OGH vom 20.06.1995, 10ObS105/95
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber Hon.Prof.Dr.Gottfried Winkler und Dr.Theodor Zeh in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr.Otto R*****, vertreten durch Dr.Helmut Winkler, Dr.Udo Elsner und Dr.Alexander Illedits, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr.Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kostenzuschusses infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 14/95-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom , GZ 19 Cgs 116/93z-11, bestätigt wurde in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird an das Prozeßgericht erster Instanz zur Verhandlung und Urteilsfällung zurückverwiesen.
Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der Kläger ist bei der beklagten Sozialversicherungsanstalt der Bauern in der Krankenversicherung pflichtversichert und bei der Wiener Gebietskrankenkasse gemäß § 16 ASVG in der Krankenversicherung selbstversichert. Im September (1. bis 14.) 1992 nahm der Wahlarzt Dr.Walter W*****, Facharzt für Zahnheilkunde, beim Kläger eine Zahnbehandlung vor, für die er eine Honorarnote über 30.000 S legte. Der Kläger gab am selben Tag zwei Anträge an die beiden Krankenversicherungsträger zur Post, in denen er unter Vorlage der saldierten Honorarnote den Rückersatz der Behandlungskosten begehrte. Beide Anträge langten am ein. Die Wiener Gebietskrankenkasse erstattete dem Kläger am (einschließlich Umsatzsteuer) 1.644 S.
Die Beklagte lehnte einen Kostenzuschuß mit Bescheid vom unter Berufung auf § 128 ASVG ab, weil die Behandlungskosten schon von der Wiener Gebietskrankenkasse erstattet worden seien.
Dieser Bescheid trat durch die innerhalb von vier Wochen ab seiner Zustellung (§ 67 Abs 2 ASGG) erhobene Klage zur Gänze außer Kraft (§ 71 Abs 1 leg cit). Deren nach § 82 ASGG hinreichend bestimmtes Begehren richtet sich auf einen Kostenzuschuß für die erwähnte Rechnung des Wahlzahnarztes im gesetzlichen Ausmaß. Es stützt sich darauf, daß Barleistungen aus jeder der in Betracht kommenden Versicherung gebührten. § 128 ASVG sei im Falle der freiwilligen Weiterversicherung in der Krankenversicherung nicht anzuwenden.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Nach § 128 ASVG sei auch die Erstattung von Kosten anstelle von Sachleistungen für ein und denselben Versicherungsfall nur einmal zu gewähren.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Durch die Inanspruchnahme eines Wahlarztes und des dafür vorgesehenen Kostenersatzes werde aus der Sachleistung keine Barleistung. Daß der Kläger beide Versicherungen gleichzeitig in Anspruch genommen habe, könne nicht dazu führen, daß er die Leistung von beiden Versicherungsträgern erhalte. In diesem Fall entscheide das Zuvorkommen, so daß nur die Wiener Gebietskrankenkasse zu leisten habe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und erklärte die ordentliche Revision für zulässig. Es erachtete die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes für zutreffend (§ 500a ZPO). Die Rechtsansicht des Klägers, daß die Selbstversicherung nicht zu einer mehrfachen Krankenversicherung iS des § 128 ASVG führe, sei unrichtig. Nach dieser Gesetzesstelle habe der mehrfach Versicherte die Wahl, die Leistungspflicht des Versicherungsträgers auszulösen, den er zuerst in Anspruch nehme. Nehme er beide Versicherungsträger gleichzeitig in Anspruch, begebe er sich dieses Wahlrechtes und überlasse die Leistungsgewährung dem Zuvorkommen. Auch in diesem Fall seien Sachleistungen für ein und denselben Versicherungsfall nur einmal zu gewähren. Der Gesetzgeber habe durch die 9. ASVGNov ausdrücklich klargestellt, daß dies auch für die Erstattung von Kosten anstelle von Sachleistungen gelte.
In der Revision macht der Kläger unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) geltend; er beantragt, das angefochtene Urteil "aufzuheben" (richtig: abzuändern) und dem Klagebegehren stattzugeben.
