OGH vom 30.11.2010, 10Ob82/10x
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj O***** C*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, MA 11 Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung für den 3. und 11. Bezirk, Karl Borromäus Platz 3, 1030 Wien), über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 43 R 476/10h 70, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom , GZ 1 PU 52/10h 62, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Punkte 2 und 3 der Entscheidung zu lauten haben:
„Dem Kind wird vom bis gemäß § 4 Z 2 UVG ein monatlicher Unterhaltsvorschuss von 257 EUR gewährt.“
Text
Begründung:
Der am geborene Minderjährige O***** C***** ist österreichischer Staatsbürger und lebt mit seiner Mutter in Wien. Der unterhaltsverpflichtete Vater ist türkischer Staatsbürger. In dem vor dem Bezirksgericht St. Pölten am zu AZ 1 C 220/02d abgeschlossenen Unterhaltsvergleich verpflichtete er sich zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 120 EUR. Diesem Vergleich lag ein in Österreich erzieltes monatliches Nettoeinkommen des Vaters von damals 850 EUR zu Grunde sowie der Umstand, dass er einer weiteren Sorgepflicht nachzukommen hatte.
Aufgrund dieses Unterhaltstitels wurden dem Minderjährigen zuletzt mit rechtskräftigem Beschluss des Erstgerichts vom (ON U 53) Unterhaltsvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG für den Zeitraum vom bis in Titelhöhe von 120 EUR monatlich weitergewährt.
Mit Antrag vom begehrte der Minderjährige die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß den §§ 4 Z 2, 6 Abs 2 UVG mit der Begründung, der Vater sei unbekannten Aufenthalts. Die Erhöhung der Unterhaltsbeiträge sei drei Jahre nach Schaffung des Titels nicht gelungen. Es seien keine Gründe bekannt, weswegen der Vater nicht in der Lage sein solle, ein monatliches Einkommen zu erzielen, um den Richtsatzvorschuss leisten zu können.
Das Erstgericht holte eine ergebnislos bleibende Zentralmeldeauskunft sowie einen Versicherungsdatenauszug ein und lud die Mutter des Minderjährigen zu Gericht, um sie über den Aufenthalt des Vaters und dessen Einkommens und Vermögensverhältnisse zu befragen. Auf diese Aufforderung hin nahm die (volljährige) Schwester des Minderjährigen telefonisch mit dem Gericht Kontakt auf und gab an, für ihre Mutter zu sprechen, da diese der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sei. Aus dem über ihre Angaben angefertigten Aktenvermerk (ON 60) ergibt sich, dass der Vater vor fünf oder sechs Jahren Österreich verlassen habe, um in die Türkei zurückzukehren. Sein dortiger Aufenthaltsort und seine Beschäftigung seien unbekannt; es bestehe kein Kontakt. Der Vater verfüge über keine Berufsausbildung und habe in Österreich immer als Hilfsarbeiter gearbeitet. Ein Hilfsarbeiter könnte in der Türkei umgerechnet etwa 250 EUR monatlich verdienen.
