OGH vom 24.01.2017, 10Ob54/16p
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj P*****, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Bezirke 2, 20, 1200 Wien, Dresdner Straße 43) über den Revisionsrekurs des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom , GZ 1 R 228/15d-41, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Graz-West vom , GZ 17 Pu 321/14v-26, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Das 2012 geborene Kind und seine Mutter sind slowakische Staatsbürger. Als Vater stellte das Bezirksgericht Leopoldstadt einen in Spanien lebenden bolivianischen Staatsbürger fest. Ab Februar 2013 lebte das Kind in Österreich. Ihm wurden mit Beschluss des Erstgerichts vom gemäß § 4 Z 4 UVG Unterhaltsvorschüsse von 130 EUR monatlich ab bis gewährt. Mutter und Kind übersiedelten im Mai 2015 in die Slowakei. Die Mutter ist seit in Österreich Inhaberin des freien Gewerbes der Personenbetreuung. Sie schloss am mit DI E***** einen unbefristeten „Werkvertrag über Leistungen in der Personenbetreuung gemäß § 159 GewO“ auf unbestimmte Zeit, dessen Gegenstand die Erbringung haushaltsnaher Dienstleistungen (zB Zubereitung von Mahlzeiten, Vornahme von Besorgungen, Waschen, Bügeln, Ausbessern von Wäsche), die Unterstützung bei der Lebensführung (Gestaltung des Tagesablaufs, Hilfestellung bei alltäglichen Verrichtungen), Gesellschafterfunktion, die Unterstützung bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, bei der Arzneimittelaufnahme, bei der Körperpflege, beim An- und Auskleiden, bei der Benützung der Toilette usw sind. Der vereinbarte Werklohn beträgt 75 EUR pro Tag. Die Mutter ist nicht persönlich leistungsverpflichtet und berechtigt, sich geeigneter Vertreter oder Gehilfen zu bedienen. Vereinbart ist, dass ein Weisungsrecht der Auftraggeberin gegenüber der Personenbetreuerin nicht besteht. Sie erbringt ihre Betreuungsleistungen periodisch in 14-tägigem Rhythmus und stellt über eine Leistungsperiode jeweils eine Rechnung über 1.050 EUR aus. Der Standort ihres Gewerbes ist seit an der Anschrift der zu betreuenden Person gemeldet. Seit diesem Tag ist sie in der Pensions- und Krankenversicherung nach dem GSVG und in der Unfallversicherung nach dem ASVG pflichtversichert.
Das Erstgericht stellte die Vorschüsse gemäß § 20 UVG mit Ablauf des Mai 2015 zur Gänze ein.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Kind habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Österreich. Die Mutter, die mit ihrer Tochter in der Slowakei im gemeinsamen Haushalt lebe, übe die 24-Stunden-Pflege als Gewerbetreibende aufgrund eines Werkvertrags aus, der ein Weisungsrecht des Auftraggebers ausdrücklich verneine. Die daraus folgende Unanwendbarkeit der VO (EU) 492/2011 führe zur Verneinung eines Anspruchs der Minderjährigen auf österreichische Unterhaltsvorschüsse seit der Wohnsitzverlegung in die Slowakei.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob die aufgrund eines Werkvertrags ausgeübte Tätigkeit der 24-Stunden-Pflege als unselbständige Tätigkeit im Sinn der FreizügigskeitsVO zu qualifizieren ist.
Rechtliche Beurteilung
Der gegen diese Entscheidung gerichtete, vom Bund beantwortete Revisionsrekurs des Kindes ist entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichts, der den Obersten Gerichtshof nicht bindet (§ 71 Abs 1 AußStrG), mangels einer erheblichen Rechtsfrage (§ 62 Abs 1 AußStrG) nicht zulässig.
