OGH vom 25.01.2011, 8Ob50/10a
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden und durch den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann Prentner, sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Antragstellerin mj V***** W*****, vertreten durch die Mutter M***** W*****, diese vertreten durch Dr. Helene Klaar, Mag. Norbert Marschall, Rechtsanwälte OG in Wien, gegen den Antragsgegner KR Senator h. c. A***** T*****, vertreten durch Prof. Mag. Helmut Kröpfl, Rechtsanwalt in Jennersdorf, wegen Unterhalts, über die Revisionsrekurse beider Parteien gegen den Beschluss des Landesgerichts Leoben als Rekursgericht vom , GZ 2 R 61/10k 51, womit über Rekurse beider Parteien der Beschluss des Bezirksgerichts Bruck an der Mur vom , GZ 3 P 203/08z-43 bestätigt wurde, folgenden
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revisionsrekurse beider Parteien werden zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der unterhaltspflichtige Vater ist, ausgehend von einer monatlichen Unterhaltsbemessungsgrundlage für das Jahr 2008 in Höhe von 10.229,11 EUR, zu monatlichen Unterhaltszahlungen von 832,50 EUR an die Antragstellerin, seine Tochter, verpflichtet. Soweit für das Revisionsrekursverfahren noch von Bedeutung, verpflichtete das Erstgericht den Vater, an Sonderbedarf für Kosten einer Zahnregulierung, von ICP-Schuhen und eines Rollstuhls insgesamt 2.737,25 EUR zu bezahlen. Es wies das Mehrbegehren auf Zahlung eines weiteren Sonderbedarfs für Kosten eines Bowlingtrainings samt Verdienstentgang und von Schulschikursen ab. Das Rekursgericht, das den Rekursen beider Parteien gegen diesen Beschluss keine Folge gab, sprach aus, dass der Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Berücksichtigung erhöhter Familienbeihilfe wegen Behinderung bei der Entscheidung über die Sonderbedarfskosten fehle und der Anspruch des Kindes auf Sonderbedarf im Hinblick auf seine Behinderung und die hohe Unterhaltsbemessungsgrundlage auch anders beurteilt werden könne.
Gegen diese Entscheidung richten sich die Revisionsrekurse der Tochter und des Vaters.
Die Tochter beantragte, dem Revisionsrekurs des Vaters nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revisionsrekurse beider Parteien sind entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig .
A) Zum Revisionsrekurs der Tochter:
1. Unter Sonderbedarf versteht man jenen - den Regelbedarf übersteigenden - Bedarf, der dem Unterhaltsberechtigten infolge Berücksichtigung der bei der Ermittlung des Regelbedarfs bewusst außer Acht gelassenen Umstände erwächst (RIS-Justiz RS0047564, zuletzt 3 Ob 144/10p). Dagegen ist Regelbedarf jener Bedarf, den jedes Kind einer bestimmten Altersstufe in Österreich ohne Rücksicht auf die konkreten Lebensverhältnisse seiner Eltern an Nahrung, Kleidung, Wohnung und zur Bestreitung der weiteren Bedürfnisse, wie etwa kultureller und sportlicher Betätigung, sonstiger Freizeitgestaltung und Urlaubs, hat (RIS-Justiz RS0047531). Der Sonderbedarf betrifft inhaltlich hauptsächlich die Erhaltung der (gefährdeten) Gesundheit, die Heilung einer Krankheit und die Persönlichkeitsentwicklung (insbesondere Ausbildung, Talentförderung und Erziehung) des Kindes; eine generelle Aufzählung all dessen, was als Sonderbedarf anzuerkennen ist, ist kaum möglich (RIS-Justiz RS0107180). Er ist durch die Momente der Außergewöhnlichkeit, Dringlichkeit und Individualität gekennzeichnet und fällt bei der Mehrzahl der unterhaltsberechtigten Kinder regelmäßig nicht an (RIS-Justiz RS0107180 [T3]).
