OGH vom 17.06.2021, 15Os52/21t
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. MichelKwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen D***** H***** wegen des Verbrechens des Mordes nach § 15 Abs 1, 75 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Geschworenengericht vom , GZ 18 Hv 117/20y78, nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGHGeo 2019) zu Recht erkannt:
Spruch
In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch A./IV./, demzufolge auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) und im Ausspruch nach § 21 Abs 2 StGB aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Graz verwiesen.
Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde zurückgewiesen.
Mit seiner Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe wird der Angeklagte auf die aufhebende Entscheidung verwiesen.
Die Entscheidung über die gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche gerichtete Berufung obliegt dem Oberlandesgericht Graz.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des (bisherigen) Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde D***** H***** der Verbrechen der schweren Nötigung nach § 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB (A./I./ und A./IV./), des Mordes nach § 15 Abs 1, 75 StGB (A./II./ und A./III./) sowie der Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB (A./V./) und nach § 50 Abs 1 Z 1 WaffG (B./) schuldig erkannt.
[2] Danach hat er – soweit für die Behandlung der Nichtigkeitsbeschwerde relevant –
A./ am in G*****
…
II./ I***** D***** dadurch zu töten versucht, dass er rund eine Stunde nach den zu Punkt I./ geschilderten Tathandlungen [schwere Nötigung zum Nachteil von S***** V***** und I***** D*****] mit der eigens mitgebrachten und zu Beginn im vorderen Hosenbund versteckten, mit Patronen des Kalibers 7,65 mm Browning mit Vollmantel-Rundkopfgeschossen geladenen halbautomatischen Selbstladepistole der Marke Crvena Zastava 70 zumindest auf S***** V***** und I***** D***** zuging, währenddessen die Faustfeuerwaffe zog und, nachdem ihm ein Schlag ins Gesicht und ein Tritt gegen das Knie versetzt worden war, sechs gezielte Schüsse zumindest in Richtung der bereits flüchtenden I***** D***** und D***** K***** abgab, wodurch D***** durch einen direkten Körpertreffer eine Einschussverletzung an der Rückseite des rechten Oberschenkels mit etwa sieben Zentimeter Durchmesser und Verletzungen der Oberschenkelmuskulatur und der Muskelbinden im Verlauf des Schusskanals erlitt;
III./ D***** K***** dadurch zu töten versucht, dass er rund eine Stunde nach den zu Punkt I./ geschilderten Tathandlungen [schwere Nötigung zum Nachteil von S***** V***** und I***** D*****] mit der eigens mitgebrachten und zu Beginn im vorderen Hosenbund versteckten, mit Patronen des Kalibers 7,65 mm Browning mit Vollmantel-Rundkopfgeschossen geladenen halbautomatischen Selbstladepistole der Marke Crvena Zastava 70 zumindest auf S***** V***** und I***** D***** zuging, währenddessen die Faustfeuerwaffe zog und, nachdem ihm ein Schlag ins Gesicht und ein Tritt gegen das Knie versetzt worden war, sechs gezielte Schüsse zumindest in Richtung der bereits flüchtenden I***** D***** und D***** K***** abgab, wodurch K***** letztlich durch Auftreffen der Geschossteile oberflächliche, schussbedingte Verletzungen an der fußwärtigen Unterschenkelrückseite rechts und am rechten Unterarm speichenseitig erlitt;
IV./ den in unmittelbarer Nähe befindlichen S***** V***** durch gefährliche Drohung mit dem Tod zur Flucht bzw zum sofortigen Verlassen der Örtlichkeit „schwer“ genötigt, indem er mit der eigens mitgebrachten und im vorderen Hosenbund versteckten, mit Patronen des Kalibers 7,65 mm Browning mit Vollmantel-Rundkopfgeschossen geladenen halbautomatischen Selbstladepistole der Marke Crvena Zastava 70 zumindest auf S***** V***** und I***** D***** zuging, währenddessen die Faustfeuerwaffe zog, nachdem ihm ein Schlag ins Gesicht und ein Tritt gegen das Knie versetzt worden war, sechs gezielte Schüsse zumindest in Richtung der bereits flüchtenden I***** D***** und D***** K***** abgab;
…
[3] Gemäß § 21 Abs 2 StGB wurde die Unterbringung des Angeklagten in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet.
