OGH vom 28.03.2017, 2Ob80/16b
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Gerolf Haßlinger und andere Rechtsanwälte in Deutschlandsberg, gegen die beklagten Parteien 1. T***** E*****, und 2. H***** AG, *****, beide vertreten durch Dr. Viktor Wolczik und andere Rechtsanwälte in Baden, wegen 9.999,91 EUR sA, über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Berufungsgericht vom , GZ 18 R 82/15k71, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Wiener Neustadt vom , GZ 29 C 106/11g67, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung unter Einschluss des bereits in Rechtskraft erwachsenen Teils insgesamt zu lauten hat:
„1. Die Klageforderung besteht mit 2.785,97 EUR zu Recht.
2. Die eingewendete Gegenforderung besteht mit 2.185,39 EUR zu Recht.
3. Die beklagten Parteien sind daher zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 600,58 EUR samt 4 % Zinsen seit binnen 14 Tagen zu bezahlen.
4. Das auf Zahlung weiterer 9.399,33 EUR samt 4 % Zinsen seit lautende Mehrbegehren wird abgewiesen.“
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 9.979,31 EUR (darin 1.191,86 EUR USt und 2.828,20 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am ereignete sich gegen 7:20 Uhr auf der A2 Südautobahn bei Straßenkilometer 29,000 in Fahrtrichtung Wien auf Höhe des Beschleunigungsstreifens der Auffahrt Leobersdorf ein Verkehrsunfall, an dem (ua) B***** P***** als Lenker eines von der klagenden Partei gehaltenen Lkws (samt Anhänger) und der Erstbeklagte als Lenker und Halter eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten Pkws beteiligt waren.
Die klagende Partei begehrte den Ersatz ihres zuletzt mit 9.999,91 EUR sA bezifferten Schadens und brachte vor, die auf die Autobahn auffahrenden Fahrzeuglenker seien aufgrund des Vorschriftzeichens „Vorrang geben“ benachrangt gewesen. Der Erstbeklagte habe auf dem Beschleunigungsstreifen einen zu geringen Sicherheitsabstand zu seinem Vorderfahrzeug eingehalten. Als dieses abgebremst worden sei, habe er nach links in den ersten Fahrstreifen der Autobahn auslenken müssen und dadurch den Vorrang des dort fahrenden Klagsfahrzeugs verletzt. Dessen Lenker habe die Kollision nicht vermeiden können. Das Alleinverschulden treffe den Erstbeklagten. Für diesen habe im Hinblick auf das langsamer werdende Vorderfahrzeug auch eine unklare Verkehrslage bestanden, weshalb er dazu verhalten gewesen wäre, seine Geschwindigkeit ebenfalls zu verringern und auf dem Beschleunigungsstreifen zu verbleiben. Der Lenker des Klagsfahrzeugs habe hingegen davon ausgehen können, dass das drittbeteiligte Fahrzeug vor der „Verschneidungslinie“ angehalten werde, weil es sich mit relativ geringer Geschwindigkeit zur Gänze auf dem Beschleunigungsstreifen bewegt habe.
Die beklagten Parteien wandten ein, der Erstbeklagte sei mit ca 50 km/h auf dem Beschleunigungsstreifen gefahren. Er habe den linken Blinker gesetzt, sich vergewissert, dass ausreichend Tiefenabstand vorhanden sei, und sein Fahrzeug in den ersten Fahrstreifen der Autobahn eingereiht. Als sich der Erstbeklagte bereits mehrere Sekunden lang auf dem ersten Fahrstreifen befunden habe, habe sich vor ihm die Lenkerin eines anderen Pkws (in der Folge: Drittfahrzeug) vom Beschleunigungsstreifen in den ersten Fahrstreifen einordnen wollen. Sie habe dabei jedoch ihre Fahrgeschwindigkeit abrupt verzögert, weshalb der Erstbeklagte ebenfalls gebremst habe. Der Lenker des Klagsfahrzeugs habe infolge Einhaltung eines zu geringen Sicherheitsabstands nicht mehr rechtzeitig bremsen können und sei auf das Beklagtenfahrzeug aufgefahren. Das Alleinverschulden treffe den Lenker des Klagsfahrzeugs. Die beklagten Parteien erhoben eine Gegenforderung von insgesamt 3.678,09 EUR, die sie compensando gegen die Klagsforderung einwandten.
