OGH vom 24.03.2015, 10Ob67/14x

OGH vom 24.03.2015, 10Ob67/14x

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden und durch die Hofräte Univ. Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Mag. Korn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen A*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Vorarlberg als Kinder und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft Dornbirn, 6850 Dornbirn, Klaudiastraße 2), wegen Unterhaltsvorschusses, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck, gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom , GZ 3 R 55/14g 12, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Dornbirn vom , GZ 9 Pu 163/13v 4, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die 2009 geborene Minderjährige und ihre Eltern sind Schweizer Staatsangehörige. Sie ist in Pflege und Erziehung ihrer Mutter, mit der sie in Vorarlberg wohnt. Der Vater lebt in der Schweiz. Aufgrund des vor der Vormundschaftsbehörde Bühler (Appenzell Rhoden) abgeschlossenen Unterhaltsvertrags ist er verpflichtet, zum Unterhalt seiner Tochter monatlich 595 CHF beizutragen.

Das Erstgericht wies den Antrag des Kindes vom auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach §§ 3, 4 Z 1 UVG ab, weil kein Elternteil in Österreich sozialversichert und die Minderjährige in Österreich privat krankenversichert sei.

Das Rekursgericht änderte diese Entscheidung im antragstattgebenden Sinn ab. Auch wenn das sich gewöhnlich in Österreich aufhaltende Kind nicht österreichische Staatsbürgerin sei, habe es Anspruch auf Unterhaltsvorschuss. Nach Art 2 des Freizügigkeitsabkommens EU/Mitgliedstaaten-Schweiz dürften Staatsangehörige einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhielten, bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Im Anhang II Art 1 kämen die Vertragsparteien überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die in Abschnitt A des Anhangs genannten Rechtsakte der Europäischen Union anzuwenden. Das Unionsrecht enthalte daher vertragliche bzw sekundärrechtliche Vorschriften, die Schweizer Staatsbürgern eine unionsrechtlich begründete Rechtsposition verliehen, die auch den Schutz durch das Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV einschließe. Auf diese Bestimmung könnten sich deshalb auch Schweizer Staatsangehörige berufen.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob ein in Österreich lebendes Kind mit Schweizer Staatsbürgerschaft aus Art 2 des Freizügigkeitsabkommens EU/Mitgliedstaaten Schweiz einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss ableiten könne.

Rechtliche Beurteilung

Der unbeantwortet gebliebene Revisionsrekurs des Bundes ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

1. Der Revisionsrekurswerber macht mit seiner Rechtsrüge geltend, Art 2 der VO (EG) 883/2004 beziehe sich ausdrücklich nur auf EU Bürger. Staatsbürger der Schweiz fielen daher nicht in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Koordinierungsverordnung. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten mit Personen dieses Staats komme weiterhin die VO (EWG) 1408/71 zur Anwendung.

2. Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

2.1. Nach § 2 Abs 1 Satz 1 UVG haben minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind, Anspruch auf Vorschüsse. Dass das antragstellende, in Österreich lebende Kind Schweizer und nicht österreichische Staatsbürgerin ist, steht der Gewährung des begehrten Unterhaltsvorschusses nicht entgegen. Es ist aufgrund des Freizügigkeitsabkommens EU/Mitgliedstaaten-Schweiz („FZA“; ABl 2002 L 114/6) gleich wie ein inländisches Kind zu behandeln:

3. Ziele des FZA sind ua die Einräumung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien für Personen, die im Aufenthaltsstaat keine Erwerbstätigkeit ausüben (Art 1 lit c FZA), und die Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer (Art 1 lit d FZA).

3.1. Nach Art 2 FZA werden die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert. Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird nach Maßgabe des Anhangs I eingeräumt (Art 4 FZA). Staatsangehörige der Schweiz und der Mitgliedstaaten können das Recht auf Gleichbehandlung im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens unmittelbar vor dem zuständigen nationalen Gericht geltend machen (Art 11 FZA). Das Diskriminierungsverbot ist somit unmittelbar anwendbar.

3.2. Anhang I Art 2 Abs 1 FZA normiert, dass die Staatsangehörigen einer Vertragspartei das Recht haben, sich nach Maßgabe der Kapitel II (Arbeitnehmer), III (Selbständige) und IV (Erbringung von Dienstleistungen) im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufzuhalten und dort eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Den Staatsangehörigen der Vertragsparteien, die im Aufnahmestaat keine Erwerbstätigkeit ausüben, wird das Aufenthaltsrecht eingeräumt, sofern sie die Voraussetzungen des Kapitels V erfüllen. Diese Voraussetzungen sind, dass die Person für sich selbst und ihre Familienangehörigen (Anhang I Art 3 FZA) über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, und über einen Krankenversicherungsschutz verfügt, der sämtliche Risken abdeckt (Anhang I Art 24 FZA).

3.3. Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist, und seine Familienangehörigen genießen im Aufnahmestaat die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen (Anhang I Art 9 Abs 2 FZA). Die Bestimmung gilt sinngemäß für die in Kapitel III genannten Selbständigen (Anhang I Art 15 Abs 2 FZA).

3.4. Anhang II FZA legt fest, welche gemeinschaftlichen Rechtsakte im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Vertragsparteien untereinander anwenden.

3.5. Aufgrund der Revision des Anhangs II FZA (Beschluss 1/2012 des Gemischten Ausschusses über die Freizügigkeit, ABl L 103, 51) gelten ab die VO (EG) 883/2004 und die VO (EG) 987/2009 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit auch im Verhältnis zur Schweiz (10 Ob 74/14a mwN; 10 Ob 60/12i ua). Bis dahin waren im Verhältnis zur Schweiz die VO (EWG) 1408/71 und 574/72 weiter anzuwenden (Art 90 Abs 1 lit c der VO ([EG]) 883/2004; 10 Ob 1/13i). Die vom Rechtsmittelwerber vertretene Meinung, die „alte“ Koordinierungsverordnung und ihre Durchführungsverordnung seien weiter anzuwenden, trifft demnach nicht zu.

4. Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG sind vom Anwendungsbereich der ab geltenden VO (EG) 883/2004 ausgeschlossen (s deren Anhang I). Im Unionsrechtskontext sind Unterhaltsvorschüsse nicht mehr auf der Grundlage des europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 zu beurteilen. Es ist nicht strittig, dass das Begehren der Minderjährigen nicht auf Bestimmungen dieser Verordnung gestützt werden kann.

5. Da Unterhaltsvorschüsse als soziale Vergünstigungen in den Anwendungsbereich des AEUV fallen, führt das unmittelbar anwendbare allgemeine Verbot jeder Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft im Anwendungsbereich der Verträge (Art 18 Satz 1 AEUV) dazu, dass der Staatsangehörigkeitsvorbehalt in § 2 Abs 1 Satz 1 UVG unionsrechtswidrig ist (10 Ob 1/13i ua). Im Licht dieser Norm des Primärrechts ist das Staatsbürgerschaftskriterium so zu lesen, dass Kinder mit der Staatsbürgerschaft eines EU Mitgliedstaats und gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich nicht von österreichischen Unterhaltsvorschüssen ausgeschlossen werden dürfen (10 Ob 1/13i mwN ua). Daher wird in ständiger Rechtsprechung bei reinen Inlandsfällen ein Vorschussanspruch von Kindern, die Staatsangehörige eines anderen EU-Mitgliedstaats sind, bejaht (RIS Justiz RS0125925, RS0124262 ua).

6. Auf Art 18 Satz 1 AEUV kann sich die Minderjährige nicht stützen. Denn diese Bestimmung ist - wie auch die besonderen Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten (Freizügigkeit der Arbeitnehmer Art 45 ff AEUV; Niederlassungsfreiheit Art 49 ff AEUV; Dienstleistungsfreiheit Art 56 ff AEUV) eine die Inländergleichbehandlung für die Angehörigen der Union konstituierende Vorschrift, die Drittstaatsangehörige grundsätzlich nicht umfasst. Nur dort, wo das Unionsrecht vertragliche Bestimmungen oder sekundärrechtliche Vorschriften enthält, die den Drittstaatsangehörigen eine unionsrechtlich begründete Rechtsposition verleihen, die auch den Schutz durch das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV einschließt, können sich Drittstaatsangehörige auf diese Bestimmung berufen (10 Ob 1/13i mwN ua).

7. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art 2 FZA) ist eine besondere Bestimmung des Unionsrechts, auf die sich Schweizer Staatsangehörige in einem EU-Mitgliedstaat berufen können. Art 2 FZA, der sich im Wortlaut eng an Art 18 AEUV anlehnt, ist gerade in denjenigen Fallkonstellationen heranzuziehen, in denen kein im Abkommen gewährleistetes spezifisches Recht einschlägig ist, der sachliche Anwendungsbereich des Abkommens jedoch aufgrund der Wahrnehmung eines im Abkommen gewährleisteten (Aufenthalts )Rechts betroffen ist und eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vorliegt (vgl Epiney , Zu Tragweite und Auslegung des Personenfreizügigkeitsabkommens Schweiz EU, GPR 2011, 64 ff).

7.1. Auf Art 2 FZA kann sich auch der nichterwerbstätige Schweizer Staatsangehörige berufen, der sich rechtmäßig in einem EU-Mitgliedstaat aufhält, denn auch er fällt nach Art 4 FZA und Anhang I FZA in den Anwendungsbereich des Abkommens.

7.2. Es ist nicht strittig, dass sich die Minderjährige abgeleitet von der Mutter rechtmäßig in Österreich aufhält. Infolge Art 2 FZA ist sie nicht von der Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ausgeschlossen. Ob die Mutter in Österreich erwerbstätig ist, ist nicht erheblich (im Rekurs des Kindes wurde behauptet, dass die Mutter in der Schweiz einer Beschäftigung nachgeht und in Österreich privat krankenversichert ist). Wäre sie in Österreich unselbständig oder selbständig erwerbstätig, führte bereits das Gleichbehandlungsgebot nach Anhang I Art 9 und Art 15 FZA dazu, dass das Kind nicht von österreichischen Unterhaltsvorschüssen ausgeschlossen ist.

8. Dass die übrigen Voraussetzungen für die begehrte Leistung vorliegen, ist nicht strittig.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2015:0100OB00067.14X.0324.000