OGH vom 25.02.2016, 9Ob76/15i
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Korn und Dr. Weixelbraun-Mohr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Dr. Peter Schaden und Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei Dr. ***** K*****, vertreten durch Dr. Josef Weixelbaum, Rechtsanwalt in Linz, wegen 36.520,94 EUR sA und Feststellung (5.000 EUR), über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse: 20.760,47 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom , GZ 1 R 145/15x 20, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wels vom , GZ 26 Cg 42/15b 16, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.259,64 EUR (darin 209,94 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am verursachte H. B. einen Verkehrsunfall, als er auf der Autobahn mit einem Sattelzugfahrzeug trotz entsprechender Warnhinweise auf der rechten Spur blieb und gegen einen am rechten Fahrstreifen stehenden LKW der A***** prallte. H. B. wurde durch den Anprall im Führerhaus eingeklemmt und schwer verletzt. Bei der anschließenden notärztlichen Versorgung unterlief dem beklagten Notarzt ein Behandlungsfehler, wodurch H. B. verstarb.
Der klagende gesetzliche Unfallversicherungsträger begehrt vom Beklagten den Ersatz der von ihm an die Hinterbliebenen des H. B. geleisteten Zahlungen für deren Unterhaltsentgang und die Bestattungskosten in (unstrittiger) Höhe des Deckungsfonds von 36.520,94 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für sämtliche künftige Pflichtaufwendungen, welche er aufgrund des Todes des H. B. dessen Hinterbliebenen in Hinkunft zu erbringen haben werde, soweit hiefür ein in sachlicher und zeitlicher Hinsicht kongruenter Deckungsfonds gegeben sei.
Der Beklagte wandte soweit für die Revisionsentscheidung wesentlich dagegen ein, dass sich die Hinterbliebenen ein Mitverschulden des Unfalllenkers H. B. anrechnen lassen müssten. Erst ein gravierendes Eigenverschulden hätte H. B. in die äußerst komplizierte Behandlungssituation gebracht, im Zuge derer der Beklagte das Fehlverhalten gesetzt habe. Jedenfalls sei ein der Sphäre des Versicherten zuzurechnender Zufall anspruchsmindernd zu veranschlagen.
Das Erstgericht erkannte den Beklagten schuldig, der Klägerin 18.260,47 EUR sA zu bezahlen, stellte die Haftung des Beklagten für sämtliche künftige Pflichtaufwendungen der Klägerin an die Hinterbliebenen zur Hälfte fest und wies sowohl das Leistungsmehrbegehren von (weiteren) 18.260,47 EUR sA als auch das Feststellungsmehrbegehren ab. Aufgrund des Zurechnungszusammenhangs treffe nicht den behandelnden Beklagten alleine, sondern auch den Unfalllenker eine Haftung, weil dieser den eingetretenen Schaden primär verursacht habe. Ohne den grob fahrlässig von H. B. verursachten Verkehrsunfall wäre die weitere Fehlbehandlung durch den Beklagten unterblieben. Unter Berücksichtigung der jeweiligen vorwerfbaren Verhaltensweisen sei eine Haftungsteilung von 1:1 im Sinn des § 1304 ABGB angemessen. Die Hinterbliebenen müssten sich bei ihren gegenüber der Klägerin geltend gemachten und von dieser beglichenen Ansprüchen nach § 1327 ABGB das Mitverschulden des Verstorbenen anrechnen lassen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und änderte das Urteil im Sinne einer gänzlichen Klagsstattgabe ab. Es entspreche ständiger Rechtsprechung und herrschender Lehre, dass das Mitverschulden des Getöteten den nach § 1327 ABGB Anspruchsberechtigten zuzurechnen sei und ihren Anspruch mindere. Den Patienten, der durch einen Behandlungsfehler zu Schaden komme, treffe die Obliegenheit, an den Heilungsbemühungen des Arztes mitzuwirken. Er habe alles ihm Zumutbare zu tun, um nach Eintritt eines behandlungsbedingten Schadensfalls den Schaden zu vermindern; verstoße er gegen diese Obliegenheit, so treffe ihn ein Mitverschulden. Ein - wie im vorliegenden Fall - mit der Herbeiführung des behandlungsbedürftigen Zustands begründetes Eigenverschulden des Versicherten sei aber nicht zu berücksichtigen. Der Schädiger, hier der Beklagte, habe nämlich gerade die Pflicht, den Schadenseintritt zu verhindern bzw den Schaden zu beseitigen.
