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OGH vom 27.04.2004, 10ObS13/04s

OGH vom 27.04.2004, 10ObS13/04s

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Friedrich Stefan (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hansjörg D*****, vertreten durch Dr. Robert Peisser, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 25 Rs 101/03v-30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 45 Cgs 137/02i-23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Bei dem am geborenen Kläger liegen eine bipolare affektive Störung, eine Persönlichkeitsstörung im Sinne einer emotional instabilen Persönlichkeit, eine Grenzbegabung und eine chronische, nikotin-indizierte Emphysem-Bronchitis mit deutlicher obstruktiver Ventilationsstörung vor. Er ist aufgrund der psychiatrischen Diagnosen nicht mehr in der Lage, unter den üblichen Bedingungen eines Arbeitsverhältnisses Arbeiten zu verrichten. Schon seit Eintritt in das Erwerbsleben war der Kläger durchgehend auf ein besonderes Entgegenkommen der Arbeitgeber angewiesen.

Mit Bescheid vom hat die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den am gestellten Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, dass ein bereits vor Eintritt in das Berufsleben eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im Wesentlichen unveränderter Zustand den Versicherungsfall der Invalidität nicht begründen könne.

Das Erstgericht teilte diese Rechtsansicht und wies das auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab dem Stichtag () gerichtete Klagebegehren mit Urteil vom (= Tag des Schlusses der mündlichen Verhandlung in erster Instanz) ab.

Mit Urteil vom gab das Berufungsgericht der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens (wegen behaupteter Verletzung der Anleitungspflicht), übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und bestätigte die Rechtsansicht der Vorinstanz. Die ordentliche Revision wurde nicht zugelassen, weil sich das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung an einer gesicherten höchstgerichtlichen Rechtsprechung orientiert habe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der klagenden Partei aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Die Revision ist im Hinblick auf die zwischenzeitig in Kraft getretene Bestimmung des § 255 Abs 7 ASVG, deren intertemporaler Anwendungsbereich zu klären ist, zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.

Ein vom Berufungsgericht verneinter und nun in der Revision neuerlich gerügter Mangel des Verfahrens erster Instanz kann nach ständiger Rechtsprechung - auch in Verfahren nach dem ASGG - im Revisionsverfahren nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden (SSV-NF 5/116, 7/74, 11/15 uva; RIS-Justiz RS0042963 [T45] und RS0043061; Kodek in Rechberger2 § 503 ZPO Rz 3). Dies gilt auch für eine unter dem Gesichtspunkt der Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz gerügte Verletzung der richterlichen Anleitungspflicht (RIS-Justiz RS0043172 [T2]).

Das Berufungsgericht hat sich mit Hinweis auf die im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten ausreichend mit der Beweisrüge des Klägers auseinandergesetzt; die behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt daher ebenfalls nicht vor.

Die von den Vorinstanzen vertretene Rechtsansicht deckt sich mit der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu den in das Versicherungsverhältnis eingebrachten Leiden (SZ 60/198 = SSV-NF 1/33; SSV-NF 1/67; SZ 61/187 = SSV-NF 2/87 uva; RIS-Justiz RS0084829, RS0085107). Lediglich in einer Sonderkonstellation - Erwerb besonders vieler Beitragsmonate - wurde zuletzt in der Entscheidung 10 ObS 249/02v eine Klärung aufgetragen, ob der Versicherte in der Lage war, eine verwertbare Arbeitsleistung zu erbringen. Ein dem vergleichbarer Fall liegt hier jedoch nicht vor.

Zu beachten ist allerdings, dass sich nach Erlassung der angefochtenen Entscheidung des Berufungsgerichts vom die Rechtslage geändert hat. Mit dem 2. Sozialversicherungs-Änderungsgesetz 2003 (2. SVÄG 2003), BGBl I 2003/145, wurde dem § 255 ASVG folgender Abs 7 angefügt: "(7) Als invalid im Sinne der Abs. 1 bis 4 gilt der (die) Versicherte auch dann, wenn er (sie) bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande war, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen, dennoch aber mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz erworben hat." Nach § 610 Abs 1 Z 1 ASVG tritt diese Bestimmung mit in Kraft.

Nach der ständigen Rechtsprechung hat das Rechtsmittelgericht auf eine Änderung der Rechtslage Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das umstrittene Rechtsverhältnis anzuwenden sind (Kodek in Rechberger2 § 482 ZPO Rz 11 mwN uva; RIS-Justiz RS0031419). Insbesondere sind Änderungen des zwingenden Rechts, sofern nicht Übergangsrecht etwas anderes bestimmt, vom Rechtsmittelgericht ohne weiteres von Amts wegen seiner Entscheidung zugrunde zu legen, auch wenn der zu beurteilende Sachverhalt bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts verwirklicht wurde (SZ 69/238, SZ 71/89 ua; RIS-Justiz RS0106868; Fasching LB2 Rz 1927).

