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VfGH vom 30.06.2012, B1101/10

VfGH vom 30.06.2012, B1101/10

Sammlungsnummer

19661

Leitsatz

Verletzung im Eigentumsrecht durch Vorschreibung von Pönalezinsen für die Überschreitung der Veranlagungsgrenze nach dem Betrieblichen Mitarbeiter- und Selbständigenvorsorgegesetz infolge offenkundigen Widerspruchs der Regelung zum Unionsrecht; Durchsetzung des Unionsrechts in jedem Stadium des Verfahrens

Spruch

I. Die beschwerdeführenden Gesellschaften sind durch die angefochtenen Bescheide in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums verletzt worden.

II. Die Bescheide werden aufgehoben.

III. Die Finanzmarktaufsichtsbehörde ist schuldig, den beschwerdeführenden Gesellschaften zu B1101/10, B1102/10, B1103/10 und B1104/10 zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit insgesamt € 3.760,-- bestimmten Prozesskosten sowie der beschwerdeführenden Gesellschaft zu B1105/10 zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Die fünf beschwerdeführenden Gesellschaften sind betriebliche Vorsorgekassen iSd Betrieblichen Mitarbeiter- und Selbständigenvorsorgegesetzes, BGBl. I 100/2002 idF BGBl. I 147/2009 (in der Folge: BMSVG), und als solche zum Betrieb des "Betrieblichen Vorsorgekassenschäfts" gemäß § 1 Abs 1 Z 21 des Bundesgesetzes über das Bankwesen, BGBl. 532/1993 idF BGBl. I 58/2010 (in der Folge: BWG), berechtigt. Alle beschwerdeführenden Gesellschaften erwarben Anteile an verschiedenen Investmentfonds mit Sitz in Luxemburg, welche zum Zeitpunkt ihres Erwerbs nicht zum Vertrieb in Österreich berechtigt waren.

2. Mit Bescheiden der Finanzmarktaufsichtsbehörde vom (zu B1101/10 sowie B1103-1105/10) und (zu B1102/10) wurden den beschwerdeführenden Gesellschaften jeweils gemäß § 43 Abs 1 Z 2 BMSVG Geldbeträge in unterschiedlicher Höhe zur Zahlung für die Überschreitung der Veranlagungsgrenze des § 30 Abs 2 Z 5 leg.cit. vorgeschrieben. Begründend führte die belangte Behörde insbesondere aus, dass die von den beschwerdeführenden Gesellschaften erworbenen Fonds zum Erwerbszeitpunkt nicht zum Vertrieb in Österreich zugelassen gewesen seien.

3. In den gegen diese Bescheide an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerden wird insbesondere geltend gemacht, dass die belangte Behörde bei der Erlassung ihrer Entscheidungen verfassungswidrige Gesetzesbestimmungen, nämlich § 30 Abs 2 Z 5 BMSVG sowie § 43 Abs 1 Z 2 leg.cit., angewendet habe. Die Bescheide würden die Beschwerdeführerinnen in ihren verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art 7 B-VG und auf Unverletzlichkeit des Eigentums gemäß Art 5 StGG bzw. Art 1 1. ZPEMRK verletzen. Darüber hinaus wird in der Beschwerde zu B1105/10 auch die Verletzung der Rechte auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK sowie auf Freiheit der Erwerbsbetätigung gemäß Art 6 StGG geltend gemacht.

4. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete zu den eingebrachten Beschwerden Gegenschriften, in welchen sie beantragte, die Beschwerden als unbegründet abzuweisen. Die beschwerdeführenden Gesellschaften zu B1101-1104/10 legten in weiterer Folge eine Äußerung zur Gegenschrift der belangten Behörde vor.

5. Aus Anlass einer - von der beschwerdeführenden Gesellschaft zu B1101/10 - beim Verwaltungsgerichtshof eingebrachten Beschwerde stellte dieser ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union, in dem er folgende Frage vorlegte:

"Ist eine Bestimmung, die einer Betrieblichen Vorsorgekasse die Veranlagung des in einer Veranlagungsgemeinschaft zugeordneten Vermögens nur in Anteilscheinen von Kapitalanlagefonds gestattet, die zum Vertrieb in Österreich zugelassen sind, mit der in Art 63 ff. AEUV umschriebenen Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar?"

Der Gerichtshof der Europäischen Union führte in

seinem diesbezüglich erlassenen Urteil vom aus, dass Art 63 Abs 1 AEUV einer nationalen Regelung entgegenstehe, "die einer Betrieblichen Vorsorgekasse oder der von dieser zur Verwaltung ihrer Mittel eingerichteten Veranlagungsgemeinschaft die Veranlagung dieser Mittel in Anteilscheinen eines Kapitalanlagefonds, der in einem anderen Mitgliedstaat errichtet ist, nur gestattet, wenn dieser Fonds zum Vertrieb seiner Anteile im Inland zugelassen worden ist."

(, Vorsorgekasse, Slg. 2012 [Rz 39]).

