elternteil eine österreichische Karenz ausschließe. Wie sich aus der Entscheidung 10 ObS 148/14h ergebe, sei dies den entsprechenden Regelungen im MSchG (§ 15 Abs 1a und § 15a Abs 2 MSchG) nicht zu entnehmen. Da diese Regelungen durch die Novelle BGBl I 2016/53 keine Änderung erfahren haben, gelte Österreich (bei Vorliegen einer entsprechenden Sachverhaltskonstellation) weiterhin als Beschäftigungsstaat.
6.1 Der Ansicht der Revisionswerberin (die den Ausführungen von Holzmann-Windhofer entspricht) ist zu folgen:
Sowohl die Definition des Begriffs „Beschäftigung“ in Art 1 lit a der VO 883/2004 als auch jene in Art 11 Abs 2 VO 883/2004 verweisen auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten. Maßgeblich für die kollisionsrechtliche Anknüpfung ist demnach die nationale Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ sowie des Begriffs „der einer Beschäftigung gleichgestellten Situation“. Beide Begriffe wurden vom Gesetzgeber für den Bereich des Kinderbetreuungsgeldes in § 24 Abs 2 und 3 KBGG (zulässigerweise) definiert (RS0130043).
6.2 Nach § 24 Abs 2 KBGG setzt eine Gleichstellung der von der Klägerin in Anspruch genommenen Zeiten des Mutterschutzes oder der gesetzlichen Karenz mit den Zeiten der tatsächlichen Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit voraus, dass die Klägerin zuvor eine mindestens 182 Tage andauernde sozialversicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hat (was bezogen auf das Beschäftigungsverbot vor der Geburt des ersten Kindes nicht strittig ist). Im Hinblick auf die während der Karenzzeit nach dem ersten Kind eingetretene weitere Schwangerschaft muss eine lückenlose Aneinanderreihung von Mutterschutz und Karenzzeiten vorliegen, die eine „Gleichstellungskette“ auslöst (Holzmann-Windhofer in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, Kinderbetreuungsgeld § 24 Anm 2.2.5.3 [154]).
6.3 Die in § 24 Abs 2 KBGG enthaltenen Gleichstellungsregelungen wurden durch den mit der Novelle BGBl I 2016/53 neugeschaffenen Abs 3 ergänzt. Die neue Regelung des § 24 Abs 3 KBGG ist nach ihrem objektivem Zweck dahin zu verstehen, dass bei gleichzeitiger (mehr als einmonatiger) Inanspruchnahme einer ausländischen Karenzzeit durch den anderen Elternteil keine Leistungszuständigkeit Österreichs und daher keine Exportverpflichtung mehr gegeben sein soll. Die Revisionswerberin weist zutreffend darauf hin, dass damit keine diskriminierenden Anspruchsvoraussetzungen definiert werden, weil Elternteile, die in verschiedenen Mitgliedstaaten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, jenen Elternteilen gleichgestellt werden, die lediglich in Österreich eine Erwerbstätigkeit ausüben. Der in der Revisionsbeantwortung vertretenen Ansicht, aus dem Grundsatz der Freizügigkeit sei abzuleiten, dass die nach dem deutschen Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG) mögliche gleichzeitige Inanspruchnahme der Elternzeit durch beide Elternteile den Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld nicht hindern dürfe, ist entgegenzuhalten, dass das Unionsrecht kein einheitliches Sozialrecht schafft, sondern das Sozialrecht der Mitgliedstaaten unberührt lässt. Der Europäischen Union steht keine allgemeine Rechtssetzungsbefugnis für das sozialrechtliche Sachrecht zu, weshalb sie auch nicht eine Harmonisierung der Sozialleistungssysteme schaffen kann (RS0111028). Dass es zu Unterschieden zu Gunsten, aber auch zu Lasten von Grenzgängern kommen kann, folgt aus dem Fehlen eines gemeinsamen Sozialversicherungssystems in allen Mitgliedstaaten oder dem Fehlen einer Vereinheitlichung der bestehenden nationalen Systeme.
7. Zusammenfassend ist aus kollisionsrechtlicher Sicht ab der mehr als einmonatigen Inanspruchnahme von (deutscher) Elternzeit durch den Vater und gleichzeitiger Karenzzeit durch die Klägerin keine einer „Beschäftigung“ iSd § 11 Abs 2 VO 883/2004 gleichgestellte Situation mehr vorgelegen. Die bis dahin gleichgestellten Zeiten können keine weitere Gleichstellung auslösen. In kollisionsrechtlicher Hinsicht (Art 11 ff VO 883/2004) folgt daher, dass im zu beurteilenden Zeitraum von bis Österreich für die Gewährung von Familienleistungen auch nicht subsidiär zuständig ist.
Der Revision der Beklagten ist daher Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach
Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00081.20I.0728.000 |
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