OGH vom 04.05.2006, 9Ob48/06h
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling, Dr. Hradil, Dr. Hopf und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Sachwalterschaftssache der Betroffenen Bertha K*****, geb , Pensionistin, *****, vertreten durch Dr. Peter Greil, Rechtsanwalt in Innsbruck, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Betroffenen gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom , GZ 53 R 82/05f-18, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Telfs vom , GZ 8 P 34/05f-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung:
Das Erstgericht bestellte für die Betroffene einen Rechtsanwalt zum Sachwalter gemäß § 273 ABGB und sprach aus, dass dieser alle Angelegenheiten zu besorgen habe. Weiters wurde angeordnet, dass die Betroffene ihren letzten Willen nur mündlich vor Gericht oder vor einem Notar erklären könne, und ausgesprochen, dass der Bund die Kosten des Verfahrens in der Höhe von EUR 445,30 trage. Die Einleitung des Verfahrens war von der Tochter der Betroffenen mit der Behauptung angeregt worden, dass ihre Mutter völlig verwahrlose, Alkoholikerin sei und ihre finanziellen Angelegenheiten nicht mehr im Griff habe. Das Erstgericht begründete die Sachwalterbestellung nur damit, dass auf Grund des im Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens feststehe, dass die Voraussetzungen des § 273 ABGB vorliegen. Nach dieser Gesetzesstelle sei einer Person ein Sachwalter zu bestellen, wenn sie an einer psychischen Erkrankung leide, durch die sie alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen vermöge. Die besondere Testamentsform des mündlichen Testaments vor Gericht oder Notar sei aus Schutzerwägungen für die Betroffene gemäß § 568 ABGB anzuordnen.
Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs der Betroffenen nicht Folge und sprach aus, dass der Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil keine Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu lösen gewesen sei. Der Betroffenen sei zwar einzuräumen, dass der erstgerichtliche Beschluss eher knapp gehalten sei, er sei aber deshalb nicht unüberprüfbar. Die Bestellung eines Sachwalters für alle Angelegenheiten sei auf Grund des in erster Instanz eingeholten Gutachtens, auf das sich der erstgerichtliche Beschluss beziehe, gerechtfertigt.
Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Betroffenen, worin sie einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag stellt.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.
Vermag eine volljährige Person, die an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist, alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen, so ist ihr auf ihren Antrag oder von Amts wegen nach § 273 Abs 1 ABGB ein Sachwalter zu bestellen. Die Bestellung eines Sachwalters ist unzulässig, wenn die betroffene Person durch andere Hilfe, besonders im Rahmen ihrer Familie oder von Einrichtungen der öffentlichen oder privaten Behindertenhilfe, in die Lage versetzt werden kann, ihre Angelegenheiten im erforderlichen Ausmaß zu besorgen (§ 273 Abs 2 ABGB). Je nach Ausmaß der Behinderung sowie Art und Umfang der zu besorgenden Angelegenheiten ist der Sachwalter mit der Besorgung einzelner Angelegenheiten, etwa der Durchsetzung oder der Abwehr eines Anspruchs oder der Eingehung und der Abwicklung eine Rechtsgeschäfts (Z 1), mit der Besorgung eines bestimmten Kreises von Angelegenheiten, etwa der Verwaltung eines Teils oder des gesamten Vermögens (Z 2), oder mit der Besorgung aller Angelegenheiten der behinderten Person (Z 3) zu betrauen (§ 273 Abs 3 ABGB). Die Bestellung eines Sachwalters gehört zu den weitestgehenden Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte, zu denen Zivilgerichte befugt sind. Um Übergriffe im Allgemeinen und Grundrechtseingriffe im Besonderen von vornherein zu vermeiden, bedarf es besonderer verfahrensrechtlicher Garantien und Schutzvorschriften (RV 224 BlgNR 22. GP 79 ua). Dazu gehört auch die - zu begründende (§ 39 Abs 1 Z 5 AußStrG) - Entscheidung des Gerichts durch Beschluss (§ 36 Abs 1 AußStrG). In die Begründung sind ua die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts, die Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung aufzunehmen (§ 39 Abs 3 AußStrG). Der Beschluss über die Bestellung eines Sachwalters ist kein Fall, in dem die Begründung unterbleiben kann (§ 39 Abs 4 iVm § 117 Abs 1, § 123 Abs 2 AußStrG). Die Entziehung der Geschäftsfähigkeit als einschneidende Maßnahme der Gerichtsbarkeit bedarf stets einer Begründung (RV 224 BlgNR 22. GP 82 ua).