Das Erstgericht erkannte die Klagsforderung mit 2.785,97 EUR sowie die Gegenforderung mit 3.278,09 EUR als zu Recht bestehend und wies das Klagebegehren ab.
Es stellte zum Unfallhergang im Wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Zum Unfallszeitpunkt war aufgrund einer Baustelle die Spurführung derart geändert, dass die Richtungsfahrbahn Wien im Unfallbereich lediglich zweispurig war. Der erste Fahrstreifen hatte eine Breite von 3,25 m, der zweite war 2,75 m breit. Die Länge des Beschleunigungsstreifens betrug ca 150 m. Es bestand eine Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h.
Der Lenker des Klagsfahrzeugs näherte sich der Unfallstelle im ersten Fahrstreifen der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von 76 km/h. Auf dem Beschleunigungsstreifen fuhren die Lenkerin des Drittfahrzeugs und dahinter der Erstbeklagte mit jeweils ca 50 km/h. Als die Lenkerin des Drittfahrzeugs ihre Geschwindigkeit verlangsamte, wechselte der Erstbeklagte in den ersten Fahrstreifen der Autobahn und beschleunigte dabei auf ca 60 km/h. Der Abstand des Klagsfahrzeugs zum Beklagtenfahrzeug im Zeitpunkt dieses Fahrstreifenwechsels konnte nicht festgestellt werden. Da der Lenkerin des Drittfahrzeugs das Klagsfahrzeug zu nah und schnell erschien, leitete sie eine Bremsung ein. Infolge der Verschmälerung des Beschleunigungsstreifens (gegen dessen Ende zu) gelangte das Drittfahrzeug dennoch in den ersten Fahrstreifen der Autobahn, weshalb der Erstbeklagte ebenfalls bremste. Aufgrund der Geschwindigkeitsreduktion des Beklagtenfahrzeugs leitete auch der Lenker des Klagsfahrzeugs eine Bremsung ein, vermochte aber dadurch die Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug nicht zu vermeiden. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Klagsfahrzeugs betrug ca 27 km/h. Ein nachfolgender „Lkw“ (ein Sattelzug) fuhr auf das Klagsfahrzeug (dessen Anhänger) auf. Das Beklagtenfahrzeug hatte im Kollisionsmoment einen geringfügigen Linkszug, das Drittfahrzeug wies einen geringfügigen Rechtszug auf. Das Beklagtenfahrzeug befand sich mit der „rechten Räderseite“ nur noch geringfügig im Beschleunigungsstreifen.
Die genaue Fahrlinie der unfallbeteiligten Fahrzeuge konnte nicht festgestellt werden, insbesondere nicht, ob der Erstbeklagte vor der Kollision so knapp vor dem Klagsfahrzeug in den ersten Fahrstreifen wechselte, dass dem Lenker des Klagsfahrzeugs eine Anpassung des Sicherheitsabstands durch eine geringfügige Reduzierung seiner Geschwindigkeit nicht rechtzeitig möglich gewesen wäre. Hätte der Erstbeklagte sein Fahrzeug nicht abgebremst, wäre die Kollision unterblieben. Hätte er sich nicht in den ersten Fahrstreifen der Autobahn eingeordnet, hätte er mit einer Vollbremsung hinter dem Drittfahrzeug anhalten können.
Rechtlich erörterte das Erstgericht, infolge der getroffenen Negativfeststellungen könne keinem der Unfallbeteiligten ein Verschulden angelastet werden. Für den Erstbeklagten habe auch keine unklare Verkehrslage bestanden, aufgrund deren ihm der Wechsel in den ersten Fahrstreifen der Autobahn untersagt gewesen wäre. Da die Lenkerin des Drittfahrzeugs ihre Geschwindigkeit reduziert habe, habe der Erstbeklagte davon ausgehen dürfen, dass ein Fahrstreifenwechsel dieses Fahrzeugs nicht erfolgen werde. Zur Anwendung kämen die Bestimmungen des EKHG. Hiebei sei zu berücksichtigen, dass dem Betrieb eines Lkws im Vergleich zu einem Pkw eine höhere Betriebsgefahr innewohne, sodass eine Schadensteilung im Verhältnis 3 : 1 zu erfolgen habe.
