VfGH vom 27.11.2001, B2128/00

VfGH vom 27.11.2001, B2128/00

Sammlungsnummer

16350

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Versagung der Sondernotstandshilfe für die zu 100 Prozent erwerbsunfähige, behinderte Beschwerdeführerin; gleichheitswidrige Auslegung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Sondernotstandshilfe; Arbeits- bzw Berufsfähigkeit nicht erforderlich

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit S 29.500,-- (€ 2.143,85) bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Die Beschwerdeführerin steht als Vertragsbedienstete in einem - derzeit karenzierten - privatrechtlichen Dienstverhältnis zum Bund. Mit Bescheid des (damaligen) Landesinvalidenamtes vom wurde festgestellt, daß die Beschwerdeführerin seit dem Kreis der begünstigten Behinderten angehöre (Minderung der Erwerbsfähigkeit: 100 vH). Die Beschwerdeführerin bezieht eine als Dauerleistung zuerkannte Berufsunfähigkeitspension sowie Pflegegeld.

1.2. Nachdem die Beschwerdeführerin am ihr zweites Kind geboren und vom bis Karenzgeld bezogen hatte, beantragte sie am beim Arbeitsmarktservice Wien - Versicherungsdienste Sondernotstandshilfe.

Das Arbeitsmarktservice Wien - Versicherungsdienste wies diesen Antrag mit Bescheid vom ab, weil die Beschwerdeführerin nicht arbeitsfähig und somit eine gesetzliche Voraussetzung für den Anspruch auf Sondernotstandshilfe nicht gegeben sei.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin am Berufung, die mit Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom als unbegründet abgewiesen wurde.

2. Gegen diesen - letztinstanzlichen - Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art 144 Abs 1 B-VG. Darin behauptet die Beschwerdeführerin, durch den bekämpften Bescheid in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt zu sein; sie beantragt, den Bescheid kostenpflichtig aufzuheben.

3. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, erstattete aber keine Gegenschrift.

Das Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst erstattete auf Ersuchen des Verfassungsgerichtshofs eine Äußerung zum Beschwerdeverfahren; darin wird ua. folgendes ausgeführt:

"... Bei der Einführung der Sondernotstandshilfe mit der Novelle BGBl. Nr. 179/1974 ab , damals als § 26 Abs 5 AlVG, ist davon ausgegangen worden, dass arbeitsunfähige Personen diese Notstandshilfe nicht in Anspruch nehmen werden, zumal für den Bezug von Karenzgeld die Zurücklegung von Beschäftigungszeiten erforderlich ist.

In der Zwischenzeit ist aufgrund konkreter Anlassfälle aber sowohl beim Karenzgeld festgelegt worden, dass für diesen Anspruch das Vorliegen von Arbeitsfähigkeit nicht erforderlich ist (das Ruhen des Karenzgeldes wegen Bezuges einer Pension wegen Arbeitsunfähigkeit wurde mit der Novelle BGBl. Nr. 615/1987 mit Wirkung ab aufgehoben), als auch beim Arbeitslosengeld der Bezug trotz Vorliegens von Arbeitsunfähigkeit ermöglicht worden. Mit der Novelle BGBl. Nr. 412/1990 wurde nämlich im § 7 Abs 2 AlVG (nunmehr § 7 Abs 4 AlVG) mit Wirkung vom festgelegt, dass von der Voraussetzung der Arbeitsfähigkeit bei Arbeitslosen abzusehen sei, denen Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gewährt wurden, die das Ziel der Maßnahmen (§300 Abs 1 und 3 AlVG) erreicht und die erforderliche Anwartschaft nach dieser Maßnahme zurückgelegt haben. ...

... Im Hinblick darauf, dass arbeitsunfähige Personen das

Karenzgeld, aber auch Arbeitslosengeld und Notstandshilfe sowie

Sondernotstandshilfe ... beziehen können, erscheint aufgrund einer

verfassungskonformen Interpretation des § 39 AlVG der Bezug von Sondernotstandshilfe auch bei Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit - und zwar ohne die Einschränkung des § 7 Abs 4 AlVG - zulässig. Die Bestimmung des § 39 Abs 1 Z 3 AlVG ist in Zusammenhalt mit der Bestimmung des § 39 Abs 1 Z 1 AlVG, wonach als weitere Voraussetzung der Gewährung der Sondernotstandshilfe der Anspruch auf Karenzgeld nach dem Karenzgeldgesetz erschöpft sein muss, und den maßgeblichen Bestimmungen des Karenzgeldgesetzes (vgl. insb. § 9), nach denen für einen Anspruch das Vorliegen von Arbeitsfähigkeit nicht erforderlich ist, dahingehend auszulegen, dass auch für die Gewährung von Sondernotstandshilfe aufgrund des gegeben(en) sachlichen Zusammenhanges zum Karenzgeld die Voraussetzung der Arbeitsfähigkeit nicht erfüllt sein muss. ...