Im vorliegenden Fall ist jedoch zu beachten, dass aufgrund der Pensionsantragstellung der Stichtag ausgelöst wurde. Die Frage, ob eine Leistung der Pensionsversicherung gebührt, ist nach den Verhältnissen am Stichtag zu prüfen. Es genügt nicht, dass die Voraussetzungen für eine Versicherungsleistung zu einem beliebigen Zeitpunkt vorliegen, sie müssen vielmehr nach dem Wortlaut des § 223 Abs 2 ASVG an einem ganz bestimmten Tag, eben dem Stichtag gegeben sein (SZ 62/22 = SSV-NF 3/27; SSV-NF 4/21). Der Stichtag ist auch maßgeblich für die Frage, welche Rechtslage anzuwenden ist (SSV-NF 15/87, RIS-Justiz RS0084524, RS0115809).

Nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofes ist dann, wenn eine Änderung des Gesundheitszustandes, eine Gesetzesänderung oder eine sonstige Änderung der Anspruchsvoraussetzungen (etwa auch das Erreichen eines bestimmten Lebensalters, wenn dies zur Anwendung geänderter Voraussetzungen für den Anspruch auf die begehrte Leistung führt) während des Verfahrens eintritt, die sich daraus ergebende Änderung bei der Entscheidung zu berücksichtigen ist. Es wird durch diese Änderungen, sofern sie für den erhobenen Anspruch von Bedeutung sind, ein neuer Stichtag ausgelöst und die Anspruchsvoraussetzungen sind zu diesem - neuen - Stichtag zu prüfen (SSV-NF 3/134, 4/129, 7/92 ua; RIS-Justiz RS0085973, RS0084533). In diesem Sinne hat der Oberste Gerichtshof etwa in der Entscheidung 10 ObS 319/88 (= SSV-NF 3/1) ganz allgemein ausgesprochen, dass es nicht nur auf die Verhältnisse am Stichtag ankommt, sondern dass dem Klagebegehren auch dann stattzugeben ist, wenn die Voraussetzungen für den Anspruch erst nach dem Stichtag eintreten und dass diesbezüglich § 86 ASGG sinngemäß anzuwenden ist. Voraussetzung ist allerdings, dass die Anspruchsvoraussetzungen zu einem vor Schluss der Verhandlung erster Instanz liegenden Stichtag erfüllt sind. Somit verbietet die Stichtagsregelung eine Wahrnehmung von sich auf die Anspruchsvoraussetzungen beziehenden Rechtsänderungen, die erst während des Rechtsmittelverfahrens eintreten (SSV-NF 3/134 ua).

Diesem Ergebnis steht auch nicht eine Reihe von in den letzten Jahren ergangenen Entscheidungen entgegen, denen jeweils zugrunde lag, dass zwar erst nach dem Berufungsurteil eine Rechtsänderung verlautbart wurde, die allerdings auf den Stichtag zurückwirkte. In den Entscheidungen vom , 10 ObS 294/01k und 10 ObS 24/02f, ging es jeweils um die Beseitigung des § 255 Abs 21 BSVG mit Ablauf des durch § 280 Abs 2 Z 1 BSVG idF der 24. BSVG-Nov, BGBl I Nr 101/2001. Durch die gesetzgeberische Maßnahme wurde rückwirkend - mit Geltung auch für den Stichtag - eine bestimmte Rechtslage hergestellt. Gleiches gilt für das mit dem Tag der Kündigung des alten Abkommens - - rückwirkende Inkrafttreten des AbkSozSi Österreich-Jugoslawien vom , BGBl III 2002/100 (10 ObS 297/02b = RIS-Justiz RS0110568 [T8]). Im Fall der Änderung des § 1 Z 1 KGEG durch das Bundesgesetz, mit dem das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz geändert wird (BGBl I 2002/40), lag eine spezielle Übergangsvorschrift in § 21a KGEG idF der Z 3 BGBl I 2002/40 vor (10 ObS 51/02a = RS0115954 [T1]).

Ausgehend von der Rechtslage am Stichtag, zu dem § 255 Abs 7 ASVG idF des 2. Sozialversicherungs-Änderungsgesetzes 2003 (2. SVÄG 2003), BGBl I 2003/145, noch nicht anzuwenden ist, erweist sich das Begehren des Klägers als zur Gänze unberechtigt. Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.