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OGH vom 24.05.2016, 11Os51/16h

OGH vom 24.05.2016, 11Os51/16h

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Mag. Michel als weitere Richter in Gegenwart des Richters Mag. Einberger als Schriftführer in der Strafsache gegen N***** L***** wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1, Z 2, Abs 4 erster Fall FPG über die Grundrechtsbeschwerde der A***** P***** gegen die prozessleitende Verfügung des Landesgerichts Wels als Schöffengericht vom , GZ 7 Hv 25/16k 42, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

A***** P***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Die angefochtene prozessleitende Verfügung wird aufgehoben.

Dem Bund wird der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

Mit prozessleitender Verfügung des Landesgerichts Wels als Schöffengericht wurde in der Hauptverhandlung am über die Zeugin A***** P***** gemäß § 93 Abs 2, Abs 4 StPO das Beugemittel der „Beugehaft“ in der Dauer von vier Wochen, beginnend mit , 11:00 Uhr, verhängt (ON 41 S 21 f, ON 42).

Nach der Begründung habe P***** den Angeklagten N***** L***** im Ermittlungsverfahren belastet, in der gegen diesen durchgeführten Hauptverhandlung, in der sie nach Belehrung gemäß § 157 Abs 1 Z 1 StPO als Zeugin vernommen werden sollte, aber ihre Angaben widerrufen und sich geweigert, weiter auszusagen. Ein Aussageverweigerungsrecht stehe ihr jedoch nur zu, soweit sie sich über ihre bisherige Aussage hinaus selbst belaste. Aufgrund der dem Angeklagten zur Last gelegten strafbaren Handlungen sei die Beugehaft verhältnismäßig und die Aussage der Zeugin für die Aufklärung der Sache erforderlich. Ein wichtiger Fall liege aufgrund der den Angeklagten L***** betreffenden Strafdrohung einer Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren vor.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die rechtzeitig eingebrachte Grundrechtsbeschwerde P*****s, in der sie aufgrund ihres eigenen, im Stadium der Hauptverhandlung befindlichen Strafverfahrens und der sich überschneidenden Anklagevorwürfe sowie aufgrund des Widerrufs ihrer bisherigen Aussagen das Recht der Aussageverweigerung gemäß § 157 Abs 1 Z 1 StPO behauptet. Weiters kritisiert sie die Annahme eines wichtigen Falls im Sinn des § 93 Abs 4 StPO und behauptet Unverhältnismäßigkeit der Beugehaft.

Zur Frage der Zulässigkeit der Grundrechtsbeschwerde ist vorauszuschicken, dass nach § 248 Abs 1 StPO bei der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen in der Hauptverhandlung grundsätzlich nach den für Vernehmungen im Ermittlungsverfahren geltenden Bestimmungen vorzugehen ist. Das Gericht ist unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit (§§ 5 Abs 3, 93 Abs 1, Abs 4 [„in wichtigen Fällen“]) ermächtigt, Zeugen, die unberechtigt die Aussage verweigern, durch Beugemittel (§ 93 Abs 4 StPO) anzuhalten, ihrer Aussageverpflichtung (§ 154 Abs 2 StPO) nachzukommen. Eine in der Hauptverhandlung getroffene Entscheidung solchen Inhalts ist als prozessleitende Verfügung grundsätzlich nicht selbstständig anfechtbar. Für Zeugen kann zudem aus der (ungeachtet § 87 StPO vom Gesetzgeber mittels Neuregelung [BGBl I 2007/93] geschaffenen) expliziten Ausnahmeregelung des § 243 Abs 1 StPO geschlossen werden, dass ihnen in allen anderen Belangen in der Hauptverhandlung kein Beschwerderecht zukommt (vgl Danek/Mann , WK StPO § 238 Rz 14 ff; RIS Justiz RS0125788, RS0125707).

Gegen eine in der Hauptverhandlung erfolgte - mit einem Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit nach Art 5 MRK verbundene - Verhängung einer Freiheitsstrafe als Beugemittel (§ 154 Abs 2 iVm § 248 Abs 1 erster Satz, § 93 Abs 2, Abs 4 StPO) steht dem Betroffenen demnach kein Instanzenzug offen (§ 1 Abs 1 GRBG), sondern die unmittelbar dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof zu (RIS Justiz RS0129836, RS0122464, RS0061004; Kier in WK² GRBG § 1 Rz 7, 17, 32).

Mit Anklageschrift vom legte die Staatsanwaltschaft Wels A***** P***** das Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1, Z 2, Abs 4 erster Fall FPG idF BGBl I 2013/144 zur Last, weil sie unter anderem „gemeinsam mit dem abgesondert verfolgten N***** L***** in zwei bis drei Angriffen insgesamt zumindest acht syrische Staatsangehörige von Ungarn nach Deutschland“ befördert habe (GZ 4 Hv 8/16p 68 des Landesgerichts Wels [A./II./]).