Das Erstgericht ermittelte den Gesamtschaden der klagenden Partei mit 8.357,91 EUR, von dem es 2.785,97 EUR, also ein Drittel, als berechtigt erachtete. Diesem Betrag stellte es den mit 3.278,09 EUR ermittelten Gesamtschaden der beklagten Partei ungekürzt gegenüber und folgerte, dass das Klagebegehren infolge der die Klagsforderung übersteigenden Gegenforderung abzuweisen sei.
Diese Entscheidung blieb seitens der beklagten Parteien zu Gänze und seitens der klagenden Partei insoweit unbekämpft, als ein Teilbegehren von 1.642 EUR sA abgewiesen wurde.
Der im darüber hinausgehenden Umfang, also hinsichtlich der Abweisung weiterer 8.357,91 EUR sA, erhobenen Berufung der klagenden Partei gab das Berufungsgericht Folge. Es änderte das erstinstanzliche Urteil dahin ab, dass es die Klagsforderung mit 8.357,91 EUR als zu Recht, die Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend erkannte und der klagenden Partei den erwähnten Betrag samt Zinsen zusprach. Es sprach ferner aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.
Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und vertrat in rechtlicher Hinsicht die Auffassung, dass dem Erstbeklagten auch nach der für ihn günstigsten Sachverhaltsvariante ein Verschulden zur Last liege. Das Auffahren vom Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn sei als Fahrstreifenwechsel zu qualifizieren. Dieser müsse nach § 11 StVO unterbleiben, wenn die bloße Möglichkeit einer Gefährdung oder Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer gegeben sei, insbesondere, wenn ein anderer Straßenbenützer zu einem Bremsen oder Ausweichen genötigt werde. Selbst wenn man im vorliegenden Fall nicht davon ausgehe, dass der Fahrstreifenwechsel zu einer Gefährdung des Klagsfahrzeugs geführt habe, sei dennoch zu berücksichtigen, dass der Erstbeklagte sich (zeitlich) noch vor dem Drittfahrzeug in den ersten Fahrstreifen der Autobahn eingereiht und dann nur auf 60 km/h beschleunigt habe. Damit sei das Beklagtenfahrzeug einerseits nur um 10 km/h schneller als das Drittfahrzeug, andererseits um fast 20 km/h langsamer als das sich auf dem ersten Fahrstreifen nähernde Klagsfahrzeug gewesen. Durch dieses Verhalten sei aber eine Gefährdung und/oder Behinderung des Drittfahrzeugs „geradezu vorprogrammiert“; ein „Vorbeifahren“ vor Ende des nur 150 m langen Beschleunigungsstreifens, das auch der Lenkerin des Drittfahrzeugs den Fahrstreifenwechsel ermöglicht hätte, wäre sich nicht ausgegangen. Es sei daher ein „Ausscheren“ des Drittfahrzeugs in den ersten Fahrstreifen zu befürchten gewesen. Der Erstbeklagte hätte den Fahrstreifenwechsel in dieser Situation nicht vornehmen dürfen, weshalb er gegen § 11 StVO verstoßen habe. Gegen das Verschulden des Erstbeklagten trete die gewöhnliche Betriebsgefahr des Klagsfahrzeugs „völlig in den Hintergrund“.
Die ordentliche Revision sei zulässig, weil noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage bestehe, ob das Einordnen vom Beschleunigungsstreifen auf eine Autobahn nach § 11 oder § 19 StVO zu beurteilen sei. Dies gelte ebenso für die Frage, „inwieweit beim Auffahren auf die Autobahn ein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Behinderung eines voranfahrenden Fahrzeugs zur dadurch verursachten Kollision mit einem nachfolgenden Fahrzeug“ bestehe.
Gegen dieses Berufungsurteil richtet sich die Revision der beklagten Parteien wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen. Hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.
Die klagende Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung das Rechtsmittel zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil dem Berufungsgericht eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung des Sachverhalts unterlaufen ist. Das Rechtsmittel ist auch teilweise berechtigt.
Die beklagten Parteien machen geltend, dass ein Wechsel vom Beschleunigungsstreifen auf den ersten Fahrstreifen der Autobahn nach § 19 StVO zu beurteilen sei. Das Reißverschlusssystem des § 11 Abs 5 StVO finde keine Anwendung. Der Erstbeklagte sei berechtigt gewesen, (räumlich) hinter dem langsamer werdenden Drittfahrzeug in den ersten Fahrstreifen der Autobahn zu wechseln. Dies sei ohne Gefährdung des Lenkers des Klagsfahrzeugs geschehen. Die Lenkerin des Drittfahrzeugs hätte hingegen am Ende des Beschleunigungsstreifens anhalten müssen und den Fahrstreifenwechsel nicht erzwingen dürfen. Dem Erstbeklagten sei kein Verschulden vorwerfbar.
