OGH vom 28.03.2017, 8Ob123/16w

OGH vom 28.03.2017, 8Ob123/16w

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. TarmannPrentner, den Hofrat Dr. Brenn sowie die Hofrätinnen Mag. Korn und Dr. WeixelbraunMohr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, vertreten durch Preslmayr Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Dr. V*****, vertreten durch Dr. Alice Gao und Mag. Monika KekiAngermann, Rechtsanwältinnen in Wien, wegen 22.431,94 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 12 R 18/16d27, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 28 Cg 61/13s23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 1.489,86 EUR (darin 248,31 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Beklagte betrieb bis Ende 2014 eine Wahlarztpraxis als Allgemeinmedizinerin in Wien. Im Jahre 2003 wurde ihr von der Klägerin das sogenannte „Rezepturrecht“ erteilt, Arzneimittel nach Maßgabe des Erstattungskodex (§ 31 Abs 3 Z 12 ASVG) auf Rechnung der Klägerin zu verschreiben.

Im Erstattungskodex werden die Heilmittel in Gruppen, sogenannte „Boxen“ eingeteilt. In der von der Beklagten unterfertigten Erklärung (Beilage ./B) ist festgehalten, dass bei der Verordnung von Heilmitteln aus der „hellgelben Box“ (RE2) die Gründe dafür in der Krankengeschichte festzuhalten sind und die Klägerin das Recht habe, diese Dokumentation einzusehen und für den Fall des Fehlens einer Indikation den Schaden gegenüber dem verordnenden Arzt geltend zu machen. Die Beklagte nahm diese Bedingungen mit Unterschrift zur Kenntnis. Sie verpflichtete sich in dieser Erklärung auch, bei der Verordnung von Heilmitteln auf Rechnung der Klägerin die Richtlinien über die ökonomische Verschreibweise (RöV) einzuhalten.

Die Beklagte führte in ihrer Ordination auch Schwangerschaftsabbrüche durch. Für sämtliche bei solchen Behandlungen erfolgten Verordnungen stellte sie Kassenrezepte aus, obwohl sie wusste, dass diese mangels Krankenbehandlung nicht in die Leistungspflicht der Klägerin als Krankenversicherung fielen.

Im Februar 2013 wurde die Beklagte zufällig bei einer stichprobenartigen Kontrolle der Klägerin ausgewählt und aufgefordert, ihre Dokumentation der RE2-Verordnungen zu übermitteln. Die Beklagte kam der Aufforderung nicht nach. Eine stichprobenartige Kontrolle der Rezepte ergab, dass es sich um Verordnungen wegen Schwangerschaftsabbrüchen gehandelt hatte.

Am fand eine Aussprache der Streitteile statt, in der die Beklagte zugestand, bewusst unzulässige Verschreibungen vorgenommen zu haben und erklärte, dies in Hinkunft nicht mehr tun zu wollen. Sie sei auch bereit, etwas zurückzuzahlen. Es wurde in der Folge ein Vergleich besprochen und der Beklagten ein Entwurf dazu zur Unterfertigung bis mitgegeben, den sie nicht unterschrieben hat.

Die Klägerin hatte aufgrund von unzulässigen Verordnungen der Beklagten zwischen und jedenfalls den Klagsbetrag an Medikamentenkosten zu bezahlen, es ist ihr ein Schaden in dieser Höhe entstanden.

In der Klage begehrt sie den Ersatz dieses Betrags. Die Beklagte habe ihre Verpflichtung zur Schadensgutmachung außergerichtlich anerkannt, sei aber nicht bereit gewesen, den angebotenen Vergleich zu unterfertigen.

Die Beklagte wandte zunächst die Unzulässigkeit des Rechtswegs ein. In der Sache bestritt sie, dass die Verordnungen vetragswidrig erfolgt seien, das Begehren sei unschlüssig. Nach §§ 343 Abs 5 iVm 350 Abs 3 ASVG sei im Falle einer Verletzung von Dokumentationspflichten zunächst nur eine nachweisliche Verwarnung auszusprechen, erst im Wiederholungsfall komme ein Kostenersatz in Frage. Die Klagsforderung sei außerdem überwiegend verjährt, weil die Klägerin eine Nachforschungsobliegenheit getroffen habe und sie dieser nicht ausreichend nachgekommen sei. Ein Anerkenntnis einer Rückzahlungspflicht sei nie erfolgt.

