OGH vom 19.11.2019, 10ObS138/19w

OGH vom 19.11.2019, 10ObS138/19w

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden und die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T*****, vertreten durch Mag. Iris Augendoppler, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 43/19w-19, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 7 Cgs 37/18h-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die ***** 1939 geborene Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige und lebt in Wien. Seit 2012 ist sie an einer Adresse im vierten Wiener Gemeindebezirk gemeldet und verfügt über eine Anmeldebescheinigung als Angehörige eines EWRBürgers gemäß § 52 Abs 1 Z 3 NAG. Sie bezieht eine Pension aus Bulgarien und erhält eine österreichische Ausgleichszulage. Sie unterliegt der bulgarischen Krankenversicherung.

Mit vom lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den am gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung von Pflegegeld mit der Begründung ab, dass die Klägerin der Krankenversicherung in Bulgarien zugehörig sei.

Das wies das Klagebegehren auf Zuerkennung von Pflegegeld ab ab. Rechtlich ging es davon aus, dass der Bezug der österreichischen Ausgleichszulage keine Grundleistung im Sinne des § 3 Abs 1 und 2 BPGG darstelle. Ein Anspruch auf Pflegegeld komme für die Klägerin als unionsrechtlich gleichgestellte Staatsbürgerin mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland nur nach § 3a BPGG (idF BGBl I 2015/12) in Betracht, sofern nach der Verordnung (EG) Nr 883/2004 nicht ein anderer Mitgliedstaat kollisionsrechtlich für Pflegegeldleistungen zuständig sei. Für die Gewährung von Pflegegeld als Leistung bei Krankheit an Pensionisten sei innerhalb der Europäischen Union der die Pension auszahlende Staat (im vorliegenden Fall Bulgarien) und nicht der Wohnsitzstaat zuständig. Der Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld nach dem BPGG sei daher zu verneinen.

Das bestätigte dieses Urteil und schloss sich im Wesentlichen der Rechtsansicht des Erstgerichts an. Personen, die in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) 883/2004 fallen, sollen nur den Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen. Ob Bulgarien als kollisionsrechtlich für Leistungen bei Krankheit und somit auch für Pflegegeldleistungen zuständiger Staat tatsächlich Pflegegeldleistungen erbringe oder nicht, sei für die Bestimmung der Leistungszuständigkeit ohne Bedeutung. Der EuGH habe auch in seiner jüngeren Rechtsprechung daran festgehalten, dass Art 48 AEUV nur eine Koordinierung, nicht aber eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorsehe. Die Einschränkung in § 3a Abs 1 BPGG „sofern nach der Verordnung (EG) Nr 883/2004 nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegegeldleistungen zuständig sei“ bewirke auch keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, weil § 3a Abs 1 BPGG genauso auf österreichische Staatsbürger zutreffe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die der Klägerin.

Die beklagte Partei beantragte in der ihr freigestellten , die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin ist zulässig, weil den Vorinstanzen ein vom Obersten Gerichtshof aufzugreifender Rechtsirrtum im Hinblick auf die anzuwendende Rechtslage unterlaufen ist. Sie ist im Sinne des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1.1 Im Revisionsverfahren nicht in Frage steht, dass die Klägerin als Ausgleichszulagenbezieherin, die eine Pension aus Bulgarien erhält, keine Grundleistung iSd § 3 Abs 1 und 2 BPGG bezieht.

1.2 Seit haben österreichische Staatsbürger auch ohne Grundleistung (§ 3 Abs 1 und 2 BPGG) und österreichischen Staatsbürgern gleichgestellte Personen Anspruch auf Bundespflegegeld (§ 3a Abs 1 und 2 BPGG idF des SRÄG 2012 BGBl I 2013/3).

1.3 Der Kreis der den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellten Personen ist in § 3a Abs 2 BPGG umschrieben. Unter anderem gehören zu diesem Personenkreis Personen, die – wie die Klägerin – über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht gemäß den (nunmehrigen) § 51 bis 54a und 57 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) verfügen.

2.1 Nach ständiger Rechtsprechung zu § 3a BPGG idF BGBl I 2013/3 wird mit dieser Regelung auch in Österreich lebenden Beziehern einer Pension eines anderen Mitgliedstaats Anspruch auf österreichisches Pflegegeld eingeräumt, obwohl dieser andere Mitgliedstaat für sämtliche Leistungen bei Krankheit (einschließlich Pflegegeld) leistungszuständig ist (RS0129521).

2.2 Diese Rechtsprechung erging im Hinblick auf die Judikatur des EuGH, nach derauch ein an sich nach der VO (EG) 883/2004 nicht zuständiger Mitgliedstaat nicht daran gehindert ist, nach nationalem Recht Leistungsansprüche einzuräumen, die dann neben den Zuständigkeiten nach nationalem Recht geltend gemacht werden können (Rs C-352/06, Bosmann;Rs C-611/10 und Rs C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak).