II. Rechtslage

Die maßgeblichen Bestimmungen des BMSVG, BGBl. I 100/2002 idF BGBl. I 147/2009, lauten:

"Veranlagungsvorschriften

§30. (1) Die BV-Kasse hat die MV-Kassengeschäfte im Interesse der Anwartschaftsberechtigten zu führen und hiebei insbesondere auf die Sicherheit, Rentabilität und auf den Bedarf an flüssigen Mitteln sowie auf eine angemessene Mischung und Streuung der Vermögenswerte Bedacht zu nehmen.

(2) Die Veranlagung des einer Veranlagungsgemeinschaft zugeordneten Vermögens darf nur in folgenden Vermögensgegenständen erfolgen:

1. - 4. [...]

5. Anteilscheine von Kapitalanlagefonds gemäß dem I. und Ia. Abschnitt des InvFG 1993 sowie Anteilscheine von Kapitalanlagefonds, die gemäß

a) dem II. Abschnitt des InvFG 1993 oder

b) dem III. Abschnitt des InvFG 1993

zum Vertrieb berechtigt sind;

6. [...]

(3) - (6) [...]

[...]

Verfahrens- und Strafbestimmungen

§43. (1) Die FMA hat den BV-Kassen, ausgenommen bei Aufsichtsmaßnahmen nach § 70 Abs 2 BWG oder bei Überschuldung der BV-Kasse, für folgende Beträge Zinsen vorzuschreiben:

1. 2 vH der Unterschreitung der erforderlichen Eigenmittel gemäß § 20, gerechnet pro Jahr, für 30 Tage;

2. 5 vH der Überschreitung einer Veranlagungsgrenze gemäß § 30, gerechnet pro Jahr, für 30 Tage.

(2) - (3) [...]"

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die in

sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm § 35 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden erwogen:

1. Die angefochtenen Bescheide schreiben den beschwerdeführenden Gesellschaften Pönalezinsen aufgrund der Überschreitung von Veranlagungsgrenzen vor und greifen daher in ihr Eigentumsrecht ein.

Dieser Eingriff wäre nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 13.587/1993 mwN, 15.364/1998, 15.768/2000, 16.113/2001, 16.430/2002) dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre oder auf einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage beruhte, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte, ein Fall, der nur dann vorläge, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre.

2. Ein derartiger Fehler ist der belangten Behörde unterlaufen:

Die belangte Behörde hat ihren Bescheiden eine innerstaatliche gesetzliche Vorschrift, die offenkundig einer unmittelbar anwendbaren Norm des Unionsrechts, nämlich dem Art 63 Abs 1 AEUV (zur unmittelbaren Anwendbarkeit dieser Bestimmung s. Öhlinger/Potacs, EU-Recht und staatliches Recht, 2011, 66), widerspricht, deren Anwendung also der Anwendungsvorrang unmittelbar anwendbaren Unionsrechts entgegensteht, zugrunde gelegt. Eine derartige Gesetzesanwendung ist einer Gesetzlosigkeit gleichzuhalten, weshalb die beschwerdeführenden Gesellschaften im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums nach Art 1 des 1. ZPEMRK verletzt sind (vgl. hiezu VfSlg. 15.448/1999).

Nun ist der belangten Behörde nicht subjektiv vorwerfbar, dass sie die Unanwendbarkeit der von ihr den Bescheiden zugrundegelegten innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht erkannt hat, da deren Unanwendbarkeit erst mit dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom , Rs. C-39/11, Vorsorgekasse, Slg. 2012, offenkundig wurde. Dessen ungeachtet hat der Verfassungsgerichtshof den nunmehr deutlich gewordenen Fehler aufzugreifen: Alle Gerichte der Mitgliedstaaten haben nämlich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden und für die volle Wirksamkeit der unionsrechtlichen Normen Sorge zu tragen, indem sie erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen (vgl. 106/77, Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal, Slg. 1978, I-629 [Rz 21/23]). Diese Verpflichtung trifft auch den Verfassungsgerichtshof. Folglich hat der Verfassungsgerichtshof die festgestellte Rechtswidrigkeit der Gesetzesanwendung im Sinne der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts in jedem Stadium des Verfahrens zu beachten, und zwar auch dann, wenn die Nichtanwendbarkeit des innerstaatlichen Rechts - wie im vorliegenden Fall - erst im Zuge des Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof offenkundig wurde.

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Die angefochtenen Bescheide waren sohin wegen Verletzung des durch Art 1 des 1. ZPEMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Unversehrtheit des Eigentums aufzuheben, ohne dass auf die weiteren Beschwerdevorbringen einzugehen war.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. Den beschwerdeführenden Gesellschaften zu B1101/10, B1102/10, B1103/10 und B1104/10 war insgesamt der einfache Pauschalsatz - erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag - zuzusprechen, weil sie durch ein und denselben Rechtsanwalt vertreten waren und es ihnen sowohl in zeitlicher als auch in sachverhaltsmäßiger und rechtlicher Hinsicht möglich gewesen wäre, gegen die - vom Sachverhalt und der rechtlichen Beurteilung her - gleichgelagerten Bescheide eine gemeinsame Beschwerde einzubringen (vgl. VfSlg. 17.317/2004).

In den zugesprochenen Kosten sind Umsatzsteuer in Höhe von € 480,-- bzw. € 400,-- sowie der Ersatz der für jede Beschwerde entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 220,-- enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.