... Aufgrund de(r) dargestellten Erwägungen ist somit davon auszugehen, dass die Voraussetzung der Arbeitsfähigkeit nicht unter die 'übrigen Voraussetzungen für die Gewährung von Notstandshilfe' (§39 Abs 1 Z 3 AlVG) zu subsumieren ist. Da die in Rede stehende Bestimmung einer Auslegung zugänglich ist, die ein verfassungswidriges Ergebnis vermeidet, ist nach Auffassung des Bundeskanzleramtes-Verfassungsdienst den gleichheitsrechtlichen Bedenken der Boden entzogen."

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Durch § 39 Abs 1 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 (AlVG 1977), BGBl. Nr. 609/1977 idgF, wird Müttern oder Vätern ein Anspruch auf Sondernotstandshilfe eingeräumt; die genannte Vorschrift lautet wie folgt:

"Sondernotstandshilfe für Mütter oder Väter

§39. (1) Mütter oder Väter haben Anspruch auf Sondernotstandshilfe für die Dauer von 52 Wochen, längstens jedoch bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes, wenn

1. der Anspruch auf Karenzgeld nach dem Karenzgeldgesetz, BGBl. I Nr. 47/1997, erschöpft ist;

2. sie wegen Betreuung ihres Kindes, dessen Geburt Anlaß für die Gewährung des Karenzgeldes war, keine Beschäftigung annehmen können, weil für dieses Kind keine Unterbringungsmöglichkeit besteht, und

3. mit Ausnahme der Arbeitswilligkeit und der Arbeitsbereitschaft gemäß § 7 Abs 3 Z 1 die übrigen Voraussetzungen für die Gewährung der Notstandshilfe erfüllt sind.

(2) - (6) ..."

§ 39 Abs 1 Z 3 AlVG 1977 verknüpft also den Anspruch auf Sondernotstandshilfe allgemein mit jenen Voraussetzungen, die das Gesetz für die Zuerkennung von Notstandshilfe (§§33 ff AlVG 1977) aufstellt.

§ 33 AlVG 1977 bestimmt hiezu in seinen Abs 1 und 2:

"(1) Arbeitslosen, die den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Karenzgeld erschöpft haben, kann auf Antrag Notstandshilfe gewährt werden.

(2) Notstandshilfe ist nur zu gewähren, wenn der (die) Arbeitslose der Vermittlung zur Verfügung steht (§7 Abs 2 und 3) und sich in Notlage befindet."

Gemäß § 7 Abs 2 AlVG 1977 steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung,

"wer eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf (Abs3) und arbeitsfähig (§8), arbeitswillig (§9) und arbeitslos (§12) ist".

§ 8 Abs 1 AlVG 1977 zufolge ist arbeitsfähig, wer nicht invalid oder berufsunfähig iS der für ihn in Betracht kommenden Vorschriften des ASVG (§§255, 273, 280) ist.

§ 39 Abs 1 Z 3 AlVG 1977 scheint also - in Zusammenhalt mit den in ihm verwiesenen Vorschriften - anzuordnen, daß (nur) jene Personen Anspruch auf Sondernotstandshilfe haben, die arbeitslos sind, sich in Notlage befinden und arbeitsfähig sind.

1.2. Gemäß § 80 Abs 11 AlVG 1977 idF Art 11 Z 19 des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 103/2001 tritt der Abschnitt 4 des AlVG 1977 - der allein den § 39 enthält - mit außer Kraft. Auf Ansprüche auf Sondernotstandshilfe, die vor dem zuerkannt wurden oder Elternteile betreffen, deren Kind - wie hier - vor dem geboren wurde, ist (ua.) der § 39 jedoch weiter anzuwenden.

2. Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz wird nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (zB VfSlg. 10.413/1985, 11.682/1988) durch einen Bescheid ua. dann verletzt, wenn die Behörde der bei Erlaß des Bescheides angewendeten Rechtsvorschrift irrig einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat.

