OGH vom 13.11.2001, 10ObS237/01b
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Waltraud Bauer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ulrike Legner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Cemalettin K*****, Türkei, vertreten durch Dr. Robert Krepp, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Kinderzuschuss, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Rs 31/01x-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom , GZ 24 Cgs 51/00s-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger bezieht von der beklagten Partei zur Abgeltung der Folgen des Arbeitsunfalls vom eine Versehrtenrente im Ausmaß von 70 vH der Vollrente samt Zusatzrente. Bis zur Vollendung von deren 18. Lebensjahr bezog der Kläger für seine Tochter Yeliz K*****, geboren am , einen Kinderzuschuss. Mit Schreiben vom , bei der beklagten Partei eingelangt am , begehrte der Kläger sinngemäß Kinderzuschuss für seine Tochter im Hinblick auf deren Studium in der Türkei.
Yeliz K***** ist seit dem Studentin im sogenannten Vor-Staatsexamensprogramm für öffentliche Beziehungen an der Anadolu-Universität in der Türkei. Die Studiendauer des Vor-Staatsexamensprogramm beträgt zwei Jahre. Die erfolgreiche Absolvierung ist Voraussetzung für eine folgende vierjährige Hochschulausbildung (Staatsexamensausbildung). Lernmethode im Vor-Staatsexamensprogramm ist ausschließlich der Fernunterricht (Eigenstudium, Unterrichtsprogramme, die über Fernsehen und Radio ausgestrahlt werden, computerunterstützte Ausbildung). Die seitens der Universität abgenommenen Prüfungen erfolgen für jede Klasse (Studienjahr) in Form einer Zwischenprüfung, einer Jahresabschlussprüfung sowie gegebenenfalls, bei negativem Ergebnis, in Form einer Nachprüfung. Für eine dem Studienplan entsprechende erfolgreiche Teilnahme an dem Vor-Staatsexamensprogramm ist ein Lernaufwand von jedenfalls 35 Stunden wöchentlich erforderlich.
Yeliz K***** hat in der ersten Klasse (Studienjahr 1998/99) in den Unterrichtsfächern Allgemeine Betriebsleitung, Einführung in die Verhaltenswissenschaften, Betriebslehre, Öffentliche Beziehungen, Englisch, Sprach- und Ausdrucklehre) an Prüfungen teilgenommen, aber nur die Prüfung im Fach Englisch erfolgreich absolviert. Die Prüfungen in den anderen Fächern waren im Studienjahr 1999/200 zu wiederholen. Aufgrund des mangelhaften Studienerfolgs (Nichtteilnahme an der Jahresabschlussprüfung, erfolgreiche Absolvierung der Nachprüfung nur in einem Fach) kann nicht festgestellt werden, dass das Studium an dem Vor-Staatsexamensprogramm die Arbeitskraft der Tochter des Klägers tatsächlich in einem durchschnittlichen wöchentlichen Ausmaß von 20 Stunden oder mehr in Anspruch nimmt.
Mit Bescheid vom hat die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Zuerkennung des Kinderzuschusses für Yeliz K***** über die Vollendung des 18. Lebensjahrens hinaus mangels Kindeseigenschaft (§ 252 ASVG) abgelehnt.
Das Erstgericht wies die erhobene, auf Zuerkennung eines Kinderzuschusses zur Versehrtenrente ab dem gerichtete Klage ab. Beim Vor-Staatsexamensprogramm der Universität Anadolu handle es sich unzweifelhaft um einen als Schulausbildung im Sinne des § 252 Abs 2 Z 1 1. Satz ASVG zu qualifizierenden Vorstudienlehrgang. Bei der Beurteilung, ob die Arbeitskraft eines Kindes durch eine Schulausbildung in Form eines Fernstudiums überwiegend beansprucht werde, könne nicht auf ein rein formales Kriterium wie die Inskription abgestellt werden, sondern es müsse bei der Beurteilung der Kindeeigenschaft der Studienerfolg berücksichtigt werden. Dem folgend könne auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts nicht davon ausgegangen werden, dass die Arbeitskraft der Tochter des Klägers durch die Teilnahme an dem Vorstudienlehrgang überwiegend beansprucht werde, weshalb die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Kindeeigenschaft - jedenfalls zur Zeit - nicht gegeben seien.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es verneinte das Vorliegen eines Verfahrensmangels wegen Verletzung der Anleitungspflicht (ua in Richtung eines Antrags auf Vernehmung der Tochter des Klägers als Zeugin) und übernahm die Feststellungen des Erstgerichts. In seiner rechtlichen Beurteilung vertrat es die Ansicht, dass im vorliegenden Fall die Überprüfung der überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft des Kindes nicht abstrakt erfolgen könne, sondern nur mit ausdrücklichem Bezug auf die von der Tochter des Klägers zu absolvierenden Prüfungen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die unbeantwortete Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der unrichtigen rechtlichen Beurteilung und der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Klagsstattgabe. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 3 Z 3 ASGG zulässige Revision ist nicht berechtigt.