L***** legt die Staatsanwaltschaft Wels ebenfalls das Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 1, Z 2, Abs 4 erster Fall FPG zur Last, weil er bei zumindest zwei bis drei Schlepperfahrten im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit P***** Schleppungen durchgeführt habe (GZ 7 Hv 25/16k 26 [A./]).

Sich überschneidende Anklagevorwürfe durch die Annahme bewussten und gewollten Zusammenwirkens bei zumindest zwei Schlepperfahrten liegen somit vor.

A***** P***** hatte im Ermittlungsverfahren als Beschuldigte vernommen L***** zunächst unter anderem belastet, ihr Anfang 2015 das Angebot zu Schleppungen gemacht, gemeinsam Schleppungen durchgeführt und den Kontakt zu einer weiteren Person, für die sie in weiterer Folge geschleppt habe, vermittelt zu haben (ON 2 S 33 ff, Kopien von Protokollen vom und vom im als ON 3 bezeichneten Umschlag, je in ON 4 in AZ 7 Hv 25/16k des Landesgerichts Wels = ON 7 S 7 ff, ON 11, ON 58 S 25 ff, je in AZ 4 Hv 8/16p des Landesgerichts Wels), und änderte ihre Angaben in weiterer Folge dahingehend ab, gemeinsam mit diesem keine Schleppung durchgeführt zu haben (ON 58 S 43 in AZ 4 Hv 8/16p des Landesgerichts Wels).

In der Hauptverhandlung am gegen den Angeklagten L***** gab die als Zeugin geladene, aus der Untersuchungshaft vorgeführte und über das Entschlagungsrecht gemäß § 157 Abs 1 Z 1 StPO belehrte P***** an, dass ihre bisherigen Aussagen nicht der Wahrheit entsprächen und sie nicht weiter aussagen werde, um sich nicht weiter zu belasten. Daraufhin wurde über sie nach Ankündigung der möglichen Folgen dieser Weigerung antragsgemäß Beugehaft verhängt (ON 41 S 21 f).

Gemäß § 157 Abs 1 Z 1 StPO sind Personen zur Verweigerung der Aussage berechtigt, soweit sie ansonsten - unter anderem - sich der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder im Zusammenhang mit einem gegen sie geführten Strafverfahren der Gefahr aussetzen würden, sich über ihre bisherige Aussage hinaus selbst zu belasten. Selbstbelastungsgefahr liegt jedoch dann nicht (mehr) vor, soweit sich ein Zeuge in dem gegen ihn als Beschuldigten gesondert geführten Strafverfahren geständig verantwortet hat ( Kirchbacher , WK StPO § 157 Rz 6). Nur im darüber hinausgehenden Umfang steht einem solchen Zeugen das Aussageverweigerungsrecht zu.

Daraus folgt, dass die Beschwerdeführerin ohne Verletzung des Schutzzwecks des § 157 Abs 1 Z 1 StPO zur Aussage verpflichtet gewesen wäre.

Gemäß § 93 Abs 2 StPO kann eine Person, die eine Handlung, zu der sie gesetzlich verpflichtet ist, durch Beugemittel angehalten werden, ihrer Verpflichtung nachzukommen, falls sie nicht selbst der Straftat verdächtig oder von der Pflicht zur Aussage gesetzlich befreit ist.

Dem verfassungsrechtlich aus Art 6 Abs 2 MRK und Art 90 Abs 2 B VG abzuleitenden, einfachgesetzlich durch § 7 Abs 2 erster Satz StPO ausdrücklich normierten Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (

nemo-tenetur-Prinzip) folgend dürfen Beugemittel weder dieses Verbot noch Befreiungen von der Aussagepflicht oder Aussageverweigerungsrechte umgehen (EBRV 1165 21. GP 143 f; Vogl , WK StPO,§ 93 Rz 45).

Durch die ausdrückliche Hervorhebung des Gesetzes scheidet die Anwendung von Beugemitteln immer dann aus, wenn und soweit der zu Beugende der Straftat verdächtig ist, zu der er vernommen werden soll. Die (im Grunde von § 157 Abs 1 Z 1 zweiter Fall StPO) ungerechtfertigte Weigerung eines Zeugen führt allerdings in jenem Verfahren, in dem er als solcher zur Aussage verpflichtet wäre, zur Möglichkeit der Verlesung seiner früheren Aussage (§ 252 Abs 1 Z 3 1. Fall StPO).

A***** P***** wurde daher entgegen der Stellungnahme der Generalprokuratur durch die Verhängung einer Freiheitsstrafe als Beugemittel in ihrem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Die bekämpfte Entscheidung war aufzuheben, sodass in dem gegen P***** geführten Verfahren AZ 4 Hv 8/16p des Landesgerichts Wels auch die zu Unrecht in Beugehaft verbrachte Zeit auf die Strafe (§ 38 Abs 1 StGB, § 400 StPO) anzurechnen sein wird.

Der Kostenausspruch beruht auf § 8 GRBG.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2016:0110OS00051.16H.0524.000