Nach Ansicht des Gerichtshofs trifft dies hier zu:

2.1. Wie § 39 Abs 1 Z 3 AlVG 1977 zeigt, wurde für den Anspruch auf Sondernotstandshilfe sowohl vom Erfordernis der Arbeitswilligkeit als auch von dem der Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung abgesehen. Eine Sondernotstandshilfe beziehende Person muß daher - ganz gleich wie im Falle des Bezugs von Karenzgeld - weder der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen noch bereit sein, sich auf einen Arbeitsplatz vermitteln zu lassen. Es handelt sich somit bei der Sondernotstandshilfe um einen Versicherungsfall, der (nur) an die Mutterschaft und an das Erfordernis der Betreuung eines Kindes anknüpft. Damit unterscheidet sich die Sondernotstandshilfe grundlegend von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe; sie ist - wie auch das Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst im Ergebnis zutreffend dargelegt hat - als "Anschlußleistung" nach dem Karenzgeld konzipiert und damit nicht bloß eine Versicherungs-, sondern (auch) eine Familienleistung.

Es ist daher nicht zu erkennen, aus welchem sachlichen Grund für die Gebührlichkeit von Sondernotstandshilfe zwar von den Erfordernissen der Arbeitswilligkeit und der Arbeitsbereitschaft abgesehen wird, also von Erfordernissen, die durch Willensentscheidung der betroffenen Person beeinflußbar sind, nicht aber auch von jenem der Arbeits- bzw. Berufsfähigkeit (die ja der willentlichen Einflußnahme entzogen ist). Die Annahme der belangten Behörde, daß das Gesetz dennoch so zu verstehen sei, setzt den § 39 Abs 1 Z 3 AlVG 1977 in Konflikt mit dem Gleichheitssatz (Art7 B-VG iVm Art 2 StGG): Wenn für die Zuerkennung einer derartigen familienpolitisch geprägten Sozialleistung zwar vom Erfordernis der persönlichen Arbeitsbereitschaft und -willigkeit abgesehen, jedoch am Erfordernis der Arbeitsfähigkeit als Tatbestandsvoraussetzung festgehalten wird, dann ist die Wirkung dieser Tatbestandsvoraussetzung, daß arbeitsunfähige Behinderte nur wegen dieser Behinderung von dieser Leistung ausgeschlossen werden. Bei diesem Verständnis geriete die in Rede stehende Regelung jedenfalls zu dem speziellen Gebot des Art 7 Abs 1 dritter Satz B-VG ("Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.") in offenen Widerspruch.

2.2. Erlaubt eine Regelung mehrere Interpretationen, so ist der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zufolge jener Auslegung der Vorzug zu geben, die die Bestimmung als verfassungskonform erscheinen läßt (vgl. zB VfSlg. 11.466/1987, 12.776/1991, 15.293/1998 uva.). Enthält das Gesetz eine vom Gesetzgeber offenkundig nicht bedachte, somit planwidrige Lücke, die das Gesetz mit Verfassungswidrigkeit belasten würde, so ist diese Lücke im Wege eines Analogieschlusses zu schließen (vgl. zB VfSlg. 15.590/1999; V70, 71/96; , B1012/98).

Da es in der dargelegten Weise gegen den Gleichheitssatz verstieße, die Zuerkennung von Sondernotstandshilfe von der Arbeits- bzw. Berufsfähigkeit des Anspruchswerbers abhängig zu machen, ist § 39 Abs 1 Z 3 AlVG 1977 in verfassungskonformer Interpretation teleologisch zu reduzieren und daher so zu verstehen, daß es einem Anspruch auf Sondernotstandshilfe nicht hinderlich ist, wenn der Anspruchswerber nicht arbeits- bzw. berufsfähig ist. Ein derartiges Verständnis liegt umso näher, als § 39 Abs 1 Z 3 AlVG jene "übrigen Voraussetzungen", an die die Gewährung von Sondernotstandshilfe geknüpft ist, nicht ausdrücklich anführt, sondern - wie eingangs (Pkt. II.1.1.) dargelegt - lediglich einen allgemeinen und daher auslegungsbedürftigen Verweis auf nicht im einzelnen bezeichnete Vorschriften über das Arbeitslosengeld bzw. die Notstandshilfe enthält.

2.3. Die belangte Behörde hat somit dadurch, daß sie dem § 39 Abs 1 Z 3 AlVG 1977 rechtsirrig einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat, die Beschwerdeführerin in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von S 4.500,-- (€ 327,03) sowie der Ersatz der gemäß § 17a VerfGG 1953 (idF vor dem 2. Euro-Umstellungsgesetz - Bund, BGBl. I Nr. 136/2001 (Art1 Z 2)) entrichteten Eingabegebühr (S 2.500,-- bzw. € 181,68) enthalten.

4. Dies konnte ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953).