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OGH vom 23.05.2018, 10ObS41/18d

OGH vom 23.05.2018, 10ObS41/18d

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr.

Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Klaus Oblasser (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Mag. Simon Pöschl, Rechtsanwalt in Innsbruck gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 25 Rs 91/17v-24, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 16 Cgs 227/16g-15, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

1. Der ***** 1957 geborene Kläger absolvierte eine dreieinhalbjährige Lehre als Elektriker, die er mit der Lehrabschlussprüfung abschloss. Danach war er bis zum 40. Lebensjahr im Außendienst für kältetechnische Anlagen tätig. Seit 1998 geht er keiner Beschäftigung mehr nach. Im Beobachtungszeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag () war er nicht erwerbstätig.

2. Die Parteien ziehen nicht in Zweifel, dass

a) zufolge Vollendung des 50. Lebensjahres des Klägers vor dem die Bestimmung des § 253e ASVG, die mit dem SRÄG 2012, BGBl I 2013/3 mit Ablauf des aufgehoben und mit dem SVÄG 2016, BGBl I 2017/29 mit Wirksamkeit ab (§ 700 Abs 1 ASVG) in ähnlicher Art wiedereingeführt wurde, auf den Kläger weiterhin anzuwenden ist (§ 669 Abs 5 ASVG) und

b) die in § 253e Abs 1 Z 2 ASVG geregelte Voraussetzung für den Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation – das Vorliegen von mindestens 36 Pflichtversicherungsmonaten aufgrund einer Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG oder als Angestellte/r – vorliegt. Es ist weiters nicht strittig, dass der Kläger keinen Berufsschutz hat, nach seinem medizinischen Leistungskalkül noch Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben kann und daher die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit mangels Berufsunfähigkeit bzw Invalidität (zum Stichtag) nicht erfüllt. Thema des Revisionsverfahrens ist, ob der Kläger die Voraussetzungen für die Invaliditätspension iSd § 253e Abs 1 Satz 1 ASVG idF BGBl I 2010/111 wahrscheinlich erfüllt.

3. Das Berufungsgericht verneinte dies und bestätigte das Urteil des Erstgerichts, das das auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension gerichtete Klagebegehren abgewiesen hatte. Mit dem Tatbestandsmerkmal „wahrscheinlich“ komme gemäß einhelliger Lehrmeinung eine Herabstufung des Beweismaßes vom Regelbeweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit auf einen geringeren Grad der Überzeugung vom Vorliegen von Invalidität bzw Berufsunfähigkeit zum Ausdruck. Der Gesetzgeber habe aber völlig offen gelassen, welcher Status mit einer „wahrscheinlichen Invalidität/Berufsunfähigkeit“ – hierzu im Vergleich zur aufgrund fehlender Verweisbarkeit zwingend anzunehmenden Invalidität/Berufsunfähigkeit – überhaupt gemeint sein solle. Die Verweisbarkeit des Klägers auf einen zumutbaren Verweisungsberuf schließe auch eine „wahrscheinliche“ Berufsunfähigkeit des Versicherten im Sinne des eigenständigen Tatbestands aus. Es stehe nach den Feststellungen des Erstgerichts in Bezug auf künftige Entwicklungen bereits bindend fest, dass eine nachhaltige künftige Änderung – also Verbesserung oder Verschlechterung – des Leistungskalküls des Klägers aus gesamtmedizinischer Sicht nicht zu erwarten und beim Kläger künftig bei kalkülsgerechter Tätigkeit auch nicht mit sieben oder mehr Wochen betragenden Krankenständen zu rechnen sei.

Die Revision wurde zugelassen, weil sich der Oberste Gerichtshof mit der gebotenen Auslegung der alternativen Anspruchsvoraussetzungen für berufliche Rehabilitation, dass der Versicherte die Kriterien für die Invaliditäts/Berufsunfähigkeitspension „wahrscheinlich erfülle“ sowie insgesamt mit einer Konstellation wie der vorliegenden (erstmaliges Aufgreifen des Anspruchs auf berufliche Rehabilitation durch den keinen Berufsschutz genießenden Kläger im Rechtsmittel bei Versagen des Pensionsanspruchs) und beispielsweise auch mit jener Frage, welches „Qualifikationsniveau“ iSd § 253e Abs 4 ASVG für eine berufliche Rehabilitation nicht berufsgeschützter Versicherter gesetzmäßig maßgeblich sei, bislang noch nicht auseinandergesetzt habe.

Rechtliche Beurteilung

4. Die – beantwortete – Revision des Klägers ist entgegen diesem nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

5. Dass der Oberste Gerichtshof zu einer bestimmten Gesetzesbestimmung noch nicht ausdrücklich Stellung genommen hat, begründet für sich noch keine erhebliche Rechtsfrage, wenn sich die Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung aus ihrem klaren Inhalt ergibt (vgl RIS-Justiz RS0042656), und – daran anknüpfend – die Revision keine erhebliche Rechtsfrage aufzeigt.