Hiezu wurde erwogen:
1. Der mit der 10. StVO-Novelle, BGBl 1983/174, erstmalig normierte Begriff des Beschleunigungsstreifens wird in § 2 Abs 1 Z 6c StVO als Fahrstreifen definiert, der bei Einfahrten zum Einordnen in den fließenden Verkehr dient. Gemäß § 46 Abs 2 letzter Satz StVO ist der Beschleunigungsstreifen beim Einfahren in die Autobahn zu benützen.
2. Der Oberste Gerichtshof ließ in der Entscheidung 2 Ob 151/89 ZVR 1990/157, der ein Auffahrunfall nach dem Einfahren eines Lkw-Zuges vom Beschleunigungsstreifen in den rechten Fahrstreifen der Autobahn zugrundelag, die Frage offen, ob das Fahrmanöver des Lkw-Lenkers nach den in § 19 StVO geregelten Vorrangbestimmungen oder den nach § 11 StVO maßgeblichen Vorschriften für den Fahrstreifenwechsel zu beurteilen sei. Denn in beiden Fällen dürfe in den rechten Fahrstreifen der Autobahn nur eingefahren werden, wenn dies ohne Gefährdung oder Behinderung diesen Fahrstreifen befahrender Verkehrsteilnehmer möglich sei.
In der Entscheidung 2 Ob 286/02a ZVR 2004/69 löste der Oberste Gerichtshof einen gleichgelagerten Fall allerdings nach Vorrangregeln (idS auch UVS Steiermark 30.6-99/2002 sowie UVS Vorarlberg 1-545/09). In der Lehre sind die Meinungen geteilt (für ein Vorrangverhältnis iSd § 19 Abs 6 StVO etwa Grundtner, Reißverschlusssystem, ZVR 1985, 35 [36 f]; Dittrich/Stolzlechner, StVO³ [1992] § 11 Rz 120; für Beurteilung nach §§ 11 f StVO etwa Haupfleisch, Die 10. StVO-Novelle – eine kritische Betrachtung, ZVR 1983, 168 f; Pürstl, StVO14 § 46 Anm 9).
3. Schon aus den in der Entscheidung 2 Ob 151/89 genannten Gründen könnte die vom Berufungsgericht als erheblich erachtete Rechtsfrage auch hier auf sich beruhen. Denn aufgrund der Negativfeststellung zur Position des Klagsfahrzeugs in jenem Zeitpunkt, in dem der Erstbeklagte in den ersten Fahrstreifen der Autobahn einfuhr, wäre weder ein schuldhafter Verstoß des Erstbeklagten gegen § 19 Abs 6 und Abs 7 StVO, noch ein solcher gegen § 11 Abs 1 StVO erwiesen.
4. Die Vorinstanzen ließen vor allem aber unberücksichtigt, dass die klagende Partei schon in erster Instanz das Vorhandensein eines von den Benützern des Beschleunigungsstreifens zu beachtendes Vorschriftszeichen nach § 52 lit c Z 23 StVO („Vorrang geben“) behauptet hat (AS 18). Das Erstgericht hat dazu keine Feststellung getroffen (vgl jedoch die aktenkundigen Lichtbilder von der Unfallstelle [Bild 1 und 2 der polizeilichen Lichtbildbeilage vom ] und die Beschreibung der Unfallstelle im polizeilichen Abschlussbericht [Seite 7]). Da nun auch die beklagten Parteien die Beurteilung nach Vorrangregeln anstreben, kann jedenfalls in dritter Instanz als unstrittig gelten, dass ein Vorrangverhältnis, allerdings nach § 19 Abs 4 StVO, bestand.
Für die klagende Partei ist daraus nichts gewonnen, weil die besagte Negativfeststellung auch bei einem Vorrangverhältnis nach § 19 Abs 4 StVO zu ihren Lasten geht, vermochte sie doch nicht den Beweis zu erbringen, dass der Lenker des Klagsfahrzeugs durch das Einfahren des Erstbeklagten in den ersten Fahrstreifen der Autobahn zu unvermitteltem Bremsen oder zum Ablenken seines Fahrzeugs genötigt worden wäre (§ 19 Abs 7 StVO). Erst „aufgrund der Geschwindigkeitsreduktion“ des Beklagtenfahrzeugs, also aufgrund des zeitlich späteren Bremsmanövers des Erstbeklagten, leitete auch der Lkw-Lenker eine Bremsung ein.
