OGH vom 08.10.2003, 9Ob102/03w

OGH vom 08.10.2003, 9Ob102/03w

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling, Dr. Hradil, Dr. Hopf und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Yasemin K*****, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters Bayram K*****, Türkei, vertreten durch MMag. Dr. Verena Rastner, Rechtsanwältin in Lienz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom , GZ 54 R 81/03p-45, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichtes Lienz vom , GZ 1 P 181/02a-40, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die Minderjährige, ein eheliches Kind des Revisionsrekurswerbers türkischer Staatsangehörigkeit und der Mutter Franziska K*****, einer österreichischen Staatsbürgerin, wurde ohne Wissen des Vaters von ihrer Mutter aus der Türkei nach Österreich gebracht. Mutter und Tochter halten sich seit im Sprengel des Erstgerichtes auf; ein weiterer ehelicher Sohn ist am in Österreich zur Welt gekommen und lebt ebenfalls bei der Mutter, die die Absicht hat, gemeinsam mit beiden Kindern ihren ständigen Wohnsitz in Österreich zu haben. Sie will weder zu ihrem Ehemann in die Türkei zurückkehren, noch die Kinder dem Vater überlassen. Auch die Tochter ist österreichische Staatsangehörige.

Der Vater beantragte die Rückführung seiner Tochter in die Türkei. Sie sei von der Mutter in ein fremdes Land gebracht worden, dessen Sprache und Kultur ihr völlig unbekannt seien. Diese Situation würde ihrem zukünftigen Leben sowie ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit Schaden zufügen. Die Mutter sei in Österreich in psychotherapeutischer Behandlung und nicht in der Lage, richtige Entscheidungen zu treffen.

Die Mutter sprach sich gegen den Rückführungsantrag aus. Die Tochter gehe in den Kindergarten, habe sehr viele Freunde und sich sehr gut eingelebt. Sie liebe auch ihren Bruder sehr. Sie spreche mittlerweile die deutsche Sprache. Die Mutter sei mit ihren Kindern in Österreich voll integriert. Die Tochter wolle bei der Mutter bleiben.

Das Erstgericht wies den Rückführungsantrag ab und stellte fest, dass sich die nunmehr fünfjährige Tochter in Österreich gut eingelebt habe und die deutsche Sprache spreche. Sie besuche seit September 2002 den Kindergarten. Sie kümmere sich liebevoll um ihren jüngeren Bruder und wolle nicht mehr zu ihrem Vater zurück. Die Mutter habe sich in Österreich voll integriert und nicht mehr die Absicht, in die Türkei zurückzukehren. Sie werde von ihren beiden Schwestern sowohl seelisch als auch bei der Betreuung der Kinder unterstützt. Die Mutter habe ihre Tochter zwar im Sinne des Art 3 des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung widerrechtlich aus der Türkei verbracht. Gemäß Art 13 sei das Gericht des ersuchten Staates jedoch nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn nachgewiesen wird, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden sei. Eine Rückführung zum Vater in die Türkei wäre für die Tochter mit einer schmerzlichen Trennung von ihrem Bruder und von ihrer Mutter verbunden. Sie wäre zweifelsohne der Gefahr neurotischer Störungen ausgesetzt, würde man sie aus der jetzigen Umgebung wieder herausreißen und in die Obhut eines Vaters zurückführen, den sie bereits seit einem Jahr nicht mehr gesehen hat und dessen Sprache sie kaum mehr verstehen könne. Da die Rückführung somit mit einem schweren seelischen Schaden bzw einem Schock verbunden wäre, sei der Rückführungsantrag aufgrund des Vorliegens des Ausnahmetatbestandes des Art 13 lit b des Übereinkommens abzuweisen.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig. Auch wenn die Mutter im erstinstanzlichen Verfahren nur vorgebracht habe, sie wolle in die Türkei nicht zurückkehren und die Tochter habe sich in Österreich eingelebt, könne in einer Verfahrensart, in der das Kindeswohl vorrangig maßgeblich sei, kein Zweifel daran bestehen, dass ein derartiges Vorbringen zumindest stillschweigend die Behauptung impliziere, eine Rückführung wäre mit der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens für das Kind verbunden. Da das konkrete Kindeswohl den Vorzug vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel, Kindesentführungen ganz allgemein zu unterbinden, habe, widerspreche es dem Übereinkommen, eine besondere Gefahrensituation, die die Rückgabe herbeiführen würde, bei der Entscheidung nicht zu berücksichtigen. Beachtlich sei daher bereits der Umstand, dass seit der Verbringung der Tochter nach Österreich ein längerer Zeitraum verstrichen ist und sich das Kind mit seiner Mutter am neuen Aufenthaltsort eingelebt habe. In einem vergleichbaren Fall habe sich aus einem Sachverständigengutachten ergeben, dass die Herausnahme eines kleinen Kindes aus der gewohnten mütterlichen Obhut ein destabilisierendes Gefühl sowie eine chronisch-akute Konfliktsituation bewirken und zu einem verstärkt verunsicherten Selbstwertgefühl und zu wachsender Traurigkeit führen würde. Dass in derartigen Fällen eine Rückführung mit der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens verbunden wäre, entspreche allgemeinen Erfahrungssätzen. Im vorliegenden Fall sei weiters zu bedenken, dass die Tochter offenkundig nicht einmal mehr die türkische Sprache ausreichend verstehe. Es bedürfe daher auch nicht der vom Vater begehrten Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens, weil bereits die dargelegten Umstände den Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens als "naheliegend erscheinen" ließen. Der Auffassung des Vaters, es stehe der Mutter frei, auch selbst in die Türkei zurückzukehren und auf diesem Wege eine Gefährdung des Kindeswohls hintanzuhalten, stehe auch entgegen, dass sich aus dem Akteninhalt eine tiefgreifende Entfremdung der Eheleute und ein entsprechend großes Konfliktpotential ergeben, dem die Tochter schutzlos ausgesetzt wäre. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer über die Bedeutung des konkreten Einzelfalls hinausgehenden erheblichen Rechtsfrage abhängig sei.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig und berechtigt.

