zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VfGH vom 23.09.1996, B3419/95

VfGH vom 23.09.1996, B3419/95

Sammlungsnummer

14563

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch die Vorschreibung eines Kostenbeitrags für die Unterbringung an einen Behinderten; verfassungswidrige Bewertung der Familienbeihilfe als Einkommensbestandteil; verfassungskonforme Auslegung der Rechtsgrundlagen möglich

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Niederösterreich ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zu Handen seines Rechtsvertreters, die mit S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) Dem - 1949 geborenen, behinderten - Beschwerdeführer wurde mit Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung (NÖ LReg.) vom gemäß § 19 Abs 1 des NÖ Sozialhilfegesetzes, LGBl. 9200, (NÖ SHG), Hilfe zur beruflichen Eingliederung (§14 litd leg.cit.) durch Unterbringung in einem Wohnheim und durch Ermöglichung des Besuches der Tagesheimstätte - humanisierte Arbeitsstätte in 1080 Wien, Pfeilgasse 37, bewilligt. (Mit Bescheid vom änderte die NÖ LReg. die Anschrift des Wohnplatzes und die Wohnform.) Das Land Niederösterreich trägt die für diese Hilfen anfallenden Kosten (zuletzt für den Wohnplatz S 10.595,-- monatlich, für die Arbeitsstätte S 504,44 täglich).

b) Die Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf verpflichtete den Beschwerdeführer gemäß den §§15 und 41 NÖ SHG mit Bescheid vom , für die gewährten Hilfen ab einen Kostenbeitrag in der Höhe von monatlich S 2.177,-- an das Land Niederösterreich zu leisten. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung. Die NÖ LReg. gab dem Rechtsmittel mit Berufungsbescheid vom keine Folge.

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art 144 Abs 1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

Die Beschwerde wird insbesondere - unter Hinweis auf ho. Vorjudikatur - damit begründet, daß die Behörde auch die vom Beschwerdeführer bezogene Familienbeihilfe als anrechenbares Einkommen berücksichtigt habe.

3. Die NÖ LReg. legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie begehrt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.a) Dem § 14 NÖ SHG zufolge umfaßt die Hilfe für behinderte Menschen u.a. die Hilfe zur beruflichen Eingliederung (litd).

§19 Abs 1 legt fest, aus welchen Maßnahmen diese Hilfe besteht. Solche Maßnahmen wurden im vorliegenden Fall zugunsten des Beschwerdeführers getroffen.

§ 11 NÖ SHG regelt den "Einsatz der eigenen Mittel" und lautet:

"(1) Bevor Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt wird, hat der Hilfesuchende sein Einkommen und sein verwertbares Vermögen einzusetzen.

(2) Kleinere Einkommen und Vermögen, insbesondere solche, die wegen des besonderen Zustandes ihres Empfängers gewährt werden oder die der Berufsausbildung bzw. Erwerbsausübung dienen, sind jedenfalls nicht zu berücksichtigen.

(3) Als nicht verwertbares Vermögen sind ferner Vermögen und Vermögensteile anzusehen, deren Verwertung mit der Aufgabe der Sozialhilfe (§1) unvereinbar wäre oder eine besondere Härte für den Hilfesuchenden oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen bedeuten würde.

(4) Die Landesregierung hat durch Verordnung nähere Vorschriften darüber zu erlassen, inwieweit das Einkommen und Vermögen nicht zu berücksichtigen sind. Dabei ist darauf Bedacht zu nehmen, daß eine angemessene Alterssicherung nicht wesentlich erschwert wird."

§ 15 NÖ SHG hat das Ausmaß der Hilfe zum Gegenstand. Seine Abs 4 bis 7 lauten:

"(4) In den Fällen des § 14 lita bis d, g und i ist das Ausmaß der Hilfe durch Berücksichtigung eines zumutbaren Einsatzes der eigenen Mittel des behinderten Menschen und seiner Angehörigen im Rahmen ihrer gesetzlichen Unterhaltspflicht zu bestimmen. Großeltern und Enkel dürfen jedoch im Rahmen ihrer gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht zu Kostenbeiträgen herangezogen werden.