Das Erstgericht gab dem Klagebehren statt. Der Rechtsweg sei für die Klagsforderung zulässig, weil die Paritätische Schiedskommission für Streitigkeiten aus Einzelverträgen iSd § 344 ASVG nicht zuständig sei. Eine verpflichtende vorherige Verwarnung sehe § 350 Abs 3 ASVG nur bei mangelhafter Dokumentation, aber nicht bei fehlender Indikation zur Verschreibung vor. Das Klagebegehren sei auch nicht verjährt, zumal der Klägerin bei der immensen Zahl der bei ihr eingereichten Rezepte nicht mehr als stichprobenartige Kontrollen möglich bzw zumutbar seien und die Beklagte ihre Ersatzpflicht im Jahre 2013 zumindest deklarativ anerkannt habe.

Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Beklagten keine Folge. Es verneinte eine Nichtigkeit des Verfahrens wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs und bestätigte in der Sache die Rechtsausführungen des Erstgerichts.

Die Klägerin könne den Ersatzanspruch auf die von der Beklagten anlässlich der Einräumung des Rezepturrechts abgegebene Erklärung stützen. Eine Verletzung der Erkundigungsobliegenheit der Klägerin, die zur teilweisen Verjährung der geltend gemachten Ansprüche geführt hätte, sei aus den Feststellungen nicht abzuleiten.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob ein Sozialversicherungsträger, der unter der Voraussetzung der Einhaltung der Richtlinien über die ökonomische Verschreibweise von Heilmitteln und Heilbehelfen (RöV) einem Wahlarzt das Rezepturrecht eingeräumt hat, im Hinblick auf § 350 Abs 3 ASVG und § 5 Abs 5 der Heilmittel-Bewilligungs- und Kontroll-Verordnung BGBl II 2004/473 Schadenersatz wegen Verschreibungen trotz fehlender Indikation einer Krankenbehandlung nur nach vorheriger Verwarnung im Wiederholungsfall geltend machen kann.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Klägerin beantwortete Revision der Beklagten, die eine Abänderung der Berufungsentscheidung im klagsabweisenden Sinn anstrebt, ist im Sinne des Ausspruchs des Berufungsgerichts zulässig, weil der Auslegung des § 350 Abs 3 ASVG über den Einzelfall hinaus Bedeutung zukommt. Die Revision ist aber nicht berechtigt.

1. Die im vorliegenden Verfahren strittige Bestimmung des § 350 Abs 3 ASVG lautet:

Bedarf eine Arzneispezialität oder ein Stoff für magistrale Zubereitungen, um auf Rechnung eines Sozialversicherungsträgers abgegeben werden zu können, der ärztlichen Bewilligung des chef- und kontrollärztlichen Dienstes der Sozialversicherungsträger, so ist diese Bewilligung unbeschadet des Bescheidrechtes des (der) Versicherten nach § 367 vom/von der verordnenden Arzt/Ärztin oder Zahnarzt/Zahnärztin (Dentist/Dentistin) einzuholen. Die Einholung der Bewilligung darf nicht auf den Patienten (die Patientin) übertragen werden.

Wird die Bewilligung von Arzneispezialitäten im gelben Bereich des Erstattungskodex durch die nachfolgende Kontrolle nach § 31 Abs. 3 Z 12 lit. b ersetzt, ist die Zulässigkeit der Verschreibung auf Kosten der Sozialversicherungsträger von der Durchführung einer Dokumentation (§ 31 Abs. 5 Z 13) über Vorliegen und Einhaltung der bestimmten Verwendungen abhängig.

Bei Verschreibungen ohne oder mit mangelhafter Dokumentation ist der Arzt/die Ärztin oder der Zahnarzt/die Zahnärztin (der Dentist/die Dentistin) nachweislich zu verwarnen; bei Wiederholung der Verletzung sind dem Sozialversicherungsträger die Kosten der Arzneispezialitäten vom/von der verschreibenden Arzt/Ärztin oder Zahnarzt/Zahnärztin (Dentist/Dentistin) zu ersetzen. (...)