Das Erstgericht bewilligte dem Minderjährigen Unterhaltsvorschüsse nach § 4 Z 2 UVG in der Höhe von 120 EUR monatlich für den Zeitraum vom bis und stellte gleichzeitig die bewilligten Titelvorschüsse mit Ablauf des März 2010 ein. Das Mehrbegehren in Höhe von 137 EUR wies das Erstgericht ab. Es legte seiner Entscheidung zu Grunde, dass der Unterhaltsschuldner derzeit nicht erreichbar sei, weil er sich in der Türkei befinde und dort unbekannten Aufenthalts sei. Da er aufgrund der Aktenlage nunmehr keine weitere Sorgepflicht zu erfüllen habe, müsste er ein monatliches Einkommen von 600 EUR erzielen, um den vergleichsweise festgelegten Unterhaltsbetrag von 120 EUR leisten zu können. Im Hinblick auf die in der Türkei geringeren Verdienstmöglichkeiten sei nicht anzunehmen, dass er ein höheres Einkommen (als 600 EUR) erzielen könne; hinsichtlich eines über 600 EUR monatlich hinausgehenden Betrags bestünden daher Zweifel an seiner Leistungsfähigkeit. Der Anspruch des Minderjährigen auf Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 2 UVG sei auf 120 EUR beschränkt.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des durch den Jugendwohlfahrtsträger vertretenen Minderjährigen keine Folge. Es legte seiner Entscheidung zu Grunde, der Vater habe keinerlei Ausbildung absolviert und besitze kein Vermögen; ein Hilfsarbeiter könnte in der Türkei monatlich 250 EUR verdienen. Die nach § 4 Z 2 UVG zu leistenden Unterhaltsvorschüsse seien durch die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners begrenzt. Die vom Bund zu beweisende offenbare Leistungsunfähigkeit sei demnach aktenkundig und erfülle die Anforderungen an den „positiven Beweis“.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nach § 62 Abs 1 AußStrG zulässig sei. Es liege keine oberstgerichtliche Rechtsprechung dazu vor, ob auf telefonischen Angaben der Schwester des Antragstellers beruhende Erhebungsergebnisse ausreichen, um für das Vorschussverfahren offenkundig zu machen, dass der Unterhaltsschuldner nicht leistungsfähig sei.
Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Minderjährigen mit dem Antrag, die abweisliche Entscheidung über das Mehrbegehren von 137 EUR möge dahin abgeändert werden, dass der Richtsatzvorschuss in der in § 6 Abs 2 Z 2 UVG festgelegten Höhe gewährt werde.
Der Bund, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, der Vater als Unterhaltsschuldner, vertreten durch die Zustellkuratorin, und die Mutter als Zahlungsempfängerin haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil dem Rekursgericht ein Verfahrensfehler von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG unterlaufen ist, indem es von den Feststellungen des Erstgerichts abgewichen ist. Er ist im Sinne des Abänderungsantrags auch berechtigt, weil ausgehend von den vom Erstgericht als glaubhaft erachteten Tatsachen die Abweisung des Mehrbegehrens mit § 4 Z 2 letzter Halbsatz UVG in Widerspruch steht.
1. Vorerst sind die von der Rechtsprechung zu dem (durch das FamRÄG 2009 BGBl I 75/2009 unverändert gebliebenen) § 4 Z 2 UVG zweite Fallgruppe vertretenen Grundsätze wie folgt wiederzugeben:
Der § 4 Z 2 UVG zweite Fallgruppe erfasst Unterhaltsberechtigte, die zwar über einen mehr als drei Jahre alten Unterhaltstitel verfügen, jedoch eine Erhöhung der Unterhaltsverpflichtung bzw eine Aufwertung des Unterhaltsanspruchs „aus Gründen auf Seite des Unterhaltsschuldners“ nicht erreichen können; zu diesen Gründen zählt insbesondere der unbekannte Aufenthalt des Unterhaltsschuldners oder Ungewissheit über seine Lebensverhältnisse, verbunden mit der daraus resultierenden Unmöglichkeit, dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse festzustellen. In diesen Fällen soll grundsätzlich Unterhaltsvorschuss gebühren. Solche Richtsatzvorschüsse knüpfen nicht an eine konkret feststellbare Unterhaltspflicht, sondern beruhen auf einheitlichen Pauschalbeträgen, nämlich den Richtsatzquoten des § 6 Abs 2 UVG. Die Vorschussleistung soll nur dann ausgeschlossen sein, wenn der Unterhaltsschuldner nach seinen Kräften offenbar zu einer Unterhaltsleistung bzw einer höheren Unterhaltsleistung nicht im Stande ist. Für diese Voraussetzung ist der Bund beweisbelastet. Es sind positive Beweise für die Leistungsunfähigkeit erforderlich ( Neumayr in Schwimann , ABGB³ I § 4 UVG Rz 44 f mwN), was aufgrund der eingeschränkten Beweisgrundlage des § 11 Abs 2 UVG (dazu siehe unten Pkt 2) zumeist schwierig ist. Beweisdefizite und Zweifel über die Leistungsfähigkeit machen die Unfähigkeit nicht offenbar. Sie dürfen nicht zu Lasten des Kindes gehen und stehen der Bevorschussung nicht entgegen. So hat der Oberste Gerichtshof etwa in der Entscheidung 4 Ob 547/92 ausgesprochen, im Falle einer Unwahrscheinlichkeit eines Verdienstes des Unterhaltspflichtigen in bestimmter Höhe bedeute dies noch nicht, dass der Unterhaltspflichtige ein solches Einkommen nicht beziehe und der dem Bund obliegende positive Beweis erbracht worden wäre. Der Vater sei demnach nicht „offenbar“ im oben dargelegten Sinn zur Leistung eines höheren Unterhalts unfähig.
2. Gemäß § 11 Abs 2 UVG hat der Antragsteller, soweit er die Voraussetzungen der Gewährung von Vorschüssen nicht aufgrund der Pflegschaftsakten, durch Urkunden oder sonst auf einfache Weise nachweisen kann, durch eine der Wahrheit entsprechende Erklärung des Vertreters glaubhaft zu machen. Diese Bescheinigung ist gerade bei negativen Anspruchsvoraussetzungen naheliegend und im Allgemeinen auch ausreichend. Die Anforderungen an die erforderlichen Beweismittel sowie die „Bescheinigungserklärung“ sind wirklichkeitsnah und nicht formalistisch zu betrachten ( Neumayr in Schwimann , § 11 UVG Rz 10). Eine Antragsüberprüfung durch das Gericht ist nur ausnahmsweise vorgesehen, nämlich dann, wenn eine unvollständige Erklärung nicht ausreicht oder die an sich schlüssige Erklärung aufgrund der Aktenlage Zweifel erweckt. Im Bewilligungsverfahren ist die Stoffsammlung nach § 11 UVG demnach beschränkt bzw eingeengt. Der Gefahr von Missbräuchen soll nicht durch umfangreiche, in Richtung Antragsprüfung gehende Erhebungen des Gerichts vor Bewilligung, sondern durch die vorgesehenen Haftungsbestimmungen und durch die Möglichkeit der Herabsetzung bzw Einstellung der Unterhaltsvorschüsse begegnet werden. Längere Zeit in Anspruch nehmende Erhebungen vor Bewilligung widersprächen daher dem Zweck des UVG, den Minderjährigen möglichst rasch zu ihrem Unterhalt zu verhelfen (6 Ob 262/00y mwN).
3. Das Erstgericht erachtete unter Berücksichtigung des § 11 Abs 2 UVG aufgrund der Aktenlage und der Angaben der Schwester des Unterhaltsvorschuss beantragenden Minderjährigen als glaubhaft, dass sich der Unterhaltsschuldner in der Türkei befinde und dort unbekannten Aufenthalts sei. Im Hinblick auf die in der Türkei gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen und (bekanntermaßen) geringeren Verdienstmöglichkeiten ging das Erstgericht davon aus, die über monatlich 600 EUR hinausgehende Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners sei zweifelhaft.
