OGH vom 17.08.2016, 8Ob80/16x
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann Prentner, den Hofrat Dr. Brenn und die Hofrätinnen Mag. Korn und Dr. Weixelbraun Mohr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F***** L*****, vertreten durch Mag. Anton Becker, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei S***** L*****, vertreten durch Dr. Andreas Ladstätter, Rechtsanwalt in Wien, wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 45 R 178/16h 18, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom , GZ 1 C 3/16a 6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 695,64 EUR (darin enthalten 115,94 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
Die Streitteile, beide österreichische Staatsbürger, sind miteinander verheiratet. Der letzte gemeinsame Aufenthalt hat sich in Wien befunden. Seit Juli 2013 wohnt die Klägerin dauerhaft in Indien, der Beklagte wohnt weiterhin in Wien. In Indien ist ein Scheidungsverfahren anhängig. In diesem Verfahren fordert die Klägerin auch Unterhalt für sich und beide gemeinsamen Kinder. Zu ***** des Bezirksgerichts ***** ist auch in Österreich ein Scheidungsverfahren anhängig; der hier Beklagte hat die Scheidungsklage nach § 49 EheG erhoben; die hier Klägerin erhob zu ***** eine Widerklage.
Im vorliegenden Verfahren erhob die Klägerin eine Unterhaltsklage in Form einer Stufenklage. Sie sei mit dem Beklagten aufrecht verheiratet; der Ehe entstammten zwei Kinder. Aufgrund des bedrohlichen Verhaltens des Beklagten sei sie Anfang 2013 nach Indien geflüchtet. Sie habe keinen Einblick in die Einkommensverhältnisse des Beklagten, weshalb dieser zu verpflichten sei, ab Rechnung zu legen.
Der Beklagte erhob die Einrede der internationalen Unzuständigkeit und der internationalen Streitanhängigkeit. Die Klägerin und die gemeinsamen Kinder hätten seit Juli 2013 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Indien. Die Klägerin habe vor dem indischen Gericht bereits die Scheidungsklage eingebracht, mit der sie auch Ehegattenunterhalt begehre. Dieses Verfahren sei noch streitanhängig. Die vorliegende Klage sei daher zurückzuweisen.
Das Erstgericht verwarf die Einreden des Beklagten. Die internationale Zuständigkeit sei gegeben. Auch die Scheidungsklage sei beim Erstgericht anhängig. Außerhalb des Anwendungsbereichs eigenständiger Regeln über die internationale Rechtsanhängigkeit seien die (innerstaatlichen) Regeln über die Rechts- bzw Streitanhängigkeit im Hinblick auf ausländische Verfahren nur dann anzunehmen, wenn das ausländische Urteil im Inland anerkennungsfähig sei. Mit Indien bestünden weder bilaterale noch multilaterale Verträge über die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsurteilen.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Erstgericht habe die Anerkennungsfähigkeit und Exequierbarkeit einer indischen Unterhaltsentscheidung in Österreich zutreffend verneint. Zu Art 27 EuGVVO 2001, der mit Art 12 EuUntVO ident sei, vertrete die Lehre die Meinung, dass ausnahmsweise eine Anerkennungsprognose dann stattzufinden habe, wenn sicher sei, dass die ausländische Entscheidung keine Chance auf Anerkennung in Österreich habe. Das Erstgericht habe daher zu Recht auf Basis einer negativen Anerkennungsprognose die Einrede der (internationalen) Rechtsanhängigkeit verworfen. Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil zur Frage einer Anerkennungsprognose bei Anwendung von Art 12 EuUntVO höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Beklagten, der auf eine Zurückweisung der Klage abzielt.
Mit ihrer Revisionsrekursbeantwortung beantragt die Klägerin, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts ist der Revisionsrekurs mangels Vorliegens einer entscheidungsrelevanten erheblichen Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
1. Trotz Zulässigerklärung des Revisionsrekurses durch das Rekursgericht muss der Rechtsmittelwerber eine erhebliche Rechtsfrage aufzeigen. Macht er hingegen nur solche Gründe geltend, deren Erledigung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage abhängt, so ist das Rechtsmittel unbeachtet des Zulässigkeitsausspruchs zurückzuweisen (8 Ob 111/14b).