5. Den weiteren Ausführungen ist voranzustellen, dass die Prüfung und Gewichtung eines allfälligen Verschuldens der Lenkerin des Drittfahrzeugs am Zustandekommen des Unfalls nicht Gegenstand dieses Prozesses ist. Zu beurteilen ist lediglich das Fahrverhalten des Erstbeklagten und ob daraus ein Verschulden an der Kollision mit dem Klagsfahrzeug abzuleiten ist. Dies ist auf der Grundlage der den Obersten Gerichtshof bindenden Tatsachenfeststellungen aus folgenden Gründen zu verneinen:
5.1 Der Oberste Gerichtshof hat in der bereits erwähnten Entscheidung 2 Ob 151/89 ZVR 1990/157 auch klargestellt, dass eine gesetzliche Verpflichtung, den Beschleunigungsstreifen in seiner ganzen Länge auszufahren, nicht besteht. In der Lehre ist überdies die Ansicht herrschend, dass nach der derzeitigen Rechtslage das Reißverschlusssystem des § 11 Abs 5 StVO keine Anwendung findet, wenn vom Beschleunigungsstreifen in die Autobahn eingefahren wird (Grundtner, Reißverschlusssystem, ZVR 1985, 35 [37]; Dittrich/Stolzlechner, StVO³ [1992] § 11 Rz 120; Pürstl, StVO14 § 11 Anm 16; vgl ferner Haupfleisch, Braucht Österreich eine neue Straßenverkehrsordnung?, ZVR 2010/113, 243 [247], der eine entsprechende Änderung des § 46 StVO anregt). Diese Auffassung ist jedenfalls dann zutreffend, wenn das Einfahren in die Autobahn nicht nach § 11 StVO, sondern nach Vorrangregeln (hier des § 19 Abs 4 und Abs 7 StVO) zu beurteilen ist. Der Erstbeklagte durfte daher – unter Beachtung des § 19 Abs 7 StVO und nach Maßgabe des Folgenden – auch dann in den ersten Fahrstreifen der Autobahn einfahren, wenn die vor ihm fahrende Lenkerin des Drittfahrzeugs ihrerseits ein Einordnen in diesen Fahrstreifen unterließ.
5.2 Das Berufungsgericht erblickte – im Verhältnis zur Lenkerin des Drittfahrzeugs – einen Verstoß des Erstbeklagten gegen § 11 Abs 1 StVO darin, dass dieser mit einem „Ausscheren“ des Drittfahrzeugs in den ersten Fahrstreifen rechnen habe müssen. Angesichts der geringen Geschwindigkeitsdifferenz von nur 10 km/h wäre sich ein Vorbeifahren vor Ende des Beschleunigungsstreifens nicht ausgegangen und eine Gefährdung oder Behinderung des Drittfahrzeugs sei „geradezu vorprogrammiert“ gewesen.
Ob das Drittfahrzeug durch den Erstbeklagten gefährdet oder behindert wurde, ist zwar nicht Prozessgegenstand. Im Kern geht es dem Berufungsgericht mit seiner Argumentation aber ohnedies um die – für das Verschulden durchaus bedeutsame – Frage, ob der Erstbeklagte in der konkreten Verkehrssituation davon ausgehen durfte, seine Fahrt auf dem ersten Fahrstreifen der Autobahn ungehindert fortsetzen zu können oder ob für ihn das Erfordernis einer den Anhalteweg des nachfolgenden Lkw-Lenkers verkürzenden Bremsmanövers bei entsprechender Aufmerksamkeit vorhersehbar war.
5.3 Diese Rechtsfrage lässt sich nicht anhand der Regeln über den Fahrstreifenwechsel lösen, sodass auch die zweite Zulassungsfrage keiner näheren Erörterung bedarf. Anzusetzen ist vielmehr bei § 21 Abs 1 StVO, wonach der Lenker das Fahrzeug nicht jäh und für den Lenker eines nachfolgenden Fahrzeugs überraschend abbremsen darf, wenn andere Straßenbenützer dadurch gefährdet oder behindert werden, es sei denn, dass es die Verkehrssicherheit erfordert.
