OGH vom 12.04.2012, 10ObS33/12v
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Susanne Jonak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Univ. Prof. Dr. Christian Rabl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 121/11d 12, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom , GZ 27 Cgs 337/10m 6, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten der Rekursbeantwortung sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der am geborene Kläger leistete nach Abschluss seiner Schulausbildung (Absolvierung der Reifeprüfung) in der Zeit vom bis seinen ordentlichen Zivildienst beim Verein K*****. Er erwarb in dieser Zeit insgesamt 11 Ersatzmonate in der Pensionsversicherung aufgrund seiner Zivildienstleistung. Weitere Versicherungsmonate in der Pensionsversicherung liegen beim Kläger nicht vor.
Die beklagte Partei lehnte mit Bescheid vom den Antrag des Klägers von auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension mit der Begründung ab, dass er keine qualifizierte Beschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeübt habe und eine Beurteilung seiner Berufsunfähigkeit daher nicht möglich sei.
Das Erstgericht wies das dagegen vom Kläger erhobene und auf die Gewährung der abgelehnten Leistung ab gerichtete Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen unstrittigen Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht dahin, dass der Kläger vor bzw nach dem Zivildienst weder Beitrags noch Ersatzzeiten erworben habe, weshalb die Zeiten der nachgewiesenen Zivildienstleistung nicht als Versicherungszeiten iSd § 236 Abs 4 Z 3 ASVG gewertet werden könnten. Der Kläger erfülle somit nicht die erforderliche Wartezeit im Sinne der zitierten Gesetzesstelle, weshalb sein Klagebegehren schon aus diesem Grund nicht berechtigt sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers dahin Folge, dass es das Ersturteil aufhob und die Sozialrechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwies. Nach seinen wesentlichen Rechtsausführungen sei die Wartezeit für eine Leistung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit gemäß § 236 Abs 4 Z 3 ASVG auch dann erfüllt, wenn der Versicherungsfall vor der Vollendung des 27. Lebensjahres des Versicherten eingetreten ist und bis zu diesem Zeitpunkt mindestens sechs Versicherungsmonate, die nicht auf einer Selbstversicherung gemäß § 16a beruhen, erworben sind. Gemäß § 224 ASVG seien unter Versicherungszeiten die in den §§ 225 und 226 angeführten Beitragszeiten und die in den §§ 227 bis 229 angeführten Ersatzzeiten zu verstehen. Bei den Zivildienstzeiten des Klägers handle es sich um Ersatzzeiten iSd § 227 Abs 1 Z 7 und 8 ASVG, weshalb der Kläger die Wartezeit iSd § 236 Abs 4 Z 3 ASVG erfülle. Diese Bestimmung solle Personen begünstigen, die in jungen Jahren (vor Erreichung des 27. Lebensjahres) invalid bzw berufsunfähig werden, weshalb bei ihnen das Vorliegen von sechs Versicherungsmonaten, also auch von sechs Ersatzmonaten, für die Erfüllung der Wartezeit ausreiche. Das Erstgericht werde daher im fortzusetzenden Verfahren im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers, er leide an einer schizoaffektiven Psychose, stehe daher seit 2005 in regelmäßiger fachärztlicher Behandlung und könne keiner geregelten Arbeit nachgehen, nähere Feststellungen über den Gesundheitszustand des Klägers zu treffen haben.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage vorliege, ob die Wartezeit gemäß § 236 Abs 4 Z 3 ASVG allein durch den Erwerb von Ersatzzeiten infolge Ausübung des Zivildienstes erfüllt werde.
Gegen diesen Aufhebungsbeschluss richtet sich der Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrag, die klagsabweisende Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.
Der Kläger beantragt in seiner Rekursbeantwortung, das Rechtsmittel der beklagten Partei zurückzuweisen bzw ihm keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.
Die beklagte Partei machte im Wesentlichen geltend, die Wartezeit nach § 236 Abs 4 Z 3 ASVG könne nicht allein durch Ersatzzeiten des Zivildienstes erfüllt werden. Anders als in der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung 10 ObS 69/90(SSV NF 4/53) liege im gegenständlichen Fall keine Beitragszeit vor. Darüber hinaus habe sich der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach mit der Frage beschäftigt, inwieweit eine Leistung aus der Sozialversicherung einen gewissen Bezug zur Sozialversicherung erfordere. Danach könnten für die Beurteilung des Tätigkeitsschutzes oder eines besonderen Berufsschutzes nach § 255 Abs 4 ASVG nur Monate einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit berücksichtigt werden. Auch der Wortlaut des § 255 Abs 3 ASVG stelle darauf ab, dass der Versicherte infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr im Stande sei, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet werde und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden könne, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlicher und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Auch in der Bestimmung des § 273 ASVG finde sich als Anspruchsvoraussetzung für die Erlangung einer Pensionsleistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit die Notwendigkeit des Herabsinkens der Arbeitsfähigkeit des Versicherten. Es müsse somit einer über die Geringfügigkeitsgrenze hinaus ausgeübten Erwerbstätigkeit nachgegangen worden sein, um einen möglichen Anspruch auf eine Invaliditätspension bzw Berufsunfähigkeitspension zu begründen. Da mit der Ersatzzeitenregelung des § 227 Abs 1 Z 7 und 8 ASVG allein ein Vergleich des Gesundheitszustands des Klägers bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu dem späteren herabgesunkenen Zustand nicht hergestellt werden könne, fehle eine wesentliche Voraussetzung für den Eintritt des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit.
Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:
1. Nach § 236 Abs 4 Z 3 ASVG ist die Wartezeit für eine Leistung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit auch dann erfüllt, wenn der Versicherungsfall vor der Vollendung des 27. Lebensjahres des Versicherten eingetreten ist und bis zu diesem Zeitpunkt mindestens sechs Versicherungsmonate, die nicht auf einer Selbstversicherung gemäß § 16a beruhen, erworben sind.
1.1 Diese zunächst nur für Versicherte unter 21 Jahren geltende Bestimmung wurde durch die 9. ASVG Novelle (vgl § 235 Abs 3 lit b ASVG idF BGBl 1962/13) geschaffen und sollte dieser Personengruppe, die die sonst vorgeschriebene Wartezeit vielfach schon altersmäßig nicht erreichen kann, einen besonderen Schutz gewähren. Durch die 41. ASVG Novelle (BGBl 1986/111) wurde die Altersgrenze von 21 Jahren, um den Versicherungsschutz eines Behinderten im Zusammenhang mit seinen Bestrebungen nach beruflicher Eingliederung zu verbessern, auf das 27. Lebensjahr angehoben (vgl 10 ObS 26/90, SSV NF 4/60). Durch die 50. ASVG Novelle (BGBl 1991/676) wurde festgelegt, dass für die Erfüllung der Wartezeit (§§ 235 Abs 2 und 3 lit b, 236 Abs 4 ASVG) Zeiten einer Selbstversicherung nach § 16a ASVG nicht herangezogen werden sollen, da ihr Hauptzweck darin liegt, die Voraussetzungen für eine Weiterversicherung in der Pensionsversicherung zu schaffen. Mit der 55. ASVG Novelle (BGBl 1998/138) wurde die Begünstigung hinsichtlich der Wartezeit für in jungen Jahren invalid bzw berufsunfähig gewordene Personen in § 236 Abs 4 Z 3 ASVG in Form einer sogenannten „ewigen Anwartschaft“ geregelt. Danach ist die Wartezeit jedenfalls auch dann erfüllt (und bleibt der Pensionsanspruch gewahrt), wenn der Versicherungsfall vor dem 27. Geburtstag eingetreten ist und der Versicherte bis zur Erreichung dieses Alters die besagten sechs Versicherungsmonate aufweist, gleichgültig, wann der Pensionsantrag gestellt wird (vgl RV 1234 BlgNR 20. GP 36).
1.2 Es hat bereits das Berufungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass unter Versicherungszeiten die in den §§ 225 und 226 angeführten Beitragszeiten, aber auch die in den §§ 227 bis 229 angeführten Ersatzzeiten zu verstehen sind (§ 224 ASVG). Für die Erfüllung der Wartezeit (§ 236 ASVG) sind daher Beitragszeiten und Ersatzzeiten gleichermaßen zu berücksichtigen. Bei Ersatzzeiten handelt es sich in der Regel um Zeiten, während derer der Versicherte aus verschiedenen vom Gesetzgeber anerkannten Gründen nicht in der Lage war, Beiträge zu entrichten, etwa weil er wegen Schulausbildung, Entbindung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Präsenz oder Zivildienst zur Beitragsleistung nicht im Stande war (RIS Justiz RS0084574). Die Ersatzzeiten führen nicht nur zu höheren Pensionsleistungen für die Leistungsbezieher, sondern durch die Anrechnung von Ersatzzeiten wird vielen Personen ein früherer Pensionsantritt oder in seltenen Fällen sogar erst die Inanspruchnahme einer Leistung ermöglicht, da die Ersatzzeiten bei der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen im Allgemeinen mitberücksichtigt werden ( Stefanits/Mayer Schulz , Die Anrechnung beitragsfreier Ersatzzeiten in der gesetzlichen Pensionsversicherung, SozSi 2001, 14 ff [23]).