2. Der Beklagte beruft sich auf Art 12 EuUntVO und begründend darauf, dass die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Indien habe und sie bereits vor Einleitung des hier vorliegenden Rechtsstreits in einem Verfahren in Indien gerichtlich Unterhaltsansprüche geltend gemacht habe. Dazu erachtet er – so wie offenbar auch das Rekursgericht – die Rechtsfrage als erheblich, ob die Anwendung der Regelung über die Rechtsanhängigkeit in Art 12 EuUntVO durch eine negative Anerkennungsprognose hinsichtlich des ausländischen Unterhaltstitels ausgeschlossen wird. Eine Anerkennungsprognose sei nicht durchzuführen. Allenfalls sei zu prüfen, ob eine Notzuständigkeit nach Art 7 EuUntVO bestehe. Dem in Indien eingeleiteten Verfahren könne er sich nicht entziehen.
Die als erheblich qualifizierte Frage stellt sich im vorliegenden Verfahren in Wirklichkeit nicht.
3.1 Art 12 EuUntVO enthält eine Regelung über die (internationale) Rechtsanhängigkeit. Dadurch sollen bei Klagen zwischen denselben Parteien wegen desselben Anspruchs einander widersprechende Entscheidungen ausgeschlossen werden. Dementsprechend sollen Parallelverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten vermieden werden, indem das Verfahren bei dem später angerufenen Gericht zunächst ausgesetzt wird, bis das zuerst angerufene Gericht über seine internationale Zuständigkeit entschieden hat.
3.2 Art 12 EuUntVO ist weitestgehend wortgleich mit Art 27 EuGVVO 2001 sowie inhaltsgleich mit Art 29 EuGVVO 2012 und Art 19 Brüssel IIa VO. Für die Auslegung kann demnach die umfangreiche Rechtsprechung und Literatur zu den erwähnten Bestimmungen der EuGVVO herangezogen werden ( Andrae in Rauscher , Eu ZPR/EuIPR, Art 12 EG UntVO, Rz 1).
Die in Rede stehenden Bestimmungen über die internationale Rechtsanhängigkeit gelangen – entgegen der Ansicht des Beklagten und des Rekursgerichts – nur dann zur Anwendung, wenn die zu beurteilenden (identen) Klagen vor Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten erhoben werden. Wurde eine der Klagen in einem Drittstaat anhängig gemacht, so finden – grundsätzlich, außer es bestünde eine gegenteilige Judikatur des Europäischen Gerichtshofs – die nationalen oder staatsvertraglichen Regelungen der Mitgliedstaaten über die Rechtsanhängigkeit Anwendung. Die EuGVVO und ebenso die EuUntVO zwingt die Mitgliedstaaten daher nicht zur Beachtung der Rechtsanhängigkeit in einem Drittstaat und hindert dementsprechend das später angerufene Gericht eines Mitgliedstaats nicht an einer Sachentscheidung (vgl dazu auch EuGH C 81/02, Owusu ). Eine analoge Anwendung von Art 27 EuGVVO 2001 bzw Art 12 EuUntVO kommt nicht in Betracht ( Leible in Rauscher , EuZPR/EuIPR, Art 27 Brüssel I VO, Rz 3).
3.3 Die Frage der Beachtung einer drittstaatlichen Rechtsanhängigkeit, also einer vorherigen Rechtsanhängigkeit in einem Drittstaat, richtet sich somit gegebenenfalls nach dem staatsvertraglichen Recht oder sonst nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten, konkret nach der lex fori.