2. Nach ständiger Rechtsprechung sind Schulschikurskosten grundsätzlich kein Sonderbedarf, weil sie für die Mehrzahl der unterhaltsberechtigten Kinder anfallen und daher nicht von den Momenten der Außergewöhnlichkeit und Individualität geprägt sind (7 Ob 2123/96y, RIS-Justiz RS0102068). Ob dies im hier konkret zu beurteilenden Einzelfall allenfalls anders gesehen werden müsste, kann dahingestellt bleiben:
2.1 Auch im Bereich des vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahrens außer Streitsachen sind subjektive Behauptungs- und Beweislastregeln jedenfalls dann heranzuziehen, wenn über vermögensrechtliche Ansprüche, in denen sich die Parteien in verschiedenen Rollen gegenüberstehen, zu entscheiden ist (RIS-Justiz RS0006261). Jeder Beteiligte ist verpflichtet, die für seinen Standpunkt maßgeblichen Umstände schon im Verfahren erster Instanz (RIS-Justiz RS0006790) zu behaupten und unter Beweis zu stellen. Die Behauptungs- und Beweispflicht für den Ausnahmecharakter des Sonderbedarfs trifft den Unterhaltsberechtigten (RIS-Justiz RS0109908 [T8]).
2.2 Im Verfahren erster Instanz brachte die Tochter lediglich vor, dass ihr im Zusammenhang mit einem Schulschikurs Sonderbedarf entstanden sei. Neben den Schikurskosten habe sie die Liftkarte gezahlt. Außerdem habe sie eine Reihe von Heilbehelfen für das Schifahren benötigt (wie beispielsweise einen Rollstuhl, einen Rollator, Vierpunktstöcke), die von der Mutter ins Schigebiet transportiert worden seien, weil der Aufwand für den Lehrkörper zu groß gewesen wäre. Dabei seien der Mutter Benzinkosten von 120 EUR und Kosten von 100 EUR für Zeitaufwand angefallen.
2.3 Erstmals im Rekurs gegen den Beschluss des Erstgerichts brachte die Tochter vor, dass sie einen Schilehrer bezahlen habe müssen, der sich nur um sie gekümmert habe. Gemäß § 49 Abs 2 AußStrG können Neuerungen nur insoweit geltend gemacht werden, als das Unterlassen des Vorbringens im Verfahren erster Instanz eine entschuldbare Fehlleistung bildet. Der Rechtsmittelwerber hat die Zulässigkeit der Neuerungen zu behaupten und schlüssig darzulegen, dass die Verspätung (Unterlassung) des Vorbringens auf einer entschuldbaren Fehlleistung beruht (RIS-Justiz RS0120290). Dahingehende Behauptungen hat die Tochter aber gar nicht aufgestellt. Das Rekursgericht ordnete zwar unter Hinweis auf vorgelegte Rechnungen den erstmals im Rekurs geltend gemachten Betrag einer entsprechenden Rechnung zu; diese Ausführungen sind jedoch, weil ihnen kein entsprechendes erstinstanzliches Vorbringen zu Grunde liegt, überschießend und daher im konkreten Fall unbeachtlich.
2.4 Den schon in erster Instanz geltend gemachten Anspruch auf Ersatz der durch den Transport der benötigten Heilbehelfe entstandenen Benzinkosten verneinte das Rekursgericht mit der Begründung, dass dieser Aufwand durch das von der Tochter bezogene Pflegegeld abgedeckt sei. Mit ihren dagegen im Revisionsrekurs erhobenen Einwänden zeigt die Revisionsrekurswerberin keine erhebliche Rechtsfrage auf: Die Tochter bezieht Pflegegeld der Stufe 5 nach dem StmkPGG. Der durch das Pflegegeld abgedeckte Pflegebedarf setzt sich aus Betreuung und Hilfe zusammen. Nach § 2 Abs 1 EinstV zum BPGG (ebenso § 2 Abs 1 EinstV zum StmkPGG) sind unter Hilfe aufschiebbare Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind. Dazu gehört auch die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn (§ 2 Abs 2 EinstV bzw § 2 Abs 2 EinstV zum StmkPGG). Darunter ist die Begleitung des Pflegebedürftigen bei unbedingt erforderlichen Verrichtungen außer Haus zu verstehen. Sie umfasst insbesondere die Begleitung zum Arzt, zur Therapie, zu Behörden oder Banken, aber auch zu kulturellen Veranstaltungen oder auch die Begleitung behinderter Kinder oder Jugendlicher zur Schule (RIS-Justiz RS0058305; Greifeneder/Liebhart , HB Pflegegeld² Rz 482). Bei der Auslegung des Begriffs „Mobilitätshilfe im weiteren Sinn“ ist daher ein eher großzügiges Verständnis geboten (10 ObS 10/08f). Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist die rechtliche Beurteilung des Rekursgerichts, dass die der Mutter infolge entstandenen Kosten für Benzin und Transport durch das Pflegegeld abgedeckt sind, im hier zu beurteilenden Einzelfall jedenfalls vertretbar. Kosten für Zeitaufwand der Mutter macht die Tochter im Revisionsrekursverfahren nicht mehr als Sonderbedarf geltend.