Dazu hat der Oberste Gerichtshof mehrfach ausgesprochen, dass sich ein Lenker, der sich verschuldet in eine Situation gebracht hat, die dann eine plötzliche starke Bremsung erforderlich machte, nicht auf die Notwendigkeit einer „verkehrsbedingten“ Bremsung berufen kann (8 Ob 43/81 ZVR 1982/232; 2 Ob 42/89 ZVR 1990/12; RIS-Justiz RS0075048).
5.4 Ein solches Verschulden könnte hier dann zu bejahen sein, wenn der Erstbeklagte das Fahrverhalten der Lenkerin des Drittfahrzeugs in bedenklichem Sinn auslegen und deshalb von der – an sich zulässigen – Einfahrt in die Autobahn Abstand nehmen hätte müssen. Denn nach ständiger Rechtsprechung kommt der Vertrauensgrundsatz demjenigen nicht zugute, der das unrichtige oder zumindest bedenkliche Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers rechtzeitig erkannte oder bei entsprechender Aufmerksamkeit rechtzeitig erkennen hätte können (RIS-Justiz RS0073173, RS0073429). Eine solcherart entstandene unklare Verkehrslage ist grundsätzlich in bedenklichem Sinn auszulegen (RIS-Justiz RS0073513).
5.5 Allerdings entbehrt die Annahme einer unklaren Verkehrssituation, die den Erstbeklagten zu einem Verbleiben auf dem Beschleunigungsstreifen veranlassen hätte müssen, einer tragfähigen Tatsachengrundlage:
5.5.1 Fest steht, dass sich der Erstbeklagte zum Einfahren in die Autobahn entschloss, weil die Lenkerin des vor ihm fahrenden Drittfahrzeugs ihre (ohnedies geringe) Geschwindigkeit von 50 km/h verlangsamte. Danach hat sie sogar gebremst, während der Erstbeklagte im Zuge des Einordnens auf 60 km/h beschleunigte. Die genauen Fahrlinien konnten nicht festgestellt werden.
5.5.2 Dieser Sachverhalt enthält keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Erstbeklagte nicht mit der Wahrnehmbarkeit seines Fahrmanövers und einem darauf abgestimmten Verhalten der Lenkerin des Drittfahrzeugs, etwa dem Anhalten vor dem Ende des Beschleunigungsstreifens, sowie einem gefahrlosen Passieren dieses Fahrzeugs rechnen durfte.
5.5.3 Die vom Berufungsgericht angenommene Geschwindigkeitsdifferenz von nur 10 km/h zwischen Beklagtenfahrzeug und Drittfahrzeug ist aus den (von ihm übernommenen) Feststellungen des Erstgerichts ebensowenig ableitbar, wie seine Prämisse, dass sich ein Vorbeifahren am Drittfahrzeug vor Ende des Beschleunigungsstreifens „nicht ausgegangen“ wäre oder dass mit einem „Ausscheren“ des Drittfahrzeugs gerechnet werden musste.
5.5.4 Die klagende Partei hat in erster Instanz auch gar kein entsprechendes Tatsachenvorbringen erstattet. Im Gegenteil: Ihren Behauptungen nach ist das Drittfahrzeug mit relativ geringer Geschwindigkeit zur Gänze auf dem Beschleunigungsstreifen gefahren, weshalb der Lenker des Klagsfahrzeugs annehmen habe dürfen, dass es vor der „Verschneidungslinie“ angehalten werde. Durfte aber der Lenker des Klagsfahrzeugs mit dem rechtzeitigen Anhalten des Drittfahrzeugs rechnen, so traf dies gleichermaßen auf den Erstbeklagten zu. Feststellungsmängel liegen daher nicht vor.
5.6 Daraus folgt, dass der gegen den Erstbeklagten gerichtete Schuldvorwurf des Berufungsgerichts der vorzunehmenden Überprüfung nicht standhält:
5.6.1 Galten die Vorrangregeln, durfte der Erstbeklagte, sobald er in den ersten Fahrstreifen der Autobahn eingefahren war, grundsätzlich darauf vertrauen, dass (auch) die Lenkerin des Drittfahrzeugs ihrer Wartepflicht nachkommt. Wollte man die – am Prozess nicht beteiligte – Lenkerin des Drittfahrzeugs mangels einer ausdrücklichen Feststellung über das (aktenkundige) Vorhandensein des Vorrangzeichens den Vorrangregeln nicht unterwerfen, so war der Erstbeklagte in gleichem Maße durch die von der Lenkerin des Drittfahrzeugs zu beachtenden Verhaltensregeln des § 11 Abs 1 StVO geschützt.