(5) Bei internen Unterbringungen sind jedenfalls Kostenbeiträge in der Höhe der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages gemäß § 8 Abs 2 und 4 Familienlastenausgleichsgesetz, BGBl. Nr. 376/1967 in der Fassung von BGBl. Nr. 617/1983, zu leisten. Bei internen Unterbringungen volljähriger behinderter Menschen sind darüberhinaus keine Kostenbeiträge zu erbringen. Bei externen Unterbringungen nach § 14 litc, d und g sind die Kostenbeiträge im entsprechenden Verhältnis zum zeitlichen Ausmaß der Maßnahme zu erbringen.

(6) Von der Verpflichtung zum Kostenbeitrag ist jedoch ganz oder zum Teil abzusehen, wenn durch den Kostenbeitrag die Inanspruchnahme der Hilfe aus sozialen Gründen erschwert oder der Erfolg der Hilfe gefährdet würde.

(7) Die Landesregierung hat durch Verordnung nähere Vorschriften zu erlassen, inwieweit Mittel (Einkommen, Vermögen) unter Bedachtnahme auf die Unzumutbarkeit ihres Einsatzes nicht zu berücksichtigen sind."

Gemäß § 40 Abs 1 NÖ SHG hat die Kosten der Sozialhilfe das Land zu tragen.

Der unter der Überschrift "Ersatz durch den Hilfeempfänger" stehende § 41 NÖ SHG bestimmt:

"(1) Der Hilfeempfänger hat, unbeschadet der Bestimmung des § 43, die Kosten zu ersetzen,

a) wenn er zu hinreichendem Einkommen oder Vermögen gelangt,

b) wenn er zur Zeit der Hilfeleistung hinreichendes Einkommen oder Vermögen hatte und dies nachträglich hervorkommt oder

c) wenn die Kosten deshalb entstanden sind, weil er seine eigenen Kräfte und Mittel nicht eingesetzt hat.

(2) Vom Hilfeempfänger sind, unbeschadet der Bestimmung des Abs 3, nicht zu ersetzen die Kosten für


Tabelle in neuem Fenster öffnen
a)
Hilfe durch geschützte Arbeit,
b)
persönliche Hilfe (§23),
c)
Hilfe für werdende Mütter und Wöchnerinnen,
d)
(entfällt)
e)
(entfällt)
f)
Hilfe durch Unterbringung in geeigneten Einrichtungen,
g) Leistungen, die vor Erreichung der Volljährigkeit gewährt werden.

(3) (entfällt)

(4) Von der Verpflichtung zum Kostenersatz ist abzusehen, wenn dies für den Hilfeempfänger eine Härte bedeuten oder den Erfolg der Sozialhilfe gefährden würde.

(5) Die Kostenersatzpflicht des Hilfeempfängers geht auf die Erben über. Ihre Haftung beschränkt sich jedoch auf den Wert des Nachlasses.

(6) Der Anspruch auf Kostenersatz verjährt nach drei Jahren vom Ablauf des Jahres, in dem die Sozialhilfe gewährt worden ist. Für die Wahrung der Frist gelten sinngemäß die Regeln über die Unterbrechung der Verjährung (§1497 ABGB). Ausgenommen hievon sind Ersatzansprüche für Sozialhilfen, die grundbücherlich sichergestellt sind."

b) Die NÖ LReg. hat - gestützt auf die §§11, 15 und 26 NÖ SHG - die Verordnung über die Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen bei Gewährung von Sozialhilfen, LGBl. 9200/2, erlassen.

Nach § 1 Abs 1 dieser Verordnung sind bestimmte Teile des Einkommens des Hilfesuchenden und seiner unterhaltspflichtigen Angehörigen nicht anzurechnen. Hier im besonderen maßgebend ist die litf:

"§1

Anrechenfreies Einkommen

(1) Vom Einkommen des Hilfesuchenden und seiner unterhaltspflichtigen Angehörigen sind nicht anzurechnen:

a) .....

f) Familienbeihilfen, Erhöhungsbeträge zur Familienbeihilfe und Geburtenbeihilfen nach den Bestimmungen

des Familienlastenausgleichsgesetzes, BGBl. Nr. 376/1967, in der Fassung BGBl. Nr. 553/1984, mit Ausnahme

der Beihilfen, die für den Hilfesuchenden gewährt

werden;

g) ....."

2.a) Die Behörde ist davon ausgegangen, daß der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt weitgehend selbst bestreitet und auch selbst Mietzins bezahlt (so deutlich S 7 der Gegenschrift). Dennoch hat sie die von ihm bezogene Familienbeihilfe samt Erhöhungsbetrag bei Berechnung seiner Einkünfte voll herangezogen (S 4 des angefochtenen Bescheides, S 6 der Gegenschrift).

