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VfGH vom 06.06.2006, B908/05

VfGH vom 06.06.2006, B908/05

Sammlungsnummer

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Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wegen verfassungswidriger Gesetzesauslegung des Abgabenverwaltungsorganisationsgesetzes iVm der Verordnung zur Einrichtung der Steuer- und Zollkoordination; Bescheiderlassung als eigene Organisationseinheit "Steuer- und Zollkoordination Region West" für den Finanzminister

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.340,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen vierzehn Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde über entsprechendes Ersuchen der in der Rückstandsanzeige der Stadt Köln näher bezeichnete Abgabenrückstand iHv € 119.264,47 gemäß Art 11 des Vertrages zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen, BGBl. 249/1955, anerkannt und für vollstreckbar erklärt.

Die Erledigung weist im Kopf die Bezeichnung "Bundesministerium für Finanzen" auf und ist "Für den Bundesminister:

iA N.N." gefertigt. Folgende Anschrift ist angegeben:

"Aignerstraße 10, 5026 Salzburg-Aigen".

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der im Wesentlichen behauptet wird, dass dem Beschwerdeführer die mit dem angefochtenen Bescheid anerkannte und für vollstreckbar erklärte Rückstandsanzeige nie zugestellt worden sei und daher kein Vollstreckungstitel vorliege.

3. Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie zunächst Folgendes zur Zuständigkeit der Behörde erläutert:

"Artikel 4 des Vertrages vom , BGBl. Nr. 249/1955, zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen (im Folgenden AHV 1954) regelt die grundsätzliche Zuständigkeit der Oberfinanzdirektionen in Deutschland und der Finanzlandesdirektionen in Österreich für die Übermittlung und Entgegennahme von Rechtshilfeersuchen.

Artikel 11 Absatz 2 concit. normiert die Zuständigkeit hinsichtlich Vollstreckbarkeitserklärung durch die Oberfinanzdirektionen bzw. Finanzlandesdirektionen.

Durch das AbgÄG 2003, BGBl. I 2003/124, wurde das Bundesministerium für Finanzen zur Leistung von Amtshilfe im Verhältnis zu Deutschland auf der Grundlage des AHV 1954 zuständig (§17a Absatz 2 AVOG). Die praktische Abwicklung erfolgt seither per Adresse Fachbereich Internationales Steuerrecht, Aignerstraße 10, 5026 Salzburg.

Eine entsprechende Notifikation an die deutsche oberste Finanzbehörde durch das Bundesministerium für Finanzen erfolgte im Rahmen von deutsch-österreichischen Revisionsverhandlungen, welche vom 17. bis in Wien stattfanden. Im Zuge dessen fand die schrittweise administrative Umsetzung auch in Deutschland auf Länderebene statt."

Dem Beschwerdevorbringen wird - zusammengefasst - entgegengehalten, dass Einwendungen gegen die Abgabenvorschreibung bzw. deren ordnungsgemäße Zustellung bei der zuständigen Behörde in Deutschland einzubringen und nach deutschem Recht zu entscheiden seien. Das Verfahren vor der belangten Behörde hätte sich auf die Prüfung der in Art 11 Abs 1 des erwähnten Vertrages zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen, BGBl. 249/1955, geregelten Voraussetzungen zu beschränken gehabt.

4. Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich folgendermaßen dar:

4.1. Art 11 des Vertrages zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen, BGBl. 249/1955, enthält Bestimmungen über die Rechtshilfe bei der Vollstreckung und lautet:

"(1) Dem Ersuchen um Vollstreckung von Verfügungen, die unanfechtbar und vollstreckbar sind, ist eine Erklärung der zuständigen Behörde des ersuchenden Staates beizufügen, in der die Unanfechtbarkeit bestätigt wird. Vorbehaltlich des Artikels 13 ist die Zuständigkeit dieser Behörde durch die jeweils zuständige Oberfinanzdirektion oder Finanzlandesdirektion des ersuchenden Staates zu bescheinigen. Als Grundlage der Vollstreckung können an die Stelle der im ersten Satz bezeichneten Verfügungen auch Rückstandsausweise treten.

(2) Verfügungen (Rückstandsausweise), die den Bestimmungen des Absatzes 1 entsprechen, sind vorbehaltlich des Artikels 13 von den jeweils zuständigen Oberfinanzdirektionen oder Finanzlandesdirektionen des ersuchten Staates anzuerkennen und für vollstreckbar zu erklären. Artikel 6 bleibt unberührt.

(3) Die in Absatz 2 bezeichneten Verfügungen werden durch die Finanzämter oder Gerichte gemäß der Gesetzgebung des ersuchten Staates vollstreckt."

4.2. Gemäß § 1 des Bundesgesetzes vom über den Aufbau der Abgabenverwaltung des Bundes (Abgabenverwaltungsorganisationsgesetz - AVOG), BGBl. 18/1975 idF AbgÄG 2003, BGBl. I 124, obliegt dem Bundesministerium für Finanzen die Besorgung der Geschäfte der obersten Verwaltung des Bundes nach Maßgabe des Bundesministeriengesetzes in der jeweils geltenden Fassung. § 2 AVOG ermächtigt den Bundesminister für Finanzen zur Einrichtung besonderer Organisationseinheiten durch Verordnung.