Rechtliche Beurteilung
[4] Dieses Urteil bekämpft der Angeklagte in Ansehung der Schuldsprüche A./II./, A./III./ und A./IV./ mit auf § 345 Abs 1 Z 6, 9 und 13 StPO gestützter Nichtigkeitsbeschwerde, der teilweise Berechtigung zukommt.
[5] Zusatz- und Eventualfragen sind dann zu stellen, wenn sie durch erhebliche, prozessordnungsgemäß in der Hauptverhandlung vorgekommene Verfahrensergebnisse (§ 258 Abs 1 StPO) indiziert sind (RIS-Justiz RS0100677, RS0100991). Ein Sachverhalt, der nach gesicherter allgemeiner Lebenserfahrung als ernst zu nehmendes Indiz von vornherein ausscheidet, genügt nicht für die Zulässigkeit (RIS-Justiz RS0100860 [T1]).
[6] Beruft sich der Angeklagte auf ein in der Hauptverhandlung vorgekommenes Beweisergebnis – wie auf den Inhalt seiner Verantwortung – so darf er den Nachweis der geltend gemachten Nichtigkeit nicht bloß auf der Grundlage einzelner, isoliert aus dem Kontext der Gesamtverantwortung gelöster Teile davon führen, sondern hat vielmehr die Einlassung in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0120766).
[7] Diese Voraussetzungen verfehlt die Fragenrüge (Z 6), die in Ansehung der Schuldsprüche A./II./ und A./III./ (§§ 15, 75 StGB) das Unterbleiben der Stellung von auf Notwehr (§ 3 Abs 1 erster Satz StGB) und Notwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt (§ 3 Abs 2 StGB) abzielenden Zusatzfragen (§ 313 StPO) und von auf „fahrlässige Tatbegehung infolge Notwehrüberschreitung oder Putativnotwehrüberschreitung“ iSd § 3 Abs 2 StGB bzw § 8 StGB abzielenden Eventualfragen (§ 314 StPO; vgl zum Dreifragenschema: RIS-Justiz RS0100451) releviert.
[8] Denn mit dem (ausschließlich auf die leugnende Verantwortung des Angeklagten gestützten) Vorbringen, wonach D***** eine (ungeöffnete [ON 70 S 11 unten, ON 35 S 10; vgl jedoch auch die Beschuldigtenangaben vor der Kriminalpolizei: ON 22 S 35]) Stahlrute in der Hand gehalten und gegenüber dem Angeklagten geäußert habe, dass dieser ein allfällig mitgeführtes Messer „jetzt brauchen“ werde, der Angeklagte Tritte und Faustschläge (von einer unbekannten, jedoch von D***** verschiedenen Person) erhalten habe, sodann in Richtung des ein bis zwei Meter entfernten D*****, jedoch nicht gegen diesen zielend, sondern in Richtung Boden, geschossen habe, wobei er nicht gesehen habe, wo genau sich dieser befunden und welche Körperhaltung er eingenommen habe (ON 70 S 11 ff), zum Tatzeitpunkt mehrere Personen an der Tatörtlichkeit anwesend gewesen seien und der Angeklagte Angst gehabt habe, dass jemand eine Waffe ziehen könnte (ON 70 S 16 und 18 f, 20), weiters, dass der Angeklagte die Pistole zum Selbstschutz mitgeführt und bei vielen Menschen die Möglichkeit einer Attacke bestanden habe (ON 76 S 3, ON 35 S 9), und schließlich dass dieser in Richtung eines gegenüber auf der Straße stehenden, an dessen Hosenbund fassenden und nach der Schussabgabe weglaufenden Jugendlichen, auf den Boden zielend, geschossen habe (ON 22 S 35, ON 35 S 10), wird bei gebotener Gesamtbetrachtung kein Tatsachenvorbringen aufgezeigt, das einen gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff des D***** iSd § 3 Abs 1 erster Satz StGB bzw eine Notwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt (§ 3 Abs 2 StGB) oder die irrtümliche Annahme eines solchen Sachverhalts (§ 8 StGB) hinreichend indiziert erscheinen lässt (Lässig, WK-StPO § 313 Rz 8; § 314 Rz 2 f; Ratz, WK-StPO § 345 Rz 23; vgl auch RIS-Justiz RS0120766).