Die gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 dritter Satz ZPO). Den vom Kläger neuerlich gerügte Mängel des Verfahrens erster Instanz, nämlich die Unterlassung der Einvernahme der Tochter des Klägers, hat bereits das Berufungsgericht verneint, sodass dieser in der Revision wiederholte Verfahrensmangel erster Instanz nach ständiger Rechtsprechung - auch in Verfahren nach dem ASGG - im Revisionsverfahren nicht mehr mit Erfolg gerügt werden kann (Kodek in Rechberger2 Rz 3 Abs 2 zu § 503 ZPO; SSV-NF 11/15; 7/74; 5/116 ua; RIS-Justiz RS0042963 [T45] und RS0043061).
Nach dem Sachverhalt, den die Vorinstanzen ihrer Entscheidung zugrunde gelegt haben, kann nicht festgestellt werden, dass das Studium an dem Vor-Staatsexamensprogramm die Arbeitszeit der Tochter des Klägers in einem durchschnittlichen wöchentlichen Ausmaß von 20 Stunden oder mehr in Anspruch nimmt. Diese (Nicht-)Feststellung resultiert aus der freien Beweiswürdigung der Vorinstanzen, die vom Obersten Gerichtshof nicht überprüft werden kann (RIS-Justiz RS0043061 [T11]).
Nach § 207 in Verbindung mit § 252 Abs 2 Z 1 ASVG besteht die Kindeseigenschaft auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange das Kind sich in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht; die Kindeseigenschaft von Kindern, die eine im § 3 des Studienförderungsgesetzes 1992, BGBl Nr 305, genannte Einrichtung besuchen, verlängert sich nur dann, wenn sie ein ordentliches Studium ernsthaft und zielstrebig im Sinne des § 2 Abs 1 lit b des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl Nr 376, in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl 1992/311, betreiben.
Für das Bestehen der Kindeseigenschaft nach der Vollendung des 18. Lebensjahres kommt es also darauf an, dass sich das Kind in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht. Zu dieser durch das SRÄG 1992 (BGBl 1992/474) unverändert beibehaltenen Voraussetzung für die Verlängerung der Kindeseigenschaft kann daher weiterhin auf die bisherige Judikatur zurückgegriffen werden. Die Frage, ob die Arbeitskraft durch eine Schul- oder Berufsausbildung überwiegend im Sinn des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG beansprucht wird, ist danach durch einen Vergleich der konkreten Auslastung der Arbeitskraft zu dem von der geltenden Arbeits- und Sozialordnung - etwa im Arbeitszeitgesetz oder in den Kollektivverträgen - für vertretbar gehaltenen Gesamtbelastungsausmaß zu ermitteln, wobei für die letztbezeichnete Größe die arbeitsrechtlichen Höchstarbeitszeiten eine wertvolle Leitlinie bilden (SSV-NF 2/35 = SZ 61/85 = ZAS 1989/10, Binder).
Wenn sich jemand einer die Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul- oder Berufsausbildung unterzieht, dann ist in der Regel seine Arbeitskraft so in Anspruch genommen, daß eine die Selbsterhaltung garantierende Berufstätigkeit nicht zugemutet werden kann. Dies entspricht auch dem Zweck der Waisenpension, die für die Dauer der Ausbildung die Unmöglichkeit, gleichzeitig ein Erwerbseinkommen zu erzielen, zumindest teilweise ausgleichen soll (vgl SSV-NF 13/46, 5/77, 4/9 ua).
Als Faustregel wird in der Praxis angenommen, dass eine einschließlich der Fahrt zum und vom Schul- oder Ausbildungsort und der Aufarbeitung des Lehrstoffes mindestens 20 Wochenstunden umfassende Schulausbildung ausreicht, um das Tatbestandsmerkmal der überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft zu erfüllen (Standeker, Verlängerte Kindeseigenschaft und Waisenpension, ZAS 2001, 129 [134] mwN). Ausgehend davon, dass nicht festgestellt werden kann, dass das Studium an dem Vor-Staatsexamensprogramm die Arbeitszeit der Tochter des Klägers in einem durchschnittlichen wöchentlichen Ausmaß von 20 Stunden oder mehr in Anspruch nimmt, wurde die Kindeseigenschaft vom Berufungsgericht zutreffenderweise verneint.
Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.