Sie stützt sich hiebei offenbar auf § 15 Abs 5 NÖ SHG und § 1 Abs 1 litf der Verordnung LGBl. 9200/2 (s.o. II.1). Hätten diese Rechtsvorschriften tatsächlich den von der Behörde angenommenen Inhalt, so wären sie - wie in der folgenden litb dargetan wird - (als dem Gleichheitsgrundsatz widersprechend) verfassungswidrig.

Diese Normen erlauben jedoch eine verfassungskonforme Auslegung:

§ 15 Abs 5 NÖ SHG kann dahin verstanden werden, daß unter "interner Unterbringung" nur jene zu verstehen ist, die alle Lebenshaltungskosten abdeckt.

§ 1 Abs 1 litf der Verordnung LGBl. 9200/2 kann so interpretiert werden, daß die Familienbeihilfe samt Erhöhungsbeträgen zwingend nicht angerechnet werden darf; eine Ausnahme besteht nur in Ansehung der für den Hilfesuchenden selbst gewährten Beihilfe; diese darf angerechnet werden, allerdings nur dann, wenn die verfassungsmäßigen Voraussetzungen dafür vorliegen (s. dazu die folgende litb).

b) Der Verfassungsgerichtshof hat sich mit der Frage der Anrechnung von Familienbeihilfen auf das Einkommen des Hilfeempfängers wiederholt im Zusammenhang mit dem Wiener Behindertengesetz beschäftigt. Im Erkenntnis VfSlg. 13052/1992 hat er hiezu ausgeführt:

"Sie (sc. die Behörde) hat bei Feststellung des vom Beschwerdeführer bezogenen Gesamteinkommens, das der Bemessung des Kostenbeitrages zugrundegelegt wurde, auch die Familienbeihilfe hinzugerechnet. Dies ist aber nach § 43 Abs 3 iVm § 11 Abs 3 BehindertenG nur dann zulässig, wenn 'im Rahmen dieser Maßnahme durch Unterbringung und Verpflegung der Lebensunterhalt des Behinderten sichergestellt' wird. Der Verfassungsgerichtshof hegt gegen eine die Heranziehung der Familienbeihilfe für Sozialhilfemaßnahmen, durch die der Lebensunterhalt (einschließlich Unterbringung und Verpflegung) vollends gesichert ist, vorsehende Bestimmung keine verfassungsrechtlichen Bedenken; die Intention des Bundesgesetzgebers, der § 12a FLAG erlassen hat, schließt eine solche Heranziehung nicht aus; die Familienbeihilfe ist als Betreuungshilfe gedacht, die ausschließlich für jene Person, für die sie bezahlt wird, zu verwenden ist (vgl. Zl. 1 Ob 565/91). Dieser Verwendungszweck wird durch eine sozialhilferechtliche Kostenbeitragsregelung jedenfalls dann nicht unterlaufen, wenn sie den geschilderten Inhalt hat."

In den Erkenntnissen vom , B1867/94, und vom , B1866/95, hat der Verfassungsgerichtshof diese Auffassung bekräftigt und beigefügt:

"Aus dem zitierten Erkenntnis ergibt sich, daß § 43 Abs 3 iVm § 11 Abs 3 WBHG (Wiener Behindertengesetz) dann verfassungswidrig wäre, wenn diese sozialhilferechtliche Kostenbeitragsregelung den von der Behörde angenommenen Inhalt hätte, weil dann nämlich die Intention des § 12a FLAG (wonach die Familienbeihilfe eben nicht als eigenes Einkommen des Kindes gilt und dessen Unterhaltsanspruch nicht mindert) unterlaufen und damit das Berücksichtigungsgebot (vgl. VfSlg. 8831/1980, S 426; 10292/1984, S 762 ff.; 10306/1984, S 817 f.) mißachtet würde."

Der Verfassungsgerichtshof sieht sich nicht veranlaßt, von dieser Rechtsprechung abzurücken.

c) Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger liegt nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (vgl. zB VfSlg. 13052/1992 und die dort zitierte weitere Rechtsprechung) u.a. dann vor, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat.

Ein solcher Vorwurf ist der Behörde - wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt - im vorliegenden Fall zu machen.

Der Bescheid war sohin aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 3.000,-- enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.