In seiner dagegen gerichteten Revision beantragt der Beklagte die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung , die Revision des Beklagten zurück-, in eventu abzuweisen.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
1. Erfolgt aus einer körperlichen Verletzung der Tod, so müssen nicht nur alle Kosten, sondern auch den Hinterbliebenen, für deren Unterhalt der Getötete nach dem Gesetze zu sorgen hatte, das, was ihnen dadurch entgangen ist, ersetzt werden (§ 1327 ABGB).
2. Nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Lehre müssen sich die Hinterbliebenen bei ihrer Anspruchserhebung nach § 1327 ABGB analog § 7 Abs 2 EKHG ein Mitverschulden des Getöteten anrechnen lassen (RIS Justiz RS0026892; Reischauer in Rummel , ABGB³ § 1327 ABGB Rz 35; Hinteregger in Kletečka/Schauer , ABGB-ON 1.02 § 1327 ABGB Rz 4; Harrer in Schwimann ³ § 1327 ABGB Rz 62; Danzl in KBB 4 § 1327 ABGB Rz 10 ua).
3. Das Mitverschulden im Sinn des § 1304 ABGB setzt kein Verschulden im technischen Sinn voraus. Auch Rechtswidrigkeit des Verhaltens ist nicht erforderlich. Es genügt vielmehr eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern, worunter auch die Gesundheit fällt (RIS Justiz RS0022681, RS0032045).
4. Dass den geschädigten Patienten die Obliegenheit trifft, an den Heilungsbemühungen seines Arztes mitzuwirken, der Patient aus diesem Grund auch zur Schadensbegrenzung verpflichtet ist und ein allfälliges Fehlverhalten des geschädigten Patienten unter Anwendung des § 1304 ABGB entsprechend berücksichtigt werden muss, ergibt sich schon aus allgemeinen schadenersatzrechtlichen Grundsätzen (3 Ob 2121/96z; 10 Ob 24/00b) . Auch Hinterbliebenenansprüche wegen Schockschäden und das Trauerschmerzengeld unterliegen nach der Rechtsprechung im Falle eines Mitverschuldens des Getöteten einer Kürzung (2 Ob 178/04x; 4 Ob 36/10p mwN; 2 Ob 161/12h).
5.1. Die Revision des Beklagten führt für ihren Rechtsstandpunkt die Entscheidung 4 Ob 36/10p ins Treffen. Nach dieser Entscheidung lag das als Mitverschulden zu berücksichtigende Eigenverschulden des Patienten (der später verstorbene Sohn der Klägerin) nicht darin, dass er an den Heilungsbemühungen des Arztes bzw der Krankenanstalt nicht ausreichend mitgewirkt hatte, sondern darin, dass er einen Ofen im Haus unsachgemäß installiert und dadurch seine tödliche Rauchgasvergiftung herbeigeführt hatte. Soweit damit in dieser Entscheidung erstmals die schuldhafte (sorglose) Herbeiführung eines behandlungsbedürftigen Zustands durch den Patienten als Mitverschulden des Patienten in Bezug auf den Haftungsanspruch der Hinterbliebenen gegenüber dem Arzt oder Krankenhausträger wegen fehlerhafter Behandlung oder Aufklärung angesehen wurde, wird diese bislang vereinzelt gebliebene und in der Literatur weit überwiegend abgelehnte Rechtsansicht vom erkennenden Senat jedoch nicht geteilt.
5.2. Harrer Hörzinger (Eigenverschulden des Patienten an der Behandlungsbedürftigkeit und Arzthaftung, Zak 2011, 43) führt in einer Anmerkung zur Entscheidung 4 Ob 36/10p überzeugend aus, dass im Arzthaftungsrecht das haftungsbegründende Verschulden des Arztes im Behandlungsfehler oder der unzureichenden Aufklärung über eine Komplikation liegt. Daher können nur solche Umstände ein allfälliges Mitverschulden des Patienten begründen, die dazu führen, dass der durch den Behandlungs- oder Aufklärungsfehler verursachte Schaden vergrößert (weitere Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Patienten) oder eine Verringerung des Schadens (Besserung des gesundheitlichen Zustands des Patienten) vereitelt wird. Die Behandlungsbedürftigkeit des Patienten ist entweder schicksalhaft bedingt, auf das Verschulden eines Dritten oder auf die eigene Sorglosigkeit des Patienten zurückzuführen. Im Verhältnis zum Arzt entspringt sie dem Eigenrisiko des Patienten, wofür der Arzt, der nur eine Behandlung lege artis und keinen Behandlungserfolg schuldet, nicht einzustehen hat. Daher kann ein Eigenverschulden des Patienten an seiner Behandlungsbedürftigkeit die Ansprüche des Patienten gegen den Arzt wegen eines Behandlungsfehlers nicht mindern und es verbietet sich somit die Annahme eines Mitverschuldens des Patienten wegen schuldhafter Herbeiführung seines behandlungsbedürftigen Zustands.
