VfGH vom 06.06.2006, b160/06
Sammlungsnummer
17823
Leitsatz
Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch die Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt; keine Bedenken gegen die Regelungen über den Ausschluss von Mitgliedern des Disziplinarrates und der OBDK; kein verfassungswidriges Abgehen vom Einleitungsbeschluss; kein willkürlicher Ermessensmissbrauch bei der Strafbemessung
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Bescheid des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich vom , der auch unangefochten gebliebene Teilfreisprüche enthält, wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe
"(2/1) beim BG Innere Stadt Wien zu Unrecht einen
Exekutionsantrag zur Hereinbringung von Kosten, die seiner
Mandantschaft gegen Dr. P in seiner Eigenschaft als Masseverwalter im
Konkurs über das Vermögen des Ing. G E, AZ ... des LG K, zugestanden
sind gegen Dr. H P, Rechtsanwalt 1010 Wien, ... persönlich in dessen
gesamtes Vermögen, zur AZ ... des BG Innere Stadt Wien, eingebracht;
(2/2) mit Schreiben vom dem öffentlichen Notar in H Univ.Doz.Mag. DDr. L B, in der Verlassenschaftssache nach dem verstorbenen Herrn S wahrheitswidrig mitgeteilt, dass die von Dr. F H, RA in H vertretene erblasserische Witwe M S auf jegliche Ansprüche gegenüber der Verlassenschaft verzichtet hätte;
(2/3) im Verfahren AZ ... des BG H ohne Auftrag und gegen
den Willen seiner Mandantin S B, ... einen in deren
Ehescheidungsverfahren geschlossenen Vergleich widerrufen und Rekurs eingebracht, und hiedurch das (richtig: die) Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen."
Der Beschwerdeführer wurde hiefür zu einer Geldbuße von € 600,- und zum Ersatz der Kosten des Disziplinarverfahrens verurteilt.
2. Der vom Beschwerdeführer dagegen erhobenen Berufung wurde mit Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im Folgenden: OBDK) vom keine Folge gegeben. Hingegen wurde der Berufung des Kammeranwalts Folge gegeben und die Geldbuße mit € 2.500,-
festgesetzt.
3. Gegen dieses als Bescheid zu wertende Erkenntnis der OBDK richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in welcher die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art 7 B-VG, Art 6 EMRK und Art 83 Abs 2 B-VG behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.
4. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie der Beschwerde entgegentritt und deren Abweisung beantragt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Unter dem Titel des Art 7 B-VG rügt der Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit nicht näher bezeichneter Bestimmungen des Disziplinarstatutes für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im Folgenden: DSt 1990), wonach im Verfahren vor dem Disziplinarrat einzelne Mitglieder wegen Befangenheit abgelehnt werden können, während eine solche Möglichkeit im Verfahren vor der OBDK nicht bestehe.
1.2. Dem ist entgegenzuhalten, dass gemäß § 64 Abs 2 DSt 1990 die Ausschließungsgründe des § 26 leg.cit. auch auf die Mitglieder der OBDK anzuwenden sind. § 26 DSt 1990 lautet:
"§26. (1) Von der Teilnahme am Disziplinarverfahren ist ein Mitglied des Disziplinarrats ausgeschlossen, wenn
1. das Mitglied durch das Disziplinarvergehen selbst betroffen oder Anzeiger oder
2. Rechtsfreund oder gesetzlicher Vertreter des Betroffenen oder Anzeigers ist oder
3. der Beschuldigte, der Anzeiger oder der Betroffene Angehöriger des Mitglieds im Sinn des § 152 Abs 1 Z 1 StPO ist.
(2) Der Untersuchungskommissär ist von der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung und Entscheidung ausgeschlossen.
(3) Der Beschuldigte und der Kammeranwalt sind darüber hinaus berechtigt, einzelne Mitglieder des Disziplinarrats unter Angabe bestimmter Gründe wegen Befangenheit abzulehnen.
(4) Die Mitglieder des Disziplinarrats haben sie betreffende Ausschließungs- oder Befangenheitsgründe dem Präsidenten des Disziplinarrats unverzüglich bekanntzugeben.
(5) (...)"
Vom Disziplinarverfahren ist ferner ausgeschlossen, wer an der angefochtenen Entscheidung teilgenommen oder am vorangegangenen Verfahren als Kammeranwalt, Verteidiger des Beschuldigten oder Vertreter eines sonst Beteiligten mitgewirkt hat. Gemäß § 64 Abs 3 DSt 1990 sind die Generalprokuratur, der Kammeranwalt und der Beschuldigte darüber hinaus berechtigt, einzelne Mitglieder der OBDK unter Angabe bestimmter Gründe wegen Befangenheit abzulehnen. Dem Beschuldigten sind aus diesem Grund die Mitglieder der OBDK - zumindest aber die Mitglieder des erkennenden Senates - bekannt zu geben.
Weder gegen § 26 DSt 1990 (vgl. ) noch gegen § 64 leg.cit. (vgl. VfSlg. 13.731/1994) sind beim Verfassungsgerichtshof vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles Bedenken entstanden. Der Beschwerdeführer ist daher nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
2.1. Der Beschwerdeführer behauptet eine Verletzung in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art 6 EMRK und Art 83 Abs 2 B-VG, weil der Kammeranwalt Vorwürfe erhoben habe, die vom Einleitungsbeschluss nicht gedeckt seien. Auch die Verurteilung durch die OBDK weiche vom Einleitungsbeschluss ab. Die einem Rechtsanwalt obliegende Überwachungspflicht gegenüber den in seiner Kanzlei tätigen Personen sei ihm in der Verhandlung niemals vorgehalten worden, sodass er sich hinsichtlich dieses Vorwurfs nicht verantworten habe können.