3. Als Konsequenz dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber mit der Novelle BGBl I 2015/12 § 3a BPGG novelliert. Mit der Begründung, dass es sich beim Einräumen von Leistungsansprüchen nach nationalem Recht um keine unabwendbare Verpflichtung des nicht leistungszuständigen Mitgliedstaats, sondern nur um ein Recht handle, das der Mitgliedstaat auch wieder entziehen könne, wurde § 3a BPGG ab um die negative Anspruchsvoraussetzung ergänzt, dass ein solcher Anspruch nur besteht, wenn nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO (EG) 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig sei. Ziel dieser Novelle war, die Zuständigkeit Österreichs auf jene Pflegegeldleistungen einzuschränken, für die Österreich auch im Rahmen der Koordination als Leistung bei Krankheit zuständig ist (IA 833/A 25. GP 29; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 [2017], Rz 3.32 ff).

4.1 Die Übergangsbestimmung findet sich in § 48f BPGG.§ 48 f BPGG bezieht sich allgemein auf Änderungen durch die Novelle BGBl I 2015/12, also sowohl auf die Änderung des § 4 Abs 2 BPGG als auch auf die Änderung des § 3a Abs 1 BPGG. Die Absätze 1 bis 3 des § 48f BPGG betreffen die Änderung des § 4 Abs 2 BPGG (Änderung der Anspruchsvoraussetzungen für die Pflegegeldstufen 1 und 2). Der – hier maßgebliche – § 48f Abs 4 BPGG bezieht sich ausschließlich auf § 3a BPGG und lautet:

„§ 3a Abs 1 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 12/2015 ist anzuwenden, wenn der Antrag auf Zuerkennung des Pflegegelds ab dem einlangt.“

4.2 Die neue Rechtslage ist demnach nur auf Neuanträge ab anzuwenden. Für Altanträge vor dem gilt die alte Rechtslage weiter. Dem Gesetzgeber ging es nach dem Wortlaut des § 48f BPGG offenbar darum, dass diejenigen Personen, die vor dem einen Erstantrag auf Pflegegeld gestellt haben, von der Einschränkung nicht betroffen sind, und zwar unabhängig davon, wann der Versicherungsträger oder das Gericht rechtskräftig über den Antrag entscheidet.

4.3 Darauf, ob die alte Rechtslage für Altanträge vor dem nur unter der Voraussetzung anzuwenden ist, dass vor dem zumindest ein Pflegebedarf der Stufe 1 vorgelegen hat (und nicht erst nach dem ein solcher Bedarf aufgetreten ist und der vor dem gestellte Antrag damit zu Unrecht gestellt wurde – siehe 10 ObS 129/15s, SSV-NF 29/71) muss in der derzeitigen Verfahrenssituation nicht eingegangen werden. Dafür, dass bei der Klägerin zwischen Antragstellung und kein Pflegebedarf zumindest entsprechend der Stufe 1 gegeben gewesen wäre, bestehen nach den bisherigen Ergebnissen der im Akt erliegenden ärztlichen Gutachten (Blgen ./1–3) keine Anhaltspunkte.

5. Daraus folgt für den vorliegenden Fall:

5.1 Im Hinblick auf die Antragstellung am ist § 3a BPGG idF vor dem BGBl I 2015/12 anzuwenden, in der die Einschränkung „sofern nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist“ noch nicht enthalten war.

5.2 Nach der zu dieser Rechtslage ergangenen Rechtsprechung (siehe oben Pkt 2.1) stellt § 3a BPGG eine ausreichende Anspruchsgrundlage für den Bezug des Pflegegelds nach dem BPGG auch dann dar, wenn die in Österreich aufhältige Klägerin nur eine bulgarische Pension bezieht (10 ObS 36/14p, SSV-NF 28/39; RS0129521). Der Umstand, dass nach Unionsrecht Bulgarien der für Geldleistungen bei Krankheit leistungszuständige Staat ist, steht bei Anwendung des § 3a BPGG idF BGBl I 2013/3 einem Anspruch auf Pflegegeld nach dem BPGG somit nicht entgegen, sofern die (weiteren) Anspruchsvoraussetzungen nach dem nationalen Recht erfüllt sind.

6. Sind für die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen nach § 3a BPGG idF BGBl I 2013/3 zu bejahen, fehlen die erforderlichen Feststellungen zu den weiteren Anspruchsvoraussetzungen nach dem BPGG. Die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und die Rückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur Verfahrensergänzung war daher unumgänglich.

7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00138.19W.1119.000

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