2. Die Dokumentation, die nach § 350 Abs 3 ASVG die im voraus einzuholende Bewilligung des chef- und kontrollärztlichen Dienstes ersetzt, hat den Zweck, dem Sozialversicherungsträger wenigstens eine nachträgliche, stichprobenartige Kontrolle darüber zu ermöglichen, ob die Voraussetzungen für die Einhaltung der bestimmten Verwendungen bei einer Verschreibung auf ihre Kosten vorgelegen sind.

Regelungsgegenstand des § 350 Abs 3 ASVG ist also der Nachweis der Voraussetzungen für eine inhaltlich korrekte Verschreibung. Die an eine Verletzung der Dokumentationspflicht geknüpften Sanktionen dienen der Sicherstellung der Kontrollmöglichkeit (vgl auch Kletečka-Pulker in Aigner/Kletečka/Kletečka-Pulker/Memmer, Handbuch Medizinrecht Kap I.5, Pkt I.5.4.1; Plank/Thaler, Chefarztpflicht-Neu – Oder die kritikwürdige Umsetzung der Heilmittel-Bewilligungs- und Kontroll-Verordnung, RdM 2006/34, 36).

3. Fällt der Grund für die Verschreibung der Arzneispezialität von vornherein nicht in die Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers, weil kein Versicherungsfall vorliegt und dies dem Verschreibenden auch bewusst ist (zB medizinisch nicht indizierter Schwangerschaftsabbruch; Schober in Sonntag, ASVG7§ 120 Rz 17), wäre die Verschreibung auf Kosten des Sozialversicherungsträgers selbst dann nicht zulässig, wenn darüber eine Dokumentation iSd § 350 Abs 3 ASVG angelegt würde.

Nichts anderes ergibt sich, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, aus den von der Klägerin für ihren Standpunkt zitierten Materialien zu § 350 ASVG (SRÄG 2004, BGBl I 105/2004; Initiativantrag 434/A 22. GP), auf deren Inhalt die Revision im Übrigen nicht mehr zurückkommt. Auch wenn dort neben der fehlenden Dokumentation auf die „Nichteinhaltung von Indikationsregeln“ Bezug genommen wird, ist aus dem Zusammenhang ersichtlich, dass es dabei um die Einhaltung der Verwendung des Heilmittels für ein bestimmtes Krankheitsbild unter den vorgegebenen Voraussetzungen (§ 4 Heilmittel-Bewilligungs- und Kontroll-Verordnung BGBl II 473/2004) geht.

Das Nichtvorliegen eines Versicherungsfalls, in dem die Krankenkasse vom Arzt durch die bewusst pflichtwidrige Ausstellung eines Kassenrezepts über die fehlenden Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht getäuscht und zur rechtsgrundlosen Kostenübernahme veranlasst wird, wird von § 350 Abs 3 ASVG nicht erfasst.

Soweit die Revision argumentiert, diese Bestimmung solle die Haftung der Ärzte gegenüber den Sozialversicherungsträgern erschweren, zumal ihnen nicht a priori unterstellt werden könne, dass sie Heilmittel unnötigerweise bzw mit Schädigungsabsicht zu Lasten der Sozialversicherung verschreiben, verkennt sie, dass es in Fällen wie dem vorliegenden nicht um ein Unterstellen – bzw den aus mangelhafter Dokumentation abgeleiteten Verdacht – eines Missbrauchs geht, sondern um nachgewiesenen Missbrauch.

4. In der von der Beklagten unterfertigten Erklärung über das Rezepturrecht haben die Streitteile für den Fall eines Schadens der Klägerin wegen fehlender Indikation ausdrücklich eine Ersatzpflicht der Beklagten ohne weitere Voraussetzungen vereinbart. Inwieweit diese Ersatzpflicht darüber hinaus auch unabhängig von einer Vereinbarung aus dem Gesetz abzuleiten wäre, bedarf unter diesen Umständen keiner weiteren Erörterung.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:0080OB00123.16W.0328.000
Schlagworte:
1 Generalabonnement,12 Sozialrechtssachen

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