Es entspricht zwar der herrschenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, dass die Frage, ob das Kindeswohl im Sinne des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens bei einer Rückgabe gefährdet ist, von den jeweiligen Umständen abhängt, worüber im Einzelfall zu entscheiden ist (RIS-Justiz RS0112662, RS0074568). In Wahrheit hat das Rekursgericht aber - mit Ausnahme der Bedachtnahme auf das Verlernen der türkischen Sprache (dieser "Mangel" könnte jedoch erfahrungsgemäß vom Kind rasch wieder aufgeholt werden) - überhaupt keine besonderen Umstände des konkreten Falles berücksichtigt. Vielmehr hat es in der Sache die Auffassung vertreten, bei einem fünfjährigen Kind, das sich rund ein Jahr lang (mit seiner Mutter) im Ausland befunden hat, wäre die Rückführung in die Heimat grundsätzlich mit einem schweren seelischen Schaden im Sinne der Ausnahmebestimmung des Übereinkommens verbunden.

Zur Frage der Behauptungs- und Beweislast des "Entführers" beruft sich der Vater auf die Judikatur des Obersten Gerichtshofs, die - in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des Übereinkommens - annimmt, dass jene Person, die sich der Rückgabe widersetzt, die Behauptungs- und Beweislast für das Vorliegen von Rückführungshindernissen trifft (RIS-Justiz RS0074561). Zutreffend hat das Rekursgericht jedoch darauf verwiesen, dass das Übereinkommen (Haager Übereinkommen vom über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung; BGBl 1988/512) ungeachtet der grundsätzlichen Anordnung einer Rückführung eines entführten Kindes in seine Heimat (Art 12 Abs 1) dem Kindeswohl klare Priorität einräumt (vgl nur JBl 2000, 388). So wird in der Präambel ausdrücklich darauf hingewiesen, dass "das Wohl des Kindes in allen Angelegenheiten des Sorgerechts von vorrangiger Bedeutung ist". Daraus ergibt sich, dass es auf konkrete Tatsachenbehauptungen der einer Rückführung entgegentretenden Person dann nicht ankommen kann, wenn im Verfahren Umstände hervorkommen, die das Vorliegen eines Rückführungshindernisses zumindest nicht unwahrscheinlich erscheinen lassen. Ist aus den Behauptungen des "Entführers" dessen Befürchtung erkennbar, dass das Kindeswohl durch eine Rückführung erheblich gefährdet wäre, so hat ihn das Pflegschaftsgericht auch über die Tatbestände des Übereinkommens zu belehren, die einer Rückführung entgegenstehen können, und ihm Gelegenheit zu geben, seine Einwendungen entsprechend zu konkretisieren.

Im vorliegenden Fall hat die Mutter mit ausreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass sie die Auffassung vertritt, eine Rückführung ihrer Tochter in die Türkei wäre mit einer Bedachtnahme auf deren Wohl nicht vereinbar. Ihr wird im fortzusetzenden Verfahren Gelegenheit zu geben sein, konkret darzulegen, welche Nachteile sie für das Kind befürchtet. Einen allgemeinen Erfahrungssatz, nach dem fünfjährige Kinder, die sich bereits einige Zeit mit der Mutter in deren Heimatstaat aufgehalten haben, bei einer Rückführung zum Vater in die bisherige Heimat mit größter Wahrscheinlichkeit seelische Schäden erleiden würden, gibt es entgegen der Auffassung des Rekursgerichts nicht. Maßgeblich sind regelmäßig eine Vielzahl von Kriterien, wie insbesondere die Persönlichkeit des jeweiligen Kindes, das bisherige Verhältnis zu Vater und Mutter, die zu erwartende Behandlung beim in der Heimat verbliebenen Elternteil und die Verwurzelung in der neuen Umgebung. Bloß kurzfristige Traurigkeitsgefühle in einer Umstellungsphase nach der Rückkehr können dann nicht als "seelischer Schaden" im Sinne des Art 13 lit b des Übereinkommens angesehen werden, wenn mit ausreichender Sicherheit zu erwarten wäre, dass das Kind nach einer gewissen Eingewöhnungszeit seine seelische Ausgeglichenheit wieder finden wird. Der bloße Wunsch des Kindes, bei seiner Mutter in Österreich zu bleiben, wäre nach Art 13 Abs 2 des Übereinkommens nur dann von Bedeutung, wenn das Kind aufgrund seines Alters und seiner Reife imstande ist, die Konsequenzen seines Wunsches abzuschätzen (vgl dazu nur Bach/Gildenast, Internationale Kindesentführung, Rz 142 ff).

Sollte die Mutter nach Erörterung ein ausreichendes Tatsachenvorbringen zum Vorliegen eines Rückführungshindernisses nach Art 13 lit b des Übereinkommens erstatten oder sollten sonst ausreichende Anhaltspunkte für die Erfüllung des Ausnahmetatbestands vorliegen, wird das Erstgericht ein entsprechendes Beweisverfahren durchzuführen haben, wobei die Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens wohl unerlässlich sein wird.

Bei der Gestaltung des weiteren Verfahrens wird vor allem zu beachten sein, dass das Verfahren über Rückführungsanträge nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen als Eilverfahren angelegt ist, das gemäß Art 2 des Übereinkommens besonders rasch durchgeführt werden soll (siehe dazu auch das Erkenntnis des EGMR vom , GZ 36812/97 und 40104/98).