5.6.2 Dem Erstbeklagten erkennbare Anzeichen dafür, dass sich die Lenkerin des Drittfahrzeugs nicht nach diesen Regeln verhalten würde, wurden nicht festgestellt. Das Bremsmanöver des Erstbeklagten war daher aus Gründen der Verkehrssicherheit erforderlich. Auch ein Verstoß gegen § 21 Abs 1 StVO könnte ihm somit nicht angelastet werden, ohne dass es noch auf die weiteren Kriterien eines solchen Verstoßes („jähes“ und „überraschendes“ Bremsen) ankäme (8 Ob 274/82 ZVR 1983/193 = RIS-Justiz RS0074752). Davon abgesehen hat sich die klagende Partei in erster Instanz stets nur auf eine – nicht bewiesene – Vorrangverletzung durch den Erstbeklagten gestützt.
6. Die beklagten Parteien streben nur die Wiederherstellung des von ihnen unbekämpften erstinstanzlichen Urteils an, das auf einer Abwägung der beiderseitigen gewöhnlichen Betriebsgefahr iSd § 11 Abs 1 EKHG beruhte. Tatsächlich kommt für den Schadensausgleich nur noch dieses Zurechnungskriterium in Frage:
6.1 Der in erster Instanz gegen den Lenker des Klagsfahrzeugs erhobene Schuldvorwurf wurde fallengelassen; ein Verschulden des Erstbeklagten ist nicht erwiesen.
6.2 Für das Vorliegen einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr bei einem der beiden Fahrzeuge gibt es keinen Hinweis. Dass eines der Fahrzeuge im Zuge des jeweiligen Bremsmanövers ins Schleudern geriet, verrissen oder unlenkbar wurde, haben die Vorinstanzen nicht festgestellt. Eine „spurhaltende Vollbremsung“ gehört jedoch zum „normalen“, dh gewöhnlichen Betrieb eines Kraftfahrzeugs (2 Ob 45/88 ZVR 1989/65; auch 2 Ob 19/12a mwN SZ 2012/119).
7. Die Beurteilung des Erstgerichts, dass von dem wesentlich größeren und schwereren Klagsfahrzeug eine erhöhte Betriebsgefahr ausgehe, steht mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Einklang, ebenso die Schadensteilung im Verhältnis von 2 : 1 zu Lasten der klagenden Partei (vgl 2 Ob 88/80 ZVR 1981/101 = RIS-Justiz RS0058677 [dort unrichtig zitiert mit ZVR 1981/100]; Schauer in Schwimann/Kodek4 VII§ 11 EKHG Rz 42). Die Anführung eines Verhältnisses von 3 : 1 in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils beruhte offenkundig auf einem Versehen oder Schreibfehler.
Die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils scheitert allerdings daran, dass das Erstgericht in seinem dreigliedrigen Urteilsspruch der anteiligen Klagsforderung fälschlich die ungekürzte Gegenforderung gegenüberstellte und auf diese Weise zu einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens gelangte. Tatsächlich steht der berechtigten Klagsforderung von 2.785,97 EUR (ein Drittel von 8.357,91 EUR) eine berechtigte Gegenforderung von 2.185,39 EUR (zwei Drittel von 3.278,09 EUR) gegenüber, woraus sich ein Zuspruch von 600,58 EUR sA an die klagende Partei ergibt.
8. Die Urteile der Vorinstanzen sind daher in teilweiser Stattgebung der Revision in diesem Sinne abzuändern.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 43 Abs 2 erster Fall iVm § 50 ZPO. Die klagende Partei hat in erster Instanz in allen Verfahrensabschnitten mit rund 6 % und im Rechtsmittelverfahren mit 7 %, also nur mit einem verhältnismäßig geringfügigen Teil ihres Anspruchs obsiegt. Die klagende Partei hat daher den beklagten Parteien die gesamten Verfahrenskosten zu ersetzen (vgl RISJustiz RS0124795; Obermaier, Kostenhandbuch² Rz 142). Für die Berufungsbeantwortung gebührt ein Einheitssatz von 180 %.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0020OB00080.16B.0328.000 |
Schlagworte: | Gruppe: Verkehrsrecht,Verkehrsopfergesetz |
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