2.5 Das Rekursgericht bestätigte schließlich die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass die von der Tochter (nicht beziffert) geltend gemachten Kosten für eine Liftkarte nicht als Sonderbedarf anzusehen seien. Diese Rechtsansicht wird im Revisionsrekurs der Tochter lediglich mit der formelhaften Behauptung bekämpft, es handle sich bei diesen Kosten dennoch um Sonderbedarf. Die Rechtsrüge ist bezogen auf diesen gesondert beurteilbaren Aspekt daher nicht gesetzmäßig ausgeführt (RIS-Justiz RS0043654; RS0043338), sodass eine erhebliche Rechtsfrage nicht vorliegt.
3. Die vom Erstgericht vertretene Rechtsansicht, dass Kosten des Bowling-Trainings der Tochter keinen Sonderbedarf darstellen, hat die Tochter im Rekurs gegen dessen Beschluss nicht bekämpft. Eine im Verfahren zweiter Instanz unterlassene Rechtsrüge kann jedoch in dritter Instanz auch im Außerstreitverfahren nicht mehr nachgeholt werden (RIS-Justiz RS0043480 [T12]).
B) Zum Revisionsrekurs des Vaters:
1. Dass die Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung (Zahnspange) sowie die Kosten für die von der Tochter benötigten ICP-Schuhe und der Restbetrag für den Rollstuhl Sonderbedarf darstellen, wird vom Vater gar nicht bestritten. Ob ein solcher Sonderbedarf vom Unterhaltspflichtigen zu decken ist, hängt davon ab, wovon dieser Sonderbedarf verursacht wurde (vgl RIS-Justiz RS0047560) und ob er dem Unterhaltspflichtigen angesichts der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern des Kindes zumutbar ist (RIS-Justiz RS0107179). Betrifft der Sonderbedarf - wie hier - die Gesundheit, ist er als deckungspflichtig anzuerkennen (RIS-Justiz RS0047560). Maßgeblich sind immer die Umstände des Einzelfalls (RIS Justiz RS0053263).
2. Zutreffend hat das Rekursgericht dargestellt, dass nach ständiger Rechtsprechung die Abgeltung eines Sonderbedarfs zwar Ausnahmecharakter hat und regelmäßig nur bei einem „Deckungsmangel" berücksichtigt wird. Ein Deckungsmangel liegt dann vor, wenn der Sonderbedarf nicht aus der Differenz zwischen dem bereits festgesetzten, den Allgemeinbedarf deckenden Unterhalt und dem Regelbedarf bestritten werden kann (9 Ob 47/06m ua). Erhält jedoch der Unterhaltsberechtigte lediglich deshalb Unterhaltsbeiträge, die nicht der vollen Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen entsprechen, weil er schon die Luxusgrenze erreicht hat, muss der Sonderbedarf nach neuerer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (6 Ob 230/08d mwH; RS0047525 [T8]) zusätzlich zugesprochen werden, weil bei einer solchen Konstellation das Argument der nicht zu billigenden Überalimentierung des Unterhaltsberechtigten ins Leere ginge. Leistungen aus dem Titel des Sonderbedarfs sind nämlich zweckbestimmt und stehen nicht zur freien Verfügung des Unterhaltsberechtigten ( Schwimann/Kolmasch , Unterhaltsrecht 5 101 f). Diese Rechtsprechung hat das Rekursgericht im konkreten Fall in jedenfalls vertretbarer Weise angewandt.