Das Rekursgericht traf demgegenüber an Hand der vom Erstgericht im Aktenvermerk vom (ON 60) festgehaltenen Angaben der Schwester des Antragstellers ergänzende und abweichende Feststellungen bzw erachtete einen anderen Sachverhalt als iSd § 11 Abs 2 UVG bescheinigt. So legte es seiner Entscheidung zu Grunde, der Vater könnte als Hilfsarbeiter in der Türkei lediglich ein monatliches Einkommen von 250 EUR erzielen und leitete daraus rechtlich ab, dieser sei zu einer höheren Unterhaltsleistung als 120 EUR monatlich iSd § 4 Z 2 UVG „offenbar“ unfähig. Dabei ließ das Rekursgericht jedoch außer Acht, dass die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen im Rekurs des Minderjährigen nicht bekämpft worden waren. Dieser hielt vielmehr auch im Rekurs seinen Rechtsstandpunkt aufrecht, die Leistungsunfähigkeit zur Erzielung eines entsprechenden Einkommens sei nicht offensichtlich. Gemäß § 53 AußStrG gilt der Grundsatz, dass das Rekursgericht die Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts, die durch die Rekursgründe nicht berührt werden, seiner Entscheidung zu Grunde zu legen hat; diese sind somit bindend (9 Ob 8/05z). Abweichende Tatsachenfeststellungen des Rekursgerichts wären daher nur aufgrund einer Tatsachenrüge zum Einkommen des Unterhaltsschuldners in Betracht gekommen; eine solche wurde im Rekurs nicht erhoben.
4. Haben die vom Rekursgericht getroffenen Feststellungen unbeachtlich zu bleiben, findet dessen Rechtsansicht, es lägen positive Beweise für die Leistungsunfähigkeit des Unterhaltsschuldners vor, in den vorhandenen Tatsachengrundlagen keine Stütze. Ausgehend von den Feststellungen des Erstgerichts besteht hinsichtlich des 120 EUR übersteigenden Vorschussbetrags ein Beweisdefizit, weil die als Grundlage für ein über 120 EUR hinausgehendes Unterhaltsbegehren nötigen Verdienstmöglichkeiten des Unterhaltsschuldners in der Türkei zweifelhaft blieben. Ein Beweisdefizit oder Zweifel über die Leistungsfähigkeit machen die Unfähigkeit des Unterhaltsschuldners zu einer allenfalls höheren Unterhaltsleistung aber nicht „offenbar“ im Sinn des letzten Halbsatzes des § 4 Z 2 UVG und stehen der Bevorschussung in voller Höhe nicht entgegen (RIS-Justiz RS0076273). Es hätte nur dann zu einer entsprechenden Einschränkung der Richtsatzhöhe kommen dürfen, wenn der Bund den Nachweis erbracht hätte, dass der Unterhaltsschuldner offenbar nicht zur Leistung des vollen, der Richtsatzhöhe entsprechenden Betrags im Stande wäre. Vom (beweispflichtigen) Bund unaufgeklärt gebliebene Umstände dürfen aber nicht zu Lasten des unterhaltsvorschussberechtigten Kindes ausschlagen.
Da der Umfang der dem Grunde nach bestehenden Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners nur im Ausmaß von 120 EUR nicht aber in einem darüber hinausgehenden Ausmaß zweifelsfrei feststeht, ist der Unterhaltsvorschuss in voller Höhe des Richtsatzes des § 6 Abs 2 UVG ohne Rücksicht auf die potentielle Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners zu gewähren.
5. Der im Hinblick auf das Alter des Kindes hier maßgebende feste Betrag nach § 6 Abs 2 Z 2 UVG beträgt derzeit 257 EUR, liegt also höher als der vom Kind seinerzeit geforderte Unterhaltsbeitrag des Vaters. Diese Besserstellung des Kindes, dessen Unterhaltspflichtiger eine auch nur geringfügige Unterhaltserhöhung vereitelt, gegenüber einem Kind, dessen Unterhaltspflichtiger seiner Pflicht nachkommt, wird offenbar vom Gesetzgeber zur Erreichung des sozialpolitischen Zwecks der Unterhaltsleistung durch Gewährung des Vorschusses in Richtsatzhöhe nicht als schädlich angesehen (4 Ob 547/92). Sie wäre nur ausgeschlossen, wenn bewiesen worden wäre, dass der Unterhaltsschuldner zur Leistung des höheren Unterhalts nicht imstande ist; das trifft aber nicht zu.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind daher in diesem Sinn abzuändern.