1.3 Die für die Erfüllung der Wartezeit nach § 236 Abs 4 Z 3 ASVG erforderlichen sechs Versicherungsmonate können daher Beitragszeiten, aber auch Ersatzzeiten sein. Auch Ersatzmonate fallen unter den Begriff der „Versicherungsmonate“ (vgl Radner/Gahleitner ua, BSVG³ Anm 19a zur gleichlautenden Bestimmung des § 111 Abs 6 Z 3 BSVG). In diesem Sinne hat auch der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 90/97a(SSV NF 11/47) die Wartezeit bei Vorliegen von nur einem Monat der Pflichtversicherung und 16 Monaten an Ersatzzeiten als erfüllt angesehen.
1.4 Von der beklagten Partei wird in den Revisionsausführungen zu Recht nicht mehr in Zweifel gezogen, dass es sich bei den Zivildienstzeiten des Klägers um Ersatzzeiten iSd § 227 Abs 1 Z 7 und 8 ASVG handelt. Es hat ebenfalls bereits das Berufungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass der Halbsatz in § 227 Abs 1 Z 7 ASVG „in dem Zweig der Pensionsversicherung, in dem die letzte vorangegangene Beitragszeit vorliegt“ bzw in § 227 Abs 1 Z 8 ASVG „in dem Zweig der Pensionsversicherung, in dem die erste nachfolgende Beitrags oder Ersatzzeit vorliegt“ nur die Zuordenbarkeit der Ersatzzeit zu einem Zweig der Pensionsversicherung bezweckt. Die Zeiten eines Zivildienstes können aber nicht den Charakter einer Ersatzzeit verlieren, weil sich diese Ersatzzeit keinem Zweig der Pensionsversicherung zuordnen lässt (vgl 10 ObS 69, 75, 76/90, SSV NF 4/53). Das Vorliegen von 11 Ersatzmonaten in der Pensionsversicherung aufgrund der Zivildienstleistung des Klägers wurde auch von der beklagten Partei im Anstaltsverfahren anerkannt. Damit sind aber diese Ersatzmonate, die der Kläger vor Erreichung seines 27. Lebensjahres erworben hat, als Versicherungsmonate zu berücksichtigen, weshalb der Kläger nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts die Wartezeit iSd § 236 Abs 4 Z 3 ASVG für die von ihm aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit begehrte Pensionsleistung erfüllt, auch wenn keine Beitragszeiten vorliegen.
2. Den weiteren Ausführungen der beklagten Partei in ihrer Revision kommt jedoch für das fortzusetzende Verfahren insoweit Berechtigung zu, als der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit sowohl nach § 255 ASVG wie auch nach § 273 ASVG voraussetzt, dass sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn seiner Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat. Für die Beurteilung des vorliegenden Falls ist daher entscheidungswesentlich, ob der Kläger ursprünglich arbeitsfähig gewesen ist, seine Arbeitsfähigkeit jedoch durch eine nachträglich eingetretene Verschlechterung beeinträchtigt („herabgesunken“) worden ist. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit führen (10 ObS 279/97w, SSV NF 11/117; 10 ObS 90/97a, SSV NF 11/47; 10 ObS 26/90, SSV NF 4/60 ua; vgl aber auch § 255 Abs 7 ASVG).
2.1 Als Beginn des Eintritts in das Versicherungsverhältnis ist hiebei bei einem Versicherten wie dem Kläger auf den Beginn des Zivildienstes abzustellen. Ergibt sich im weiteren Verfahren, dass im Hinblick auf den noch festzustellenden Gesundheitszustand des Klägers der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Invalidität oder der Berufsunfähigkeit schon für einen Zeitpunkt wenige Monate nach Zurücklegung der gesetzlichen Mindestzahl von sechs Versicherungsmonaten von Anfang an medizinisch vorhersehbar war, dann müsste im Sinne der oben dargelegten Ausführungen davon ausgegangen werden, dass der Kläger von Anfang an als nicht arbeitsfähig angesehen werden konnte und die Arbeitsfähigkeit des Klägers auch nicht „herabsank“, als die von Anfang an voraussehbaren und latent vorhandenen Beschwerden zunahmen. Bestand daher schon bei Antritt des Zivildienstes durch den Kläger die Gewissheit, dass schon nach kurzer Zeit Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Invalidität oder der Berufsunfähigkeit eintreten wird, so entsteht kein Anspruch auf Invaliditätspension oder Berufsunfähigkeitspension, wenn dieser Zustand in der Folge tatsächlich eintritt (10 ObS 26/90, SSV NF 4/60). Die objektive Beweislast dafür, dass die Arbeitsfähigkeit herabgesunken ist, trifft den Versicherten (10 ObS 168/02g, SSV NF 16/66).
2.2 Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren den Sachverhalt auch im aufgezeigten Sinn mit den Parteien zu erörtern und dazu entsprechende Feststellungen zu treffen haben. Erst nach Vorliegen der erforderlichen Feststellungen kann zu diesen Fragen abschließend Stellung genommen werden.
Dem Rekurs der beklagten Partei gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts musste daher ein Erfolg versagt bleiben.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.