6. § 253e Abs 1 Satz 1 ASVG idF BGBl I 2010/111 lautet:

„(1) Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation … haben versicherte Personen, wenn sie infolge ihres Gesundheitszustandes die Voraussetzungen für die Invaliditätspension (§ 254 Abs. 1) erfüllen, wahrscheinlich erfüllen oder in absehbarer Zeit erfüllen werden.“

7. Diese Bestimmung regelt nach ihrem klaren Wortlaut die drei Tatbestände „erfüllen“, „wahrscheinlich erfüllen“ „in absehbarer Zeit erfüllen werden“. Auch die Lehre differenziert zwischen den beiden letzten Tatbeständen. Nach Panhölzl (Neuregelung des Bereichs Invalidität und Rehabilitation, DRdA 2011, 309 [310]), Födermayr (SVKomm [197. Lfg] § 253e ASVG Rz 8) und Sonntag (in Sonntag, ASVG8§ 253e Rz 1a) handelt es sich beim Tatbestandsmerkmal „wahrscheinlich“ um eine Herabstufung des Beweismaßes vom Regelbeweismaß „hohe Wahrscheinlichkeit“ auf einen geringeren Grad der Überzeugung vom Vorliegen der Invalidität. Diese Unterscheidung bringt der Gesetzgeber selbst deutlich zum Ausdruck, indem er in § 253e Abs 2 ASVG im Zusammenhang mit der Eignung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation „hohe Wahrscheinlichkeit“ fordert, beim zweiten Tatbestandsmerkmal des § 253e Abs 1 Satz 1 ASVG jedoch „wahrscheinlich“ genügen lässt. Von dieser Interpretation geht auch der Revisionswerber aus.

8. Invalidität (oder Berufsunfähigkeit) liegt nach der ständigen Rechtsprechung vor, wenn die infolge des vorhandenen Leidens zu erwartenden Krankenstände mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest sieben Wochen jährlich erreichen (RIS-Justiz RS0084429 [T3]). Nach den Feststellungen der Vorinstanzen ist der gegenwärtige Gesundheitszustand des Klägers durch zumutbare Therapien verbesserbar, eine nachhaltige Änderung im Leistungskalkül ist dadurch jedoch nicht zu erreichen. Aufgrund der diagnostizierten Gesundheitsstörung sind mit hoher Wahrscheinlichkeit regelmäßige Krankenstände im Ausmaß von sieben oder mehr Wochen pro Jahr nicht zu erwarten.

9. Der Kläger interpretiert die zuletzt genannte Feststellung zur prognostizierten Dauer regelmäßiger Krankenstände – seiner Ansicht nach gerechtfertigt durch einen Umkehrschluss – so, dass regelmäßige Krankenstände im Ausmaß von sieben oder mehr Wochen pro Jahr nicht auszuschließen, also mit einiger Wahrscheinlichkeit doch zu erwarten sind, was für die wahrscheinliche Erfüllung der Voraussetzungen iSd § 253e Abs 1 Satz 1 zweiter Fall ASVG ausreichen soll.

10. Der gezogene Umkehrschluss ist jedoch nicht gerechtfertigt. Die gewünschte Interpretation der erstinstanzlichen Feststellungen kommt nicht in Betracht. Unter dem Begriff „hohe Wahrscheinlichkeit“ versteht die Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Vorliegen von Invalidität/Berufsunfähigkeit den Regelbeweis im Sinn der ZPO (10 ObS 102/15w, RIS-Justiz RS0130217 [T3]). Dieses Beweismaß liegt unter der „mit an Sicherheit geltenden Wahrscheinlichkeit“, die nur in den Fällen eines erhöhten Regelbeweismaßes erforderlich ist (RIS-Justiz RS0110701), sowie über der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ (2 Ob 97/11w; RIS-Justiz RS0110701 [T7]). Letztere lässt der Oberste Gerichtshof beispielsweise genügen, wenn ein Anleger behauptet, durch das Unterlassen pflichtgemäßen Handelns geschädigt worden zu sein: Der (Kausalzusammenhang mit dem) Eintritt des Schadens muss lediglich „plausibel“ gemacht werden (2 Ob 17/13h mwN; 9 Ob 26/14k mwN; RIS-Justiz RS0110701 [T11, T 13, T 14]).

11. Mit der Feststellung, dass jährliche Krankenstände von sieben oder mehr Wochen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten sind, steht als Tatsache im Sinn des Regelbeweises fest, dass dieses Ereignis nicht eintreten wird. Eine nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossene (hypothetische) Möglichkeit ist auch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch einem wahrscheinlichen Eintritt nicht gleichzusetzen: Der Begriff „wahrscheinlich“ beinhaltet die Forderung, dass gewisse Anhaltspunkte vorliegen müssen, um mit dem Eintritt dieses Ereignisses rechnen zu können.

12. Nach den Feststellungen des Erstgerichts gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass bei Ausübung einer Verweisungstätigkeit aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die der Kläger nach seinem medizinischen Leistungskalkül noch ausüben kann, Krankenstände von sieben Wochen oder mehr pro Jahr entsprechend dem klaren Wortlaut des § 253e Abs 1 Satz 1 ASVG „wahrscheinlich“ sind. Konkrete Indizien für die Wahrscheinlichkeit einer derartigen Prognose nennt auch der Revisionswerber nicht. Seine Argumentation beschränkt sich auf einen aus den erstinstanzlichen Feststellungen gezogenen Umkehrschluss, der jedoch – wie erwähnt – nicht gerechtfertigt ist. Die übrigen im Zulassungsausspruch erwähnten Fragen stellen sich schon deshalb nicht.

13. Die Revision des Klägers ist aus diesen Erwägungen zurückzuweisen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00041.18D.0523.000

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