Die Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nach § 46 Abs 1 ASGG zulässig; sie ist auch berechtigt.
§ 128 ASVG hatte in der Stammfassung folgenden Wortlaut:
"(1) Bei mehrfacher Krankenversicherung nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes sind die Sachleistungen für ein und denselben Versicherungsfall nur einmal zu gewähren, und zwar von dem Versicherungsträger, den der Versicherte zuerst in Anspruch nimmt. Die Barleistungen gebühren jedoch aus jeder der in Betracht kommenden Versicherungen.
(2) Die Bestimmungen des Abs 1 gelten entsprechend, wenn neben einer Krankenversicherung nach diesem Bundesgesetz eine Krankenversicherung auf Grund der im § 2 Abs 2 bezeichneten Vorschriften beteiligt ist."
Nach der RV zur Stammfassung 599 BlgNR 7. GP 52 enthält § 128 ASVG die erforderlichen leistungsrechtlichen Sonderbestimmungen für Personen, die mehrfach in der gesetzlichen Krankenversicherung (KV) erfaßt sind, sei es auf Grund mehrerer Beschäftigungen oder auf Grund einer Beschäftigung und des Bezuges einer Sozialversicherungsrente. Die Sonderregelung sei notwendig, weil die Vorlage eine mehrfache Versicherung nicht ausschließe. Übe zB der Versicherte mehrere Beschäftigungen nebeneinander aus, von denen jede die Voraussetzungen für die Pflichtversicherung aufweise, so trete in jeder dieser Beschäftigungen die Pflichtversicherung ein. Das gleiche gelte, wenn ein aus dem Titel des Rentenbezuges für den Krankheitsfall Versicherter einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehe. In allen diesen Fällen bestehe in jeder dieser Versicherungen die Pflicht zur Entrichtung der Beiträge, wobei die Höchstbeitragsgrundlage in jedem einzelnen Beschäftigungsverhältnis zu berücksichtigen sei (§ 45 Abs 2). Es sei daher recht und billig, daß ein derart mehrfach Versicherter auch die Barleistungen aus jeder der in Betracht kommenden Versicherungen erhalte. Hingegen lasse es die Eigenart der Sachleistungen nicht zu, auch diese Leistungen für ein und denselben Versicherungsfall mehrfach zu gewähren. Die in der Vorlage vorgesehene Regelung entspreche im wesentlichen der Regelung im bisherigen Recht.
Durch die 9. ASVGNov BGBl 1962/13 wurde im § 128 Abs 1 ASVG nach dem Wort Sachleistungen der Klammerausdruck "die Erstattung von Kosten an Stelle von Sachleistungen" eingefügt.
Der Initiativantrag führte zu dieser Änderung aus (zit nach MGA ASVG 47. ErgLfg 754 FN 1a): "Durch die Inanspruchnahme eines Wahlarztes und des für diesen Fall im § 131 Abs 1 vorgesehenen Kostenersatzes wird aus der Gewährung der ärztlichen Hilfe als Sachleistung (§ 133 Abs 2 und § 135 Abs 1) keine Barleistung. Um diesen Grundsatz auch in den Fällen des § 128 Abs 1 eindeutig zum Ausdruck zu bringen, soll diese Bestimmung entsprechend ergänzt werden. Es soll damit jeder Zweifel ausgeschlossen werden, daß die Erstattung von Kosten anstelle von Sachleistungen bei mehrfacher Versicherung - wie alle sonstigen Sachleistungen - nur einmal in Anspruch genommen werden kann. In der geltenden Rechtslage tritt durch diese Neufassung keine Änderung ein."
§ 128 ASVG lautet in der im vorliegenden Fall anzuwendenden geltenden Fassung:
"Bei mehrfacher Krankenversicherung nach den Bestimmungen dieses oder eines anderen Bundesgesetzes sind die Sachleistungen (die Erstattung von Kosten anstelle von Sachleistungen) für ein und denselben Versicherungsfall nur einmal zu gewähren, und zwar von dem Versicherungsträger, den der Versicherte zuerst in Anspruch nimmt. Die Barleistungen gebühren aus jeder der in Betracht kommenden Versicherungen."