Nach ständiger oberstgerichtlicher Rechtsprechung müssen die Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer Bestellung eines Sachwalters für eine behinderte Person (§ 273 ABGB) konkret und begründet sein. Die Anhaltspunkte müssen sich sowohl auf die psychische Krankheit oder geistige Behinderung als auch auf die Schutzbedürftigkeit beziehen (7 Ob 598/91; 3 Ob 2291/96z; 6 Ob 196/97k ua). Dass die Betroffene wegen einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung nicht in der Lage wäre, sich der Hilfestellung eines Beraters zu versichern, kann auf der Basis des erstgerichtlichen Beschlusses nicht beurteilt werden, weil darin keine Tatsachenfeststellungen getroffen wurden. Dass „feststehe", dass die Voraussetzungen des § 273 ABGB vorliegen, mag ein rechtliches Resümee des Erstgerichts sein, fehlende Tatsachenfeststellungen kann es nicht ersetzen. Es werden daher zuerst vom Erstgericht Feststellungen zum rechtserheblichen Sachverhalt zu treffen sein, die eine Beurteilung erlauben, ob die Betroffene an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist (vgl zu den Begriffen Weitzenböck in Schwimann, ABGB³ I § 273 Rz 1 f; Hopf in KBB, § 273 Rz 2 ua), alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten - darunter fallen nicht nur Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen, gerichtliche und sonstige behördliche Verfahren, sondern auch Angelegenheiten der Personensorge (Hopf aaO § 273 Rz 3 ua) - nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen. Weiters wird zu klären sein, ob die Betroffene durch andere Hilfe, besonders im Rahmen ihrer Familie oder von Einrichtungen der öffentlichen oder privaten Behindertenhilfe, in die Lage versetzt werden kann, ihre Angelegenheiten im erforderlichen Ausmaß zu besorgen (Prinzip der Subsidiarität; Hopf aaO § 273 Rz 4 ua). Davon wird es dann abhängen, ob ein Sachwalter zu bestellen ist und in welchem Umfang er mit der Besorgung von Angelegenheiten der Betroffenen zu betrauen ist. Die drei Stufen der Sachwalterschaft nach § 273 Abs 3 ABGB sind primär nicht Ausdruck der Schwere der psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung, sondern des Umfangs der Angelegenheiten, die die Person konkret nicht zu besorgen in der Lage ist. Dabei ist auf die aktuell zu besorgenden, nicht auf alle künftig denkbaren oder möglichen Angelegenheiten abzustellen. Auf ein solches Verständnis der Regelung durch den Gesetzgeber weist auch die Vereinfachung des Verfahrens zur Einschränkung oder Erweiterung der Sachwalterschaft nach § 128 AußStrG hin (Hopf aaO § 273 Rz 6 ua).
§ 121 Abs 5 AußStrG schreibt vor, dass ein Sachwalter nur nach Beiziehung „zumindest eines Sachverständigen" bestellt werden darf. Auf die von der Revisionsrekurswerberin aufgeworfene Frage, wann ein weiterer Sachverständiger beizuziehen sei, ist darauf zu verweisen, dass die vorhergehende Regelung in § 241 Abs 2 AußStrG aF vorsah, dass weitere Sachverständige „erforderlichenfalls" beizuziehen seien. Daran, dass im Einzelfall darauf abzustellen ist, ob ein weiterer Sachverständiger „erforderlich" ist, hat sich aber durch das neue AußStrG, BGBl I 2003/111, nichts geändert. Primär ist daher vom Erstgericht zu beurteilen, ob bereits ein Sachverständiger für die Klärung jener rechtserheblichen Erfahrungssätze und Tatsachen ausreicht, bei denen das Gericht auf die besondere Sachkunde eines Sachverständigen angewiesen ist.