2.2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits wiederholt dargelegt hat, handelt es sich bei einem Einleitungsbeschluss lediglich um eine prozessleitende Verfügung, die der Durchführung eines Disziplinarverfahrens vorauszugehen hat (vgl. VfSlg. 9425/1982, 10.944/1986, 11.448/1987, 11.608/1988, 12.698/1991, 12.881/1991, ). Er legt den Gegenstand des Disziplinarverfahrens fest und zieht der disziplinären Verfolgung - zugunsten des Disziplinarbeschuldigten - Grenzen, weil ihm mit Zustellung des Einleitungsbeschlusses nicht nur die Fortführung des Disziplinarverfahrens eröffnet wird, sondern auch dessen Verfahrensgegenstand. Damit kann sich der Disziplinarbeschuldigte Klarheit darüber verschaffen, welcher disziplinäre Vorwurf gegen ihn erhoben wird, wenngleich eine spätere "Erweiterung" der Anschuldigungspunkte nicht ausgeschlossen wird (vgl. VfSlg. 9425/1982). Dem Einleitungsbeschluss kommt daher, wie der Verfassungsgerichtshof erläutert hat, nicht die Funktion einer Anklageschrift iSd. StPO zu. Dies ist unter dem Aspekt des Art 90 Abs 2 B-VG verfassungsrechtlich unbedenklich, weil es sich bei einem Disziplinarverfahren nicht um ein Strafverfahren im Sinne dieser Verfassungsbestimmung handelt (vgl. VfSlg. 12.462/1990). Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs wird das künftige Erkenntnis des Disziplinarrates durch den Einleitungsbeschluss in keiner Weise präjudiziert (vgl. VfSlg. 12.962/1992).
In der Verhandlung vor der OBDK am stellte sich heraus, dass die Unterschrift auf dem Brief vom , der Gegenstand des Spruchpunktes (2/2) des Bescheides des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich war, nicht vom Beschwerdeführer, sondern von seinem emeritierten Kanzleikollegen stammte. Der Beschwerdeführer hatte ausreichend Gelegenheit, zu der insofern geänderten Sachlage Stellung zu nehmen, wovon er auch Gebrauch gemacht hat (vgl. das Verhandlungsprotokoll vom ).
Der Beschwerdeführer wurde daher nicht in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art 6 EMRK verletzt.
2.2.2. Auch eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter kommt nicht in Betracht, weil dieses Recht durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde nur verletzt wird, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg. 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001, 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001, 16.737/2002). Eine solche Vorgehensweise ist im vorliegenden Fall nicht erkennbar.
3.1. Der Beschwerdeführer behauptet weiters, die belangte Behörde habe Willkür geübt, indem sie ihn zu einer Gesamtgeldbuße von € 2.500,- verurteilt habe, während der Disziplinarrat eine Geldbuße von € 600,- verhängt habe. In dieser Vorgehensweise sei ein "eklatanter Ermessensmissbrauch" zu erblicken.
3.2. Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001 16.640/2002).
Ein solcher Fall liegt hier nicht vor: Die belangte Behörde führt aus, dass das Verhalten des Beschwerdeführers nicht nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen habe. Sie wertet das Zusammentreffen disziplinärer Verfehlungen gleicher und verschiedener Art sowie die Vorverurteilung des Beschwerdeführers als erschwerend. Aus dem Gesamtverhalten des Beschwerdeführers ergebe sich, dass er dem Standesrecht und den dazu ergangenen Entscheidungen zu wenig Beachtung schenke. Die durch den Disziplinarrat verhängte Geldbuße sei zu erhöhen gewesen, um dem Schuld- und Unrechtsgehalt der Taten ausreichend Rechnung zu tragen. Die verhängte Geldbuße entspreche diesen Komponenten unter Berücksichtigung des Einkommens des Beschwerdeführers.
§ 16 Abs 6 DSt 1990 räumt den Disziplinarbehörden bei der Festsetzung von Strafen ein (Auswahl-)Ermessen ein, wobei unter anderem auch das Ausmaß des Verschuldens Berücksichtigung finden soll. Der belangten Behörde kann aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegengetreten werden, wenn sie - unter Bedachtnahme auf die sich in der Verhandlung vor der OBDK am geänderte Sachlage - das Verschulden des Beschwerdeführers insgesamt nicht als geringfügig erachtet.
Der Beschwerdeführer wurde daher nicht seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art 7 B-VG verletzt.
4. Die behauptete Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hat sohin nicht stattgefunden.
Das Verfahren hat auch nicht ergeben, dass der Beschwerdeführer in von ihm nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde.
Ob der angefochtene Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen die Entscheidung einer Kollegialbehörde nach Art 133 Z 4 B-VG richtet, die beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl. zB VfSlg. 10.659/1985, 12.915/1991, 14.408/1996, 16.570/2002 und 16.795/2003).
Die Beschwerde war daher abzuweisen.
5. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.