1. Die Rechtsmittelwerberin macht nur geltend, die Mutter sei zwar „formal“ selbständig in Österreich tätig, unterliege aber bei ihrer Tätigkeit als 24-Stundenpflegerin mit einem unbefristeten Werkvertrag „faktisch einer ähnlichen Abhängigkeit wie bei einer unselbständigen Erwerbstätigkeit“, sodass die „UV-Exportpflicht auch hier Anwendung“ finde.
Eine Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStgrG wird damit nicht aufgezeigt.
2. Unterhaltsvorschüsse sind aus dem Anwendungsbereich der Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 ausgenommen, sodass seit keine „Exportpflicht“ von Unterhaltsvorschusszahlungen nach dieser Verordnung mehr besteht (10 Ob 15/12x; RIS-Justiz RS0125933).
3. Nach § 2 Abs 1 erster Satz UVG haben minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind, Anspruch auf Vorschüsse.
4. In der Entscheidung 10 Ob 15/12x (RIS-Justiz RS0127731) hat der Oberste Gerichtshof gestützt auf Art 7 Abs 2 der VO (EU) 492/2011 („FreizügigkeitsVO“) ausgesprochen, dass ein Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse auch dann besteht, wenn ein Kind mit der Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaats seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hat und der Elternteil, mit dem ein gemeinsamer Haushalt besteht, in Österreich einer sozialversicherungspflichtigen unselbständigen Erwerbs-
tätigkeit nachgeht („Grenzgängerin“).
5.1. Nach Art 7 Abs 2 der FreizügigkeitsVO genießt ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer. Die VO (EWG) 1612/68 enthielt in Art 7 Abs 2 eine gleichlautende Bestimmung, weshalb zur Auslegung der Bestimmung des Art 7 Abs 2 der FreizügigkeitsVO auf die frühere Rechtsprechung des EuGH zurückgegriffen werden konnte (10 Ob 15/12x).
5.2. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH in Auslegung des Art 39 EG (jetzt Art 45 AEUV) und der VO (EWG) 1612/68 besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl insbesondere , Martinez Sala, ECLI:EU:C:1998:217, Rn 32 mwN). Die formale Einstufung als Selbständiger nach innerstaatlichem Recht schließt nicht aus, dass jemand als Arbeitnehmer im Sinn der Verordnung einzustufen ist, wenn seine Selbständigkeit nur fiktiv ist und damit ein Arbeitsverhältnis im Sinn dieser Verordnung verschleiert (vgl , Allonby, ECLI:EU:C:2004:18, Rn 71; C-232/09, Danosa, ECLI:EU:C:2010:674, Rn 41).
6.1. Die Frage, ob ein Unterordnungsverhältnis im Sinn der zuvor angeführten Definition des Arbeitnehmerbegriffs vorliegt, ist in jedem Einzelfall nach Maßgabe aller Gesichtspunkte und aller Umstände zu beantworten, die die Beziehungen zwischen den Beteiligten kennzeichnen (vgl das Urteil Danosa Rn 46).
6.2. Ob eine 24-Stunden-Personenbetreuerin als Arbeitnehmerin einzustufen ist, hängt demnach ganz von den Umständen des Einzelfalls ab, sodass diese Frage regelmäßig keine Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG bildet. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen hat die Mutter der Minderjährigen mit der zu betreuenden Person vereinbart, dass sie die Betreuungsleistungen weisungsfrei erbringt und sich bei der Erbringung der vertraglich geschuldeten Leistungen vertreten lassen kann. Welche tatsächlichen Umstände vorliegen, die eine Selbständigkeit der Mutter nur fiktiv erscheinen lassen und die Annahme rechtfertigen, sie unterliege faktisch einer ähnlichen Abhängigkeit wie bei einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, hat die Rechtsmittelwerberin nicht dargetan.
7. Die Zurückweisung des Revisionsrekurses konnte sich auf die Ausführung der Zurückweisunsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0100OB00054.16P.0124.000 |
Schlagworte: | Unterhaltsrecht,Europarecht |
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