Richtig ist der Hinweis der Revisionsrekurswerberin, dass die Testierfähigkeit der Betroffenen derzeit mangels Feststellungen des Erstgerichts nicht beurteilt werden kann, obwohl das Erstgericht im Sachwalterbestellungsbeschluss anordnete, dass die Betroffene ihren letzten Willen nur mündlich vor Gericht oder vor einem Notar erklären kann. Durch die Neufassung des ersten Satzes des § 568 ABGB durch das Familien- und Erbrechts-Änderungsgesetz 2004, BGBl I 2004/58, ist - anders als noch nach der alten Rechtslage (vgl dazu Welser in Rummel, ABGB³ § 568 Rz 7) - die Beschränkung der unter Sachwalterschaft stehenden Personen auf die in § 568 ABGB vorgesehenen Testamentsformen nicht mehr automatisch, sondern nur mehr dann vorgesehen, wenn dies im individuellen Sachwalterbeschluss - zum Schutz der betroffenen Person (RV 471 BlgNR 22. GP 29) - angeordnet ist (§ 123 Abs 1 Z 5 AußStrG; Eccher in Schwimann, ABGB³ III § 568 Rz 1). Entgegen der Annahme der Revisionsrekurswerberin dient diese gesetzliche Regelung nicht dem Schutz der Interessen der gesetzlichen Erben, sondern der Betroffenen. Sie soll erkennbar dazu beitragen, dass Betroffene über ihr Vermögen letztwillig so verfügen können, wie es ihrem wahren Willen entspricht (Testierfreiheit). Ist keine Beschränkung der Testierform ausgesprochen worden, so kann die betroffene Person in jeglicher Form testieren (Fucik/Kloiber, AußStrG § 123 Rz 1).
Bei der Auswahl des Sachwalters ist nach § 280 ABGB auf die Art der Angelegenheiten, die er zu besorgen hat, bei der Auswahl des Sachwalters für eine behinderte Person besonders auch auf deren persönliche Bedürfnisse zu achten. Nach § 281 Abs 1 ABGB ist einer behinderten Person, wenn ihr Wohl nicht anderes erfordert, eine geeignete, ihr nahestehende Person, zum Sachwalter zu bestellen. Erfordert es das Wohl der behinderten Person, so ist, soweit verfügbar, ein Sachwalter aus dem Kreis der von einem geeigneten Verein namhaft gemachten Personen zu bestellen (§ 281 Abs 2 ABGB). Erfordert die Besorgung der Angelegenheit der behinderten Person hingegen vorwiegend Rechtskenntnisse, so ist ein Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) oder Notar (Notariatskandidat) zum Sachwalter zu bestellen (§ 281 Abs 3 ABGB).
Dem Gericht kommt damit bei der Auswahl des Sachwalters ein weiter Ermessensspielraum zu, damit den individuellen Gegebenheiten des Einzelfalls bestmöglich Rechnung getragen werden kann (Weitzenböck aaO § 280 Rz 1 mwN ua). Maßgebend für die Auswahl des Sachwalters für eine behinderte Person sind deren Bedürfnisse sowie die Art der zu besorgenden Angelegenheiten (§ 280 ABGB; Hopf aaO § 281 Rz 1 ua). Zur Sicherstellung der persönlichen Bedürfnisse zählt auch die Verhinderung von Verwahrlosung (Maurer/Tschugguel, Sachwalterrecht² § 280 Rz 2 ua). Bei der Auswahl der Person, die zum Sachwalter zu bestellen ist, ist die Reihenfolge der Tatbestände im § 281 ABGB als Reihung der Prioritäten zu verstehen. Es ist daher primär eine dem Behinderten nahestehende Person als Sachwalter zu bestellen. Eine vom Sachwalterverein namhaft gemachte Person ist dagegen erst dann zu bestellen, wenn eine nach § 281 Abs 1 ABGB geeignete Person nicht vorhanden ist. Nur wenn die Besorgung der Angelegenheiten der behinderten Person vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert, ist ein Rechtsanwalt oder Notar zum Sachwalter zu bestellen (Weitzenböck aaO § 281 Rz 1; 6 Ob 268/02h; 1 Ob 198/03d; RIS-Justiz RS0048291 ua). Auch dazu fehlen Feststellungen, sodass die von der Revisionsrekurswerberin beanstandete Auswahl der Person des Sachwalters derzeit nicht beurteilt werden kann.
Dem Revisionsrekurs der Betroffenen ist daher Folge zu geben und die Sachwalterschaftssache nach Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen.