OGH vom 29.03.2016, 8ObA44/15a
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann Prentner und den Hofrat Dr. Brenn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhold Hohengartner und ADir. Angelika Neuhauser in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei W***** B*****, vertreten durch Dr. Manfred Harrer, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei t***** gmbH, *****, vertreten durch Dr. Reinhard Gsöllpointner, Dr. Robert Pirker, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen 3.244,12 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 12 Ra 14/15p 11, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 6 Cga 25/14w 7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie lauten:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 2.268,52 EUR samt 9,58 % Zinsen seit binnen 14 Tagen zu bezahlen.
Das Mehrbegehren von 975,60 EUR samt Anhang wird abgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, binnen 14 Tagen dem Kläger 114,10 EUR Barauslagen und der Gewerkschaft PRO-GE 284 EUR an pauschaliertem Aufwandersatz zu bezahlen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 149,47 EUR (darin 24,91 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu bezahlen.
Der Kläger ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen 183,30 EUR an Barauslagen des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war bei der Beklagten vom bis beschäftigt und wurde vom bis an ein österreichisches Unternehmen als Tischler überlassen. Auf das Dienstverhältnis ist der Kollektivvertrag für Arbeiter im Arbeitskräfteüberlassungsgewerbe (KVAÜ) anzuwenden. Der Kläger hat seinen Wohnsitz und Lebensmittelpunkt in Deutschland. Die Entfernung zwischen seinem Heimatort und dem Beschäftigerbetrieb beträgt rund 700 km, der Fahrpreis für öffentliche Verkehrsmittel beläuft sich pro Strecke auf 162,60 EUR. Der Kläger legte diese Strecke während der Überlassungsdauer insgesamt 51 mal mit seinem privaten Pkw zurück.
Mit seiner Klage begehrt er gemäß Abschnitt VIII Kapitel B Pkt 11 und 12 KVAÜ den Ersatz der Kosten für 57 Fahrten zur wöchentlichen An und Abreise. Auf die ihm dafür gebührenden 9.268,20 EUR habe die Beklagte nur 6.024,08 EUR bezahlt.
Die Beklagte wandte ein, der Kläger mache Kostenersatz für fiktive Fahrten geltend, worauf er keinen Anspruch habe. Jene Fahrten, die er tatsächlich nachgewiesen habe, seien ihm bereits bezahlt worden.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Anordnung des Abschnitts VIII Kapitel B Pkt 12 KVAÜ, wonach Nächtigungen für die Wochenruhe nicht angeordnet werden könnten und dem Arbeitnehmer die Heimreise am letzten Arbeitstag der Arbeitswoche zu ermöglichen sei, müsse im Sinne einer vernünftigen und einen Interessenausgleich herbeiführenden Interpretation so verstanden werden, dass der Arbeitnehmer auch auf fiktive Fahrtkosten Anspruch habe.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.
Abschnitt VIII des Kollektivvertrags regle im Kapitel A den üblichen Fall einer Dienstreise, dass die überlassene Arbeitskraft vom Beschäftiger außerhalb seines ständigen Betriebs eingesetzt wird. Kapitel B regle den speziellen, nicht dem herkömmlichen Dienstreise Begriff zu unterstellenden Fall der Überlassung in einen weit entfernten Beschäftigerbetrieb. Die „Dienstreise“ bestehe hier im Zurücklegen des normalen Arbeitswegs vom Wohnort in den dauernden Beschäftigerbetrieb. Das Bewältigen dieser Wegstrecke falle ausnahmsweise auch unter den steuerlich anerkannten Dienstreise-Begriff, weil der Arbeitnehmer nicht durch Wahl des Wohnorts und des konkreten Arbeitgebers selbst über diesen Weg entscheiden kann, sondern bei Vertragsabschluss mit dem Überlasser der zukünftige Beschäftiger noch unbekannt sei.
Der Arbeitnehmer mit mehr als 120 km entferntem Wohnort, dem wie im vorliegenden Fall keine Nächtigung angeordnet wurde, habe die Wahl zwischen täglicher Hin und Rückfahrt oder Nächtigung am Arbeitsort. Im ersten Fall bestehe täglich Anspruch auf Fahrtkostenersatz, im zweiten Fall auf das kollektivvertragliche Tag und Nächtigungsgeld sowie den Fahrtkostenersatz für eine Hin- und Rückreise am Wochenende. Da die Anordnung einer Nächtigung für die Wochenenden untersagt sei, gebühre der Fahrtkostenersatz auch dann, wenn die Heimreise tatsächlich nicht angetreten wurde.
Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil zur Frage der Ersatzfähigkeit fiktiver Heimreisekosten noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
Die Revision der beklagten Partei bekämpft die Rechtsansicht der Vorinstanzen und begehrt die Abänderung ihrer Entscheidungen im Sinne einer gänzlichen Klagsabweisung. Der Kläger hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig. Das Interesse an der Auslegung von Kollektivvertragsbestimmungen reicht regelmäßig über den Einzelfall hinaus. Die Revision ist teilweise auch berechtigt.
1. Die für den Anlassfall maßgeblichen Bestimmungen des Abschnitts VIII Kapitel B KVAÜ lauten:
„11. Eine Dienstreise liegt ferner vor, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitskräfteüberlasser in einen Betrieb überlassen wird, der mehr als 60 km vom Wohnort des Arbeitnehmers entfernt ist (Wegstrecke bei Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel).
In diesem Fall hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Ersatz der Fahrtkosten des öffentlichen Verkehrsmittels (…).
12. Wird der Arbeitnehmer in einen Betrieb überlassen, der mehr als 120 km vom Wohnort des Arbeitnehmers entfernt ist (Wegstrecke bei Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel) und eine Nächtigung angeordnet, besteht Anspruch auf Taggeld von € 26,40 und Nächtigungsgeld von € 15,– (Ersatz höherer Nächtigungskosten gegen Beleg) sowie Fahrtkostenersatz für die An und Abreise (Pkt. 11.).
Die Anordnung von Nächtigungen kann nicht für die Wochen(end)ruhe erfolgen (kein Durchzahlen über Wochenenden). Es ist die Heimreise am letzten Arbeitstag der Arbeitswoche zu ermöglichen. (...)“
Der Oberste Gerichtshof hat bereits in seiner Entscheidung 9 ObA 30/07p ausgesprochen, dass bei einer Entfernung der Arbeitsstelle vom Wohnort, die eine tägliche Heimkehr unmöglich oder unzumutbar macht, die wöchentliche Heimkehr als geradezu typisch zu beurteilen und vom Fahrtkostenersatzanspruch umfasst ist. Eine vertragliche Einschränkung des Anspruchs auf Ersatz der Kosten einer wöchentlichen Heimfahrt wäre demnach mit dem Zweck der Kollektivvertragsbestimmung nicht vereinbar und unbeachtlich.
Aus dem Argument der beklagten Partei, der aufgrund des Punktes 12. der genannten Bestimmungen regelmäßig zu gewährende kollektivvertragliche Fahrtkostenersatz könne für einen Arbeitnehmer, der in so großer Entfernung vom Einsatzort wohnt wie der Kläger, ohne weiters das Grundeinkommen übersteigen, ist für ihren Standpunkt daher nichts zu gewinnen. Ob die Anstellung eines solchen Arbeitnehmers für den Überlasser wirtschaftlich sinnvoll ist, unterliegt seiner unternehmerischen Entscheidung.
2. Die grundsätzliche Unabdingbarkeit des kollektivvertraglichen Anspruchs auf eine wöchentliche bezahlte Heimreise beantwortet jedoch nicht die im vorliegenden Fall entscheidungswesentliche Frage, ob ein solcher Anspruch überhaupt entsteht, wenn der Arbeitnehmer keine Heimreise unternimmt, sondern das Wochenende freiwillig am Arbeitsort (oder an einem anderen als dem Wohnort) verbringt.
Wie bereits beide Vorinstanzen ausgeführt haben, ist den Kollektivvertragsparteien grundsätzlich zu unterstellen, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen wollten, sodass bei mehreren an sich in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten, wenn andere Auslegungsgrundsätze versagen, jener der Vorzug zu geben ist, die diesen Anforderungen am meisten entspricht (RIS Justiz RS0008828 ua).
Im vorliegenden Fall bedarf das Auslegungsergebnis der Vorinstanzen aber einer Korrektur.
Hintergrund für den Ersatz der Kosten eines an sich im privaten Interesse des Arbeitnehmers gelegenen, außerhalb der Arbeitszeit zurückgelegten Wegs ist die Besonderheit des Gewerbes der Arbeitskräfteüberlassung, dass die auch wechselnden Beschäftigungsorte vom Überlasser einseitig bestimmt werden. Es ist der Sinn der hier strittigen kollektivvertraglichen Regelung, dem weit entfernt wohnenden Arbeitnehmer dennoch zu ermöglichen, einmal wöchentlich nach Hause zu fahren.
Um diesen Zweck zu erreichen ist es aber nicht erforderlich, dem Arbeitnehmer Reisekosten zu „ersetzen“, die ihm gar nicht entstanden sind. Es ist im Gegenteil so, dass die Rechtsansicht der Vorinstanzen der in der Achtung des Privat und Familienlebens gelegenen Intention des Kollektivvertrags entgegenwirken würde, weil es für Arbeitnehmer durchaus attraktiv sein könnte, auf eine anstrengende lange Heimfahrt zu verzichten und dafür über den Fahrtkostenersatz wie über einen Einkommensbestandteil verfügen zu können.
3. Die Revision verweist in diesem Zusammenhang auch zutreffend auf Abschnitt X KVAÜ, in dem ausdrücklich zwischen Verdienst (in den neben dem Grundentgelt sämtliche Zulagen und Zuschläge, wie insbesondere Schmutz , Erschwernis , Gefahren , Montage , Schicht und Nachtarbeitszulagen, Sonn und Feiertagszuschläge sowie Vorarbeiterzuschlag und Entgelte für Arbeiten außerhalb des Überlasser-Betriebes einzubeziehen sind) und Aufwandsentschädigungen (Tages- und Nächtigungsgelder sowie Fahrtkostenersätze) unterschieden wird. Diesem Verständnis der Kollektivvertragsparteien würde eine Auslegung widersprechen, die den Fahrtkostenersatz als schon dem Grunde nach unabhängig von einem tatsächlich getätigten Aufwand zustehenden Entgeltbestandteil behandelt.
Es wird zwar nicht verkannt, dass die in den meisten Kollektivverträgen so wie im KVAÜ angewandte vereinfachende Methode der Pauschalierung des Aufwandersatzes mit Mindestbeträgen immer die Möglichkeit in sich birgt, dass es zu Ansprüchen kommt, die den tatsächlichen finanziellen Aufwand des Arbeitnehmers übersteigen, etwa wenn er eine Übernachtungsmöglichkeit findet, die weniger als das Nächtigungsgeld kostet, oder wenn er eine Wegstrecke, für die ihm Fahrgeld zusteht, zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegt (8 ObA 160/98g). Allein dadurch geht der Charakter des Anspruchs als Aufwandersatz aber noch nicht verloren. Der Unterschied zum rein fiktiven Fahrtkostenersatz besteht darin, dass in den Beispielsfällen der Aufwand zumindest dem Grunde nach getätigt wurde, weil der Arbeitnehmer tatsächlich genächtigt bzw den Weg zurückgelegt hat.
Bei den Heimfahrtansprüchen nach dem KVAÜ handelt es sich dem Grunde nach nicht um Entgeltansprüche ( Rothe , Arbeiter- und Angestelltenkollektivvertrag für das Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung 2 , 107 f Rz 47, 52), sodass dem Ersatzanspruch des Arbeitnehmers ein getätigter Aufwand gegenüberstehen muss. Der nicht näher begründeten gegenteiligen Ansicht Schindlers (Arbeitskräfteüberlassung-KV 2013, 230 Anm 37) wird nicht beigetreten.
Ob einem weit entfernt wohnhaften Arbeitnehmer, der das Wochenende freiwillig am Arbeitsort verbringt, nach dem KVAÜ anstelle von Heimreisekosten der Anspruch auf Ersatz von Tages und Nächtigungsgeld für Samstag und Sonntag zusteht, war im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen.
4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass dem Arbeitnehmer nach Abschnitt VIII Kapitel B KVAÜ eine bezahlte Heimreise am Wochenende unabdingbar zu ermöglichen ist. Ein Anspruch auf Zahlung von Fahrtkostenersatz entsteht aber jeweils nur dann, wenn der Arbeitnehmer von der Möglichkeit der Heimreise tatsächlich Gebrauch gemacht hat.
5. Die Revisionswerberin hat die Entscheidungen der Vorinstanzen in ihrem Rechtsmittelantrag zwar formal zur Gänze bekämpft, aber mit keinem Wort ausgeführt, weshalb der Fahrtkostenersatz für die vom Kläger im Verfahren tatsächlich nachgewiesenen Heimreisen nicht zustehen sollte.
Der Revision konnte daher nur teilweise Folge gegeben werden. Das auf die (vom Berufungsgericht rechnerisch richtiggestellt) festgestellten sechs fiktiven Fahrstrecken entfallende Mehrbegehren war abzuweisen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 43 Abs 1, 50 ZPO iVm §§ 2, 58a ASGG.
Der Kläger ist in allen Instanzen mit rund 70 % seines Begehrens durchgedrungen. Er hat Anspruch auf aliquoten Barauslagenersatz erster Instanz, der Aufwandersatz nach § 58a ASGG ist gemäß § 43 ZPO anteilig mit 40 % zuzuerkennen. Im Berufungsverfahren hat der Kläger keine Kosten verzeichnet. Der Beklagten sind je 30 % der entrichteten Pauschalgebühren für das Rechtsmittelverfahren, dem Kläger wiederum 40 % der Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:OGH0002:2016:008OBA00044.15A.0329.000