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VfGH vom 24.11.2016, E178/2016 ua

VfGH vom 24.11.2016, E178/2016 ua

Leitsatz

Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes infolge Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis wegen der Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,82 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom wurde über die Beschwerdeführer, beide Staatsangehörige der Russischen Föderation, gemäß § 76 Abs 2 Z 1 FPG iVm § 57 AVG die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung verhängt.

2. Die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde, in der die Beschwerdeführer unter anderem einen Antrag auf Beigebung eines Verfahrenshelfers gemäß § 40 VwGVG stellten, wies das Bundesverwaltungsgericht mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom gemäß § 76 Abs 2 Z 1 FPG iVm § 22a Abs 1 BFA-VG ab (Spruchpunkt I), stellte weiters fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen (Spruchpunkt II), wies die Anträge auf Kostenersatz ab (Spruchpunkt III), erlegte den Beschwerdeführern den Ersatz der Barauslagen für die Dolmetscherin dem Grunde nach auf (Spruchpunkt IV) und gab den Anträgen auf Beigebung eines Verfahrenshelfers gemäß § 40 VwGVG (Spruchpunkt V) sowie den Anträgen auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gemäß Art 47 Abs 3 GRC keine Folge (Spruchpunkt VI).

Betreffend Spruchpunkt V führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass dem Antrag auf Verfahrenshilfe nicht Folge gegeben werden könne, weil § 40 VwGVG in Schubhaftverfahren nicht anzuwenden sei; selbst bei Anwendung des § 40 VwGVG sei dem Antrag nach § 40 Abs 5 VwGVG nicht stattzugeben. In Hinblick auf Spruchpunkt VI führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass dem Antrag auf Prozesskostenhilfe keine Folge gegeben werde, weil durch die Beigebung eines Rechtsberaters ein hinreichender Komplementärmechanismus bestehe; selbst bei Anwendung des Art 47 Abs 3 GRC sei dem Antrag nicht zu entsprechen, weil es der Beigebung eines Verfahrenshelfers an die Beschwerdeführer, denen ein Rechtsberater beigegeben worden sei, dem sie auch Vollmacht erteilt haben, der für sie die Beschwerden eingebracht habe und in ihrem Namen an der mündlichen Verhandlung teilgenommen habe, nicht bedürfe.

3. In der gegen dieses Erkenntnis gemäß Art 144 B VG erhobenen Beschwerde machen die Beschwerdeführer die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, auf persönliche Freiheit und gemäß Art 47 GRC mit näherer Begründung geltend.

4. Das Bundesverwaltungsgericht erstattete eine Gegenschrift, in der es den Beschwerdebehauptungen entgegen trat.

5. Mit Erkenntnis vom , G447/2015 ua., hat der Verfassungsgerichtshof die Wortfolge "gegen eine Rückkehrentscheidung, eine Entscheidung gemäß § 2 Abs 4 bis 5 oder § 3 GVG-B 2005 oder eine Anordnung zur Außerlandesbringung" in § 52 Abs 2 BFA-VG, BGBl I 87/2012 idF BGBl I 70/2015, aufgehoben. Weiters hat er ausgesprochen, dass die Aufhebung mit Ablauf des in Kraft tritt und dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1.1. Die Beschwerde ist begründet.

1.2. Das Bundesverwaltungsgericht hätte im Rahmen des Abspruchs über den Antrag auf Beigebung eines Verfahrenshelfers die mit Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom , G447/2015 ua., aufgehobene Wortfolge "gegen eine Rückkehrentscheidung, eine Entscheidung gemäß § 2 Abs 4 bis 5 oder § 3 GVG-B 2005 oder eine Anordnung zur Außerlandesbringung" in § 52 Abs 2 BFA-VG, BGBl I 87/2012 idF BGBl I 70/2015, anzuwenden gehabt (vgl. ).

1.3. Gemäß Art 140 Abs 7 B VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Dem in Art 140 Abs 7 B VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg 10.616/1985, 11.711/1988).

Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren zu G447/2015 ua. begann am . Der im vorliegenden Fall gestellte Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ist am , also noch vor Beginn der nichtöffentlichen Beratung beim Verfassungsgerichtshof eingelangt. Die in der Folge am eingebrachte Beschwerde gilt gemäß § 464 Abs 3 ZPO iVm § 35 Abs 1 VfGG als zum Zeitpunkt der Einbringung des Verfahrenshilfeantrages, somit als noch vor Beginn der nichtöffentlichen Beratung erhoben und damit beim Verfassungsgerichtshof anhängig (VfSlg 11.748/1988). Der ihr zugrunde liegende Fall ist daher einem Anlassfall gleichzuhalten.

1.4. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass die Anwendung dieser Bestimmung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war (vgl. ).

2. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis wegen der Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).

3. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2016:E178.2016