3.4 Dieses Ergebnis ist auch bereits Gegenstand der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Wie schon dargelegt, enthält Art 19 Brüssel IIa VO eine inhaltsgleiche Regelung über die internationale Rechtsanhängigkeit. In der Entscheidung 8 Ob 116/11h hat der Oberste Gerichtshof dazu ausgesprochen, dass die genannte Bestimmung auf eine Rechtssache mit Drittstaatenbezug nicht zur Anwendung gelange. Wie sich schon ausdrücklich aus der Formulierung in Art 19 Abs 1 Brüssel IIa VO „bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten“ ergebe, regle Art 19 nur das Verhältnis zwischen den Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten. Die Frage, ob die Rechtsanhängigkeit in einem Drittstaat gegenüber einem inländischen Verfahren zu beachten sei, bestimme sich daher ausschließlich nach der lex fori, auch wenn sich die eigene Zuständigkeit des inländischen Gerichts (aufgrund der universellen Anwendbarkeit der Zuständigkeitstatbestände) nach der Brüssel IIa VO bestimme ( Rauscher in Rauscher , Europäisches Zivilprozessrecht 2 Art 19 Brüssel IIa VO, Rz 10, Rauscher in Rauscher , EuZPR/EuIPR, Art 19 Brüssel IIa VO, Rz 15; vgl auch 6 Ob 69/11g). Auf die Regelung der Rechtsanhängigkeit in Art 19 Brüssel IIa VO und die darin normierte Vorgangsweise (vgl 7 Ob 171/09m) könne sich die (dortige) Klägerin nicht berufen. Damit verbleibe es bei der Beurteilung der Rechtsanhängigkeit nach dem rein nationalen Verfahrensrecht.
3.5 Für den Anlassfall ergibt sich somit, dass sich der Beklagte nicht auf Art 12 EuUntVO stützen kann.
Nach Maßgabe der lex fori ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass – außerhalb des Anwendungsbereichs eigenständiger Regeln zur internationalen Rechtsanhängigkeit – nach der lex fori die Regeln über die Rechtsanhängigkeit im Hinblick auf ein ausländisches Verfahren nur dann anzuwenden sind, wenn das (zu erwartende) ausländische Urteil im Inland anerkennungsfähig wäre. Ein anhängiges ausländisches Verfahren stellt daher nur dann ein Prozesshindernis dar, wenn die ausländische Entscheidung in Österreich anerkannt und vollstreckt werden kann (RIS Justiz RS0120264).
Die Anerkennung und Vollstreckung eines Unterhaltstitels eines indischen Gerichts in Österreich scheidet aus, weil es an der formellen Gegenseitigkeit iSd § 79 Abs 2 EO mangelt.
3.6 Insgesamt ergibt sich somit, dass die Vorinstanzen die Einrede der internationalen Streitanhängigkeit des Beklagten auf der Basis gesicherter Rechtsprechungsgrundsätze zutreffend verworfen haben.
4. Soweit der Beklagte auf die Notzuständigkeit nach Art 7 EuUntVO Bezug nimmt, ist er darauf hinzuweisen, dass zwischen der Frage, ob ein Gerichtsstand nach der EuUntVO zur Bejahung der internationalen Zuständigkeit zur Verfügung steht, streng von jener der Aussetzungspflicht im Fall der internationalen Rechtsanhängigkeit zu unterscheiden ist. Der Gerichtsstand des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Beklagten (Art 3 lit a EuUntVO) verweist auf das angerufene Gericht. Entgegen der Ansicht des Beklagten kommt es auf die Frage nach der Inanspruchnahme der erwähnten Notkompetenz nicht an.
Zu der vom Beklagten aufgeworfenen Frage einer Anerkennungsprognose bei Beurteilung der internationalen Rechtsanhängigkeit nach der EuGVVO, der Brüssel IIa VO oder der EuUntVO kann, ohne dass dies hier aber eine Rolle spielen würde, auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu C 438/12, Weber (Prüfpflicht des Zweitgerichts hinsichtlich einer ausschließlichen Zuständigkeit nach Art 22 EuGVVO 2001 zufolge eines Vollstreckungshindernisses), verwiesen werden.
5. Mangels Aufzeigens einer erheblichen Rechtsfrage war der Revisionsrekurs des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 41, 50, 52 ZPO. Beim Verfahren über die internationale Rechtsanhängigkeit handelt es sich um einen selbstständigen Zwischenstreit.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:OGH0002:2016:0080OB00080.16X.0817.000