Diese Vorschrift gilt nach § 2 Abs 2 Z 2 ASVG ua auch für die KV der Bauern.
Die Regelung des § 128 ASVG gilt nur bei mehrfacher KV nach den Bestimmungen des ASVG oder eines anderen BG. Diesbezüglich haben die Vorinstanzen angenommen, daß der Kläger sowohl in der KV nach § 16 Abs 1 ASVG selbstversichert als auch in der KV nach dem BSVG pflichtversichert sei. Dabei haben sie jedoch übersehen, daß sich (nur) Personen, die nicht in einer gesetzlichen KV pflichtversichert sind, nach § 16 Abs 1 ASVG ... in der KV selbst versichern können. Die Selbstversicherung endet nach Abs 6 leg cit ua mit dem Wegfall der Voraussetzungen, also insbesondere mit dem Beginn einer Pflichtversicherung.
Sofern Pflichtversicherungsverhältnisse bestehen, ist - von Fällen der Höherversicherung abgesehen - kein Raum für freiwillige Sozialversicherungsverhältnisse.
In allen Fällen der freiwilligen Versicherung gilt also der Grundsatz der Subsidiarität gegenüber der Pflichtversicherung (Krejci/Marhold in Tomandl, SV-System 5. ErgLfg 44, 98f).
Da es neben einer Pflichtversicherung in der gesetzlichen KV keine Selbstversicherung in der KV geben kann, bei der es sich um eine freiwillige Versicherung handeln würde, ist dem Revisionswerber zuzustimmen, daß § 128 ASVG jedenfall dann nicht anzuwenden ist, wenn - wie im vorliegenden Fall - nur eine einzige Pflichtkrankenversicherung vorliegt. Dies ist die nach dem BSVG. Die auf die E des OLG Wien SVSlg 28.928 = SSV 24/127 gestützte gegenteilige Rechtsansicht des Berufungsgerichtes und der Revisionsgegnerin verkennt den bereits erwähnten subsidiären Charakter der (freiwilligen) Selbstversicherung.
Deshalb hat die Beklagte dem Kläger nach § 95 Abs 1 BSVG als Leistungen der Zahnbehandlung insbesondere chirurgische und konservierende Zahnbehandlung zu gewähren. Da der anspruchsberechtigte Kläger nicht die Vertragspartner, die eigenen Einrichtungen oder Vertragseinrichtungen der Beklagten zur Erbringung der Leistungen der Zahnbehandlung in Anspruch genommen hat, gilt nach Abs 6 leg cit § 88 Abs 1 bis 3 entsprechend. Danach gebührt dem Kläger ein Kostenzuschuß (§ 80) zu einer anderweitigen Zahnbehandlung in der Höhe des Betrages, der bei Inanspruchnahme der entsprechenden Vertragspartner aufzuwenden gewesen wäre. Wird die Vergütung für die Tätigkeit des entsprechenden Vertragspartners nicht nach den erbrachten Einzelleistungen bestimmt, hat die Satzung Pauschalbeträge für die Kostenzuschüsse festzusetzen.
Da die Vorinstanzen von der vom Revisionsgericht nicht geteilten Rechtsansicht ausgingen, daß die Beklagte nicht leistungspflichtig sei, wurden nach Inhalt der Prozeßakten dem Revisionsgericht erheblich scheinende Tatsachen bisher weder erörtert noch festgestellt (§ 496 Abs 1 Z 3 iVm § 513 ZPO). Dies betrifft vor allem die Umstände der durch den Nichtvertragspartner erbrachten Zahnbehandlungsleistungen, ohne deren Kenntnis die Höhe des zu gewährenden Kostenzuschusses nicht ermittelt werden kann.
Wegen dieser Feststellungsmängel sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben; die Sozialrechtssache ist zur Verhandlung und Urteilsfällung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückzuverweisen (§§ 496, 503 Z 4, 511 und 513 ZPO).
Der Vorbehalt der Entscheidung über die Pflicht zum Ersatz der Kosten der Berufung und der Revision beruht auf dem gemäß § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.