3. In diesem Zusammenhang wendet sich der Vater gegen die vom Rekursgericht vertretene Auffassung, dass die Tochter voraussichtlich dauernd außer Stande sei, sich selbst Unterhalt zu verschaffen. Der Vater führt lediglich aus, dass entgegen der Rechtsansicht des Rekursgerichts die Tochter einmal selbsterhaltungsfähig sein werde. Daraus leitet er ab, dass die für sie gezahlte erhöhte Familienbeihilfe bei der Abgeltung des Sonderbedarfs zu berücksichtigen sei. Die Tochter beziehe überdies Pflegegeld und könne den Sonderbedarf aus dem ihr regelmäßig gezahlten Unterhalt bestreiten. Damit zeigt der Vater aber keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung des Rekursgerichts auf.
3.1 Das Pflegegeld steht lediglich zur Finanzierung des pflegebedingten Mehraufwands zur Verfügung, nicht aber wird der behinderungsbedingte Sachaufwand dadurch abgedeckt (RIS-Justiz RS0013477). Der dem Kind monatlich zukommende Betrag an Pflegegeld kann daher nicht auf den hier zu beurteilenden Sonderbedarf angerechnet werden (6 Ob 591/95). Diese Rechtsprechung hat das Rekursgericht zutreffend dargestellt. Mit der bloßen Behauptung, dass er aufgrund des Bezugs von Pflegegeld nicht verpflichtet sei, den von der Tochter hier begehrten Sonderbedarf abzugelten, zeigt der Vater keine erhebliche Rechtsfrage auf.
3.2 Zweck der Familienbeihilfe ist gemäß § 1 FamLAG die Herbeiführung eines Lastenausgleichs im Interesse der Familie (RIS-Justiz RS0058747). Die Familienbeihilfe soll den Mindestunterhalt des Kindes gewährleisten und gleichzeitig die Eltern von ihrer Unterhaltspflicht entlasten. Sie hat anders als das Pflegegeld, welches der Finanzierung des pflegebedingten Mehraufwands dient, den Charakter einer Betreuungshilfe (8 Ob 27/09t; RIS Justiz RS0047813). Durch die Leistung der Familienbeihilfe (und des Kinderabsetzbetrags) soll die von der Verfassung geforderte steuerliche Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen für den Regelfall in Form von Transferleistungen erfolgen, während die Berücksichtigung atypischer Aufwendungen in den durch § 34 EStG 1988 gezogenen Grenzen als außergewöhnliche Belastung zusätzlich möglich ist (8 Ob 27/09t unter Hinweis auf ; vgl § 34 Abs 7 Z 1 EStG). Die vom Gesetzgeber vorgesehene Entlastung des Unterhaltspflichtigen erfolgt nach der ständigen Rechtsprechung durch die Kürzung des Geldunterhalts um jenen Teil der Familienbeihilfe, der zur steuerlichen Entlastung des Geldunterhaltspflichtigen bestimmt ist (RIS-Justiz RS0117016; 4 Ob 215/09k). Nichts anderes kann für die gemäß § 8 Abs 4 bis 6 FamLAG erhöhte Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder gelten. Dieser Rechtslage und der dazu ergangenen Rechtsprechung entspricht die Entscheidung des Rekursgerichts zumindest im Ergebnis. Auf die sowohl vom Rekursgericht als auch vom Vater (auch unter dem Rekursgrund der Aktenwidrigkeit) angstellten Überlegungen, ob die Tochter in Zukunft jemals selbsterhaltungsfähig sein wird, kommt es dabei nicht an. Der Vater zeigt daher keine erhebliche Rechtsfrage auf.
3.3 Dass sich der Vater nicht mit Erfolg auf den von ihm geleisteten laufenden Unterhaltsbetrag berufen kann, ergibt sich bereits aus den oben angestellten Überlegungen.
3.4 Insgesamt zeigt er daher keine erhebliche Rechtsfrage auf, sodass sein Rechtsmittel unzulässig ist.