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OGH vom 30.04.2002, 10ObS102/02a

OGH vom 30.04.2002, 10ObS102/02a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Herbert Stegmüller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Elfriede F*****, Diplomkrankenschwester, *****, vertreten durch Dr. Norbert Moser, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 232/01v-27, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 32 Cgs 93/00h-23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben:

"Der Anspruch der Klägerin auf Versehrtenrente besteht ab mit 20 vH der Vollrente dem Grunde nach zu Recht.

Der beklagten Partei wird aufgetragen, der Klägerin vom bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von EUR 50,-- monatlich zu erbringen, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteiles fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren jeweils am Ersten eines Monats im nachhinein."

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der klagenden Partei zu Handen ihres Vertreters binnen 14 Tagen die mit EUR 333,12 (hierin enthalten EUR 55,52 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am geborene Klägerin ist seit 1980 Diplomkrankenschwester im Landeskrankenhaus K*****. Bis 1991 war sie dort vollzeit- und danach nur mehr halbtags beschäftigt. Die Teilzeitbeschäftigung ist die Klägerin deshalb eingegangen, weil sie mittlerweile zwei Kinder hat und deren Erziehung anders nicht möglich ist.

1989 erlitt die Klägerin den ersten Asthmaanfall; seit 1996 steht sie in Behandlung. Sie benötigt ein cortisonhaltiges und ein nichtcortisonhaltiges Spray; dazu nimmt sie noch regelmäßig entzündungshemmende Tabletten, die die Atmung erleichtern. Die Klägerin leidet an einer Latexallergie, weiters an sogenannten Kreuzallergien auf Kartoffel, Ananas, Tomaten und Kiwi. Früher waren die Latexhandschuhe mit Puder beschichtet, das sich beim Ausziehen durch die Klimaanlage in der ganzen Abteilung, in der die Klägerin beschäftigt war, verteilt hat. Zwischenzeitig wurde die gesamte Abteilung auf puderfreie Latexhandschuhe umgestellt. Die Klägerin selbst verwendet sei Jänner 1999 keine Latexhandschuhe mehr, sondern zieht eigens angeschaffte Vinylhandschuhe an.

Der Arbeitsplatz der Klägerin auf der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin des LKH K***** wird mittlerweile von Latexstaub freigehalten. Aus arbeitsmedizinischer Sicht ist der Arbeitsplatz der Klägerin allerdings nicht völlig frei von Latex bzw Latexstaub. Es sind latexhaltige Gegenstände vorhanden, die selten in Gebrauch sind. Durch die weitgehende arbeitsmedizinische Sanierung des Arbeitsplatzes der Klägerin ist es gelungen, die Intensität der Latexkontamination weitgehend zu eliminieren, sodass eine deutliche Besserung des Zustandes der Klägerin eingetreten ist, indem sich die akuten Asthmaschübe drastisch vermindert haben. Die Basismedikation muss von der Klägerin weiter genommen werden. Kreuzallergien sind nach wie vor vorhanden.

Die Klägerin arbeitet in der gleichen Tätigkeit wie vor ihrer Erkrankung. Die Klägerin kann ihre Tätigkeit nach wie vor, nunmehr aufgrund der getroffenen Arbeitsschutzmaßnahmen ohne Gefährdung der Gesundheit verrichten. Ein Wechsel des Arbeitsplatzes würde das Problem des berufskausalen endogenen Asthma bronchiale nicht verbessern. Es kann auch außerhalb der beruflichen Tätigkeit zu Latexkontakten kommen, die allergische Reaktionen hervorrufen können. Aus lungenfachärztlicher Sicht besteht bei der Klägerin ein Asthma bronchiale, eine Rhinitis sowie eine Ekzemneigung. Aufgepropft ist eine Latexallergie, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH bewirkt.

Am wurde bei der beklagten Partei eine ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit der Klägerin (Latexallergie) erstattet. Mit Bescheid vom hat die beklagte Partei die Atemwegserkrankung nicht als Berufskrankheit gemäß § 177 ASVG Anlage 1 Nr 30 (durch allergisierende Stoffe verursachte Erkrankungen an Asthma bronchiale, wenn und solange sie zur Aufgabe schädigender Tätigkeiten zwingen) anerkannt und einen Anspruch auf Versehrtenrente abgelehnt. Nach dem Ergebnis des Feststellungsverfahrens sei die Erkrankung zwar beruflich verursacht; sie habe jedoch nicht zur Aufgabe schädigender Tätigkeiten gezwungen.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene, auf Zahlung einer Versehrtenrente im Ausmaß von zumindest 20 vH der Vollrente ab dem frühestmöglichen gesetzlichen Stichtag gerichtete Klagebegehren ab. Aufgrund der Weiterarbeit der Klägerin an ihrer bisherigen Arbeitsstelle bestehe mangels Aufgabe der schädigenden Tätigkeit kein Anspruch auf Versehrtenrente.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Die Klägerin sei weiterhin an ihrem Arbeitsplatz tätig und verrichte die gleichen Tätigkeiten wie früher. Aus dem Umstand, dass der Arbeitsplatz der Klägerin weitgehend frei von Allergenexposition sei und sie an Stelle der früher verwendeten gepuderten Latexhandschuhe nun Vinylhandschuhe trage, sei nicht der Schluss zu ziehen, dass die Klägerin die schädigende Tätigkeit aufgegeben habe. Eine Änderung habe sich nur bei den Hilfsmitteln ergeben, derer sich die Klägerin zur Verrichtung ihrer Tätigkeiten bediene. Diese Tätigkeiten seien nicht mehr schädigend und hätten nicht aufgegeben werden müssen. Damit fehle es aber an dem von § 177 ASVG Anlage 1 Nr 30 geforderten Tatbestandsmerkmal der Kausalität für den Zwang zur Aufgabe schädigende Tätigkeiten.

Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Klagsstattgebung. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Das Leiden der Klägerin fällt unter die Berufskrankheit Nr 30 der Anlage 1 zu § 177 ASVG, die seinerzeit in der Fassung der 41. ASVG-Novelle (BGBl 1986/111) wie folgt definiert wurde: „Erkrankungen an Asthma brochiale, wenn und solange sie zur Aufgabe schädigender Erwerbsarbeit zwingen". Mit der 49. ASVG-Novelle (BGBl 1990/294) und der 50. ASVG-Novelle (BGBl 1991/676) wurde die Definition geändert auf: „Durch allergisierende Stoffe verursachte Erkrankungen an Asthma brochiale, wenn und solange sie zur Aufgabe schädigender Tätigkeiten zwingen".

In den Gesetzesmaterialien zur 49. ASVG-Novelle (RV 1277 BlgNR XVII. GP 26) wird die Umstellung von "schädigender Erwerbsarbeit" auf "schädigende Tätigkeiten" folgendermaßen begründet: „Bei Hauterkrankungen bzw Erkrankungen an Asthma bronchiale ist derzeit vorgesehen, dass sie nur dann als Berufskrankheit gelten, wenn und solange sie zur Aufgabe schädigender Erwerbsarbeit zwingen. Diese Bedingung kann gerade bei selbständig Erwerbstätigen und hier insbesondere wieder bei Landwirten und deren mitarbeitenden Ehepartnern zu großen Problemen führen, da diese letztlich die Erwerbsarbeit 'Landwirt/Landwirtin' überhaupt aufgeben müssten, um Leistungen aus dem Titel einer Berufskrankheit erhalten zu können. Um diese Probleme und damit verbundene Härten möglichst zu vermeiden, zumindest aber zu verringern, wäre es wünschenswert, den im Bereich der Sozialversicherung ohnehin unüblichen und verschwommenen Begriff 'schädigende Erwerbsarbeit' durch den Begriff 'schädigende Tätigkeiten' zu ersetzen. Dies ist nicht nur medizinisch begründbar, da bei den in Betracht kommenden Krankheiten zumeist nur die Verrichtung bestimmter Tätigkeiten im Rahmen seiner 'Erwerbsarbeit' das Leiden auslösen oder verschlimmern kann, sondern auch sachlich gerechtfertigt, weil damit immerhin die Möglichkeit geschaffen würde, auch bei Personen eine Berufskrankheit anzuerkennen, die zwar nicht die eigentliche Erwerbsarbeit aufgeben (können), wohl aber jene Tätigkeiten im Rahmen ihres die Versicherung begründenden Berufes, die negativen Einfluss auf ihre Leiden haben.

Bei der Berufskrankheit Nr. 30 ist es im übrigen aus medizinischer Sicht angezeigt, präzisierend darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Erkrankung handeln muss, welche auf eine Allergie zurückzuführen ist."

Gemäß § 177 Abs 1 Satz 2 ASVG idF der 55. ASVG-Novelle (BGBl I 1998/138) gelten auch Hautkrankheiten nur dann als Berufskrankheiten, wenn und solange sie zur Aufgabe schädigender Tätigkeiten zwingen. Wie der Oberste Gerichtshof bereits in seinen Entscheidungen SSV-NF 1/65 und 2/25 dargestellt hat, lautete die Nr 19 der Anlage 1 in der Stammfassung des ASVG: "Schwere und wiederholt rückfällige berufliche Hauterkrankungen, die zum Wechsel des Berufes oder zur Aufgabe jeder Erwerbstätigkeit zwingen." Diese Fassung war der Anlage zur Dritten Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom , dRGBl I 1117 idF der Vierten Verordnung zur Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom , dRGBl I 85 (dort Nr 15) entnommen (599 BlgNR 7. GP 63). Mit der 29. ASVG-Novelle wurde die Nr 19 der Anlage 1 zum ASVG im Hinblick auf die schwierige Abgrenzung des Begriffs "Beruf" dahin geändert, dass Hautkrankheiten Berufskrankheiten sind, wenn und solange sie zur Aufgabe schädigender Erwerbsarbeit zwingen.