5.3. Auch nach Koziol (Haftpflichtrecht [1997] I³ Rz 12/83) wird die Ersatzpflicht des Schädigers dann nicht gemindert, wenn den Geschädigten zwar der Vorwurf einer Sorglosigkeit trifft, der Schädiger aber gerade die Pflicht hatte, den Schadenseintritt zu verhindern oder den schon eingetretenen Schaden wieder zu beseitigen ( derselbe , Haftpflichtrecht I³ Rz 12/23). Deshalb könne der Arzt, dem ein Behandlungsfehler unterläuft, dem Patienten nicht dessen Verschulden bei der Herbeiführung der zu behandelnden Verletzung entgegenhalten.
5.4. Auf diese überzeugenden Ausführungen von Koziol stützt auch Haag (Angehörigenschmerzengeld bei ärztlichen Behandlungsfehlern? „Zusätzlicher“ Mitverschuldenseinwand bei Angehörigenschmerzengeld?, RdM 2011/34, 48) ihre Kritik an der Entscheidung 4 Ob 36/10p.
5.5. Der Ansicht von Koziol (siehe Punkt 5.4.) folgt auch Kletečka (RdM 2004/36, 56 f).
5.6. Kerschner (Schmerzengeld [2013], Rz 366) und Schacherreiter (in Kletečka/Schauer , ABGB ON 1.03 § 1304 ABGB Rz 25) verneinen ebenfalls die Berücksichtigung eines Eigenverschuldens des Patienten an der Herbeiführung eines behandlungsbedürftigen Zustands als Mitverschulden bei einer Haftung des Arztes wegen eines Behandlungsfehlers.
5.7. Dullinger (Mitwirkungspflichten des Patienten im Rahmen der ärztlichen Behandlung, RdM 2012/136, 229 f) hält die anspruchsmindernde Zurechnung des Mitverschuldens des Getöteten an die Hinterbliebenen dann für vertretbar, wenn der Getötete durch seine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten seinen Tod, der den Schock bei den Angehörigen ausgelöst habe, mitverursacht habe. Mache der Patient hingegen selbst einen Schadenersatzanspruch wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung geltend, könne ihm ein Eigenverschulden an seinem behandlungsbedürftigen Zustand keinesfalls anspruchsmindernd entgegengehalten werden.
6. Der Beklagte stützt sich in seiner Revision erstmals darauf, dass er die Notfallsbehandlung des Patienten als Geschäftsführer ohne Auftrag im Sinne des § 1035 ABGB verrichtet habe. Das seine Behandlung behindernde Defizit, nämlich dass der Patient aufgrund seiner Bewusstlosigkeit nicht mehr auf den Behandlungsvorgang einwirken habe können, sei aber dessen Rechtssphäre zuzuordnen. Dem ausgebliebenen Behandlungserfolg lägen daher zu berücksichtigende summierte Einwirkungen zugrunde.
Damit spricht der Revisionswerber ebenso wie mit den von ihm relevierten Entscheidungen 2 Ob 544/85 und 4 Ob 75/08w die Frage der Kausalität des vom Verstorbenen verursachten Verkehrsunfalls an den eingetretenen Schäden an. Für die Frage, ob die Sorglosigkeit des Verstorbenen ein Mitverschulden am ausgebliebenen Behandlungserfolg trifft, ist damit für den Revisionswerber aber nichts zu gewinnen.
7. Zusammengefasst folgt der Senat der oben zitierten Lehre. Danach kann ein Eigenverschulden des Patienten an seiner Behandlungsbedürftigkeit die Ansprüche des Patienten gegen den ihn nicht lege artis behandelnden Arzt nicht mindern. Auch für die hier in Rede stehenden Ansprüche der Hinterbliebenen auf Unterhaltsentgang und Bestattungskosten verbietet sich daher die Annahme eines Mitverschuldens des Patienten wegen schuldhafter Herbeiführung seines behandlungsbedürftigen Zustands.
Der Revision des Beklagten war daher nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:OGH0002:2016:0090OB00076.15I.0225.000