[9] Ebenso verhält es sich in Ansehung des Tatgeschehens betreffend die Hauptfrage A./III./, soweit nach der Verantwortung des einen Tötungsvorsatz bestreitenden Angeklagten dieser dem Tatopfer K***** dessen Verletzungen unbeabsichtigt und fahrlässig zugefügt und gar nicht in dessen Richtung geschossen habe (ON 70 S 15 f), was einen gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff des K***** gegen den Angeklagten und solcherart zielgerichtete Notwehrhandlungen des Letztgenannten gegen diesen „Angriff“ gerade nicht indiziert.
[10] Die vermissten (Eventual-)Fragen nach dem „Vergehen der grob fahrlässigen Körperverletzung“ wurden ohnehin an die Geschworenen gerichtet (vgl Eventualfragen 3 und 4 [LNR 6 und 7 bzw 13 und 14; ON 76 S 48 f und 55 f]).
[11] Die Kritik, wonach zwar betreffend den Vorwurf nach § 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB (A./IV./) zur vierten Hauptfrage eine auf das allfällige Vorliegen einer Notwehrsituation (§ 3 Abs 1 erster Satz StGB) abzielende Zusatzfrage (LNR 18) gestellt wurde (ON 76 S 60), dies jedoch in Ansehung des zu den Schuldsprüchen A./II./ und A./III./ angelasteten – allerdings unterschiedliche Tatopfer betreffenden – Tatgeschehens unterblieben und diese Differenzierung bei einem „einheitlichen Handlungsablauf“ unbegründet und willkürlich sei, verlässt den Anfechtungsrahmen einer Fragenrüge (Z 6; vgl RIS-Justiz RS0117447).
[12] Soweit die Rüge (Z 9) mit Blick auf den Umstand, dass die Geschworenen nach Bejahung der vierten Hauptfrage (§§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB; LNR 17 [ON 76 S 59]) – ohne Durchführung eines Moniturverfahrens (§ 332 Abs 4 StPO) – die auf Notwehr gerichtete eigentliche Zusatzfrage (LNR 18) unbeantwortet ließen („entfällt“; ON 76 S 60), eine Unvollständigkeit der Antwort der Geschworenen auf die gestellten Fragen releviert, ist sie allerdings im Recht.
[13] Eigentliche Zusatzfragen werden für den Fall der Bejahung der Schuldfrage, auf die sie sich beziehen – aktuell der vierten Hauptfrage –, gestellt (Lässig, WK-StPO § 313 Rz 1). Unvollständigkeit iSd § 345 Abs 1 Z 9 StPO liegt vor, wenn die Geschworenen nicht alle Fragen, die sie hätten beantworten müssen, beantwortet haben und ihnen trotzdem die Verbesserung des (solcherart mangelhaften) Wahrspruchs – wie aktuell – nicht nach § 332 Abs 4 StPO aufgetragen wurde (Świderski, WK-StPO § 332 Rz 7 und 17/1; Ratz aaO § 345 Rz 70).
[14] Das Unterbleiben der Beantwortung der Zusatzfrage erforderte somit die Aufhebung des Schuldspruchs A./IV./, nicht aber des diesem zugrunde liegenden Wahrspruchs zur vierten Hauptfrage.
[15] Demgemäß war das Urteil auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) und – wegen des untrennbaren Zusammenhangs (§ 289 StPO; RIS-Justiz RS0115054) – im Ausspruch nach § 21 Abs 2 StGB aufzuheben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zu verweisen (§§ 344, 285e StPO).
[16] Ein Eingehen auf die Sanktionsrüge (Z 13), mit der der Beschwerdeführer kritisiert, das Erstgericht habe bei der Gefährlichkeitsprognose „die Art der Tat“ gänzlich vernachlässigt, erübrigt sich somit.
[17] Im Übrigen war die Nichtigkeitsbeschwerde – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der dazu erstatteten Äußerung des Verteidigers – aus den dargelegten Gründen zurückzuweisen (§§ 344, 285d StPO).
[18] Mit seiner Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe war der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.
[19] Die Berufung gegen die von der Aufhebung nicht betroffenen privatrechtlichen Ansprüche (Ratz, WK-StPO § 289 Rz 7) kommt dem Oberlandesgericht zu (§§ 344, 285i StPO; RIS-Justiz RS0100065). Das Erstgericht wird dem Oberlandesgericht die entsprechenden Aktenteile zuzuleiten haben.
[20] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2021:0150OS00052.21T.0617.000 |
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