Mit dem AbgÄG 2003 wurde weiters ein neuer § 17a AVOG eingefügt, der auszugsweise lautet (Hervorhebung nicht im Original):

"(1) Soweit Aufgaben von der Finanzlandesdirektion oder von Finanzlandesdirektionen (§2 in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 124/2003) wahrzunehmen waren, die nicht auf besondere Organisationseinheiten im Sinne des § 2 dieses Bundesgesetzes übertragen werden, sind diese von den in § 14 dieses Bundesgesetzes definierten Zollämtern für die ihnen übertragenen Aufgaben, in allen anderen Fällen von den in § 3 dieses Bundesgesetzes definierten Finanzämtern wahrzunehmen, soweit nicht Abs 2 anderes bestimmt.

(2) Die im Opferfürsorgegesetz 1947, BGBl. Nr. 183/1947 in der jeweils geltenden Fassung, in der Umlagenordnung, BGBl. Nr. 215/1947 in der jeweils geltenden Fassung, im Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen, BGBl. Nr. 249/1955, und im Wirtschaftskammergesetz 1998, BGBl. I Nr. 103/1998, in der jeweils geltenden Fassung geregelten Zuständigkeiten der Finanzlandesdirektionen fallen in den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Finanzen.

..."

Auf Grund §§2 iVm § 17a AVOG wurde mit der Verordnung des Bundesministers für Finanzen vom , BGBl. II 168, eine Steuer- und Zollkoordination eingerichtet, die sich gemäß § 3 in Abteilungen gliedert. Die Aufteilung der Aufgaben auf die einzelnen Abteilungen ist in einer vom Bundesminister für Finanzen zu erlassenden Geschäftseinteilung festzusetzen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Gemäß § 17a Abs 2 AVOG ist nunmehr der Bundesminister für Finanzen zur Erledigung der in Rede stehenden Angelegenheit zuständig. Der bekämpfte Bescheid wurde (vgl. I. 1.) "Für den Bundesminister [für Finanzen]" per Adresse Aignerstraße 10, 5026 Salzburg-Aigen, erlassen. Wie in der Gegenschrift näher erläutert wurde, stammt der angefochtene Bescheid aus dem "Fachbereich Internationales Steuerrecht", eingerichtet in 5026 Salzburg-Aigen. Dabei handelt es sich - wie sich auch aus der in § 3 der Verordnung des Bundesministers für Finanzen vom , BGBl. II 168, erwähnten Geschäfts- und Personaleinteilung ergibt - um eine Abteilung der mit dieser Verordnung auf Basis der §§2, 17a AVOG eingerichteten Steuer- und Zollkoordination des Bundesministeriums für Finanzen.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat aus Anlass einer Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesministers für Finanzen, "Steuer- und Zollkoordination Region West, Personalabteilung", per Adresse 6020 Innsbruck, ein Gesetzes- und Verordnungsprüfungsverfahren zur Prüfung des § 2 AVOG sowie der Verordnung des Bundesministers für Finanzen zur Einrichtung einer Steuer- und Zollkoordination, BGBl. II 168/2004, eingeleitet und in den verbundenen Verfahren G105/05, V79/05 u.a. in seinem Erkenntnis vom die Auffassung vertreten, dass diese Bestimmungen einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich und im Hinblick auf Art 5 Abs 1 B-VG letztlich verfassungsrechtlich unbedenklich sind. Dies deshalb, weil § 2 AVOG nicht dazu ermächtige, die dort vorgesehenen Organisationseinheiten außerhalb des Territoriums von Wien einzurichten. Ebenso ließ sich der Wortlaut der genannten Verordnung verfassungskonform dahin interpretieren, dass damit nicht die Einrichtung von (besonderen) Organisationseinheiten des Bundesministeriums für Finanzen außerhalb von Wien normiert wurde. Indem der Bundesminister für Finanzen sich durch diese Bestimmung ermächtigt sah, den Bescheid durch eine außerhalb der Bundeshauptstadt Wien eingerichtete Organisationseinheit des Bundesministeriums für Finanzen zu erlassen, hatte er dieser Bestimmung einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt (). Dies gilt ebenso für den vorliegenden Fall.

3. Der Verfassungsgerichtshof versteht in seiner ständigen Rechtsprechung das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter in einem umfassenden, auf den Schutz und die Wahrung der gesetzlich begründeten Behördenzuständigkeiten gerichteten Sinn (vgl. etwa VfSlg. 14.390/1995 mwH). In diesem umfassenden Sinn wird aber das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter auch durch den Bescheid eines Bundesministers verletzt, der sich bei der Erlassung dieses Bescheides als Geschäftsapparat einer Organisationseinheit des ihm gemäß Art 77 Abs 3 B-VG unterstellten Bundesministeriums bedient, die im Widerspruch zu Art 5 Abs 1 iVm Art 77 Abs 1 B-VG außerhalb der Bundeshauptstadt Wien eingerichtet ist (vgl. nochmals das Erkenntnis ).

Im Hinblick darauf wurde der Beschwerdeführer durch den bekämpften Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt. Der Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. Der zugesprochene Betrag enthält Umsatzsteuer in Höhe von € 360,-- sowie den Ersatz der entrichteten Eingabengebühr (§17a VfGG) in Höhe von € 180,--.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.