Nach der Zielsetzung all dieser Bestimmungen soll der Versicherungsträger entschädigungspflichtig sein, wenn eine medizinisch notwendige Aufgabe des Arbeitsplatzes vorgenommen wurde. Das Abstellen auf den Zwang zur Aufgabe schädigender Erwerbsarbeit bzw schädigender Tätigkeiten hat den Zweck, ein Verweilen des Versicherten auf dem gefährdenden Arbeitsplatz zu verhindern und dadurch eine Verschlechterung der Krankheit oder deren Wiederausbruch zu verhüten (SSV-NF 1/65, 2/104 ua; RIS-Justiz RS0084372; Krasney in Brackmann, Handbuch der SV, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII Rz 31 zu § 9). Daher wird auch in Fällen, in denen nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit keine akuten Krankheitserscheinungen bestehen, eine Entschädigung aus der Unfallversicherung gewährt. Grundlage für diese Entschädigung bildet in diesem Fall die latent vorhandene Krankheit, mit deren Ausbruch bei Ausübung der früheren Erwerbstätigkeit zu rechnen ist. An dem grundlegenden Ziel hat das Abstellen auf die "Aufgabe schädigender Tätigkeiten" an Stelle der früher geforderten "Aufgabe schädigender Erwerbsarbeit" nichts geändert.

Im vorliegenden Fall wurde am Arbeitsplatz der Klägerin - nachdem das Asthma bronchiale bereits die Erwerbsfähigkeit der Klägerin gemindert hatte - durch arbeitsmedizinische und sonstige organisatorische Maßnahmen ein Umfeld geschaffen, das es der Klägerin ermöglicht, nunmehr an diesem Arbeitsplatz die zuvor ausgeübten beruflichen Tätigkeiten als Diplomkrankenschwester ohne Schädigungsgefahr auszuüben. Die Schädigung war nicht durch die Tätigkeit als Diplomkrankenschwester ganz allgemein bewirkt worden, sondern durch diejenigen Tätigkeiten einer Diplomkrankenschwester, die einen Kontakt mit latexhaltigen Stoffen bedingten. Die Klägerin war zwar nicht gezwungen, ihre Berufstätigkeit als Diplomkrankenschwester aufzugeben; wohl aber musste sie diejenigen (schädigenden) Tätigkeiten aufgeben, die mit einem Kontakt mit Latex verbunden waren. Würde die Klägerin auf einen Arbeitsplatz als Diplomkrankenschwester wechseln, an dem sie wieder mit Latex (Latexstaub, latexhaltige Gegenstände) konfrontiert wird, muss damit gerechnet werden, dass die latent vorhandene Krankheit wiederum ausbricht. Im Sinne des oben dargestellten Zwecks des Abstellens auf die Aufgabe schädigender Tätigkeiten besteht daher eine Entschädigungspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung für die latent vorhandene Krankheit, mit deren Ausbruch bei Ausübung der (früheren) schädigenden Tätigkeiten zu rechnen ist (in diesem Sinn auch Krasney in Brackmann, Handbuch der SV, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII Rz 35 zu § 9; Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit6 104). Die Möglichkeit, dem Ausbruch durch Schutzmaßnahmen zu begegnen, schließt die Entschädigungspflicht nicht aus, da die Schutzmaßnahmen im konkreten Fall erst wirksam geworden sind, nachdem die Erwerbsfähigkeit der Klägerin aufgrund der Latexallergie bereits gemindert war (Nehls in Hauck, SGB VII Rz 34 zu § 9 mwN).

Nach den Feststellungen liegt aus medizinischer Sicht bei der Klägerin eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 20 vH vor. Diese medizinische Minderung der Erwerbsfähigkeit bildet im Allgemeinen auch die Grundlage für die rechtliche Einschätzung, sofern nicht ein Abweichen unter besonderen Umständen geboten ist (SSV-NF 1/ 64 = SZ 60/262; SSV-NF 11/130; SSV-NF 11/154 ua). Ein Abweichen kommt aber nur bei Vorliegen eines Härtefalls in Frage (SSV-NF 1/ 64 = SZ 60/262; zuletzt etwa 10 ObS 187/01z); ein solcher ist nicht erkennbar und wird auch in der Revision nicht aufgezeigt. Gemäß § 86 Abs 4 ASVG fallen Leistungen aus der Unfallversicherung, wenn innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles weder der Anspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruches gestellt wurde, mit dem Tag der späteren Antragstellung bzw mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens an, das zur Feststellung des Anspruches führte. Wird eine Unfallsanzeige innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles erstattet, so gilt der Zeitpunkt des Einlangens der Unfallsanzeige beim Unfallversicherungsträger als Tag der Einleitung des Verfahrens, wenn dem Versicherten zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung oder Einleitung des Verfahrens noch ein Anspruch auf Rentenleistungen zusteht. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass ein Anspruch auf Versehrtenrente ab besteht.

In Stattgebung der Revision war daher das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern, weshalb der beklagten Partei unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO auch die Erbringung einer vorläufigen Zahlung in Höhe von monatlich EUR 50,-- aufzutragen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.