OGH vom 02.07.2020, 4Ob75/20p
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. Dr. Brenn, Priv.-Doz. Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der V***** S*****, geboren am *****, vertreten durch Dr. Doris Hohler-Rössel, Rechtsanwältin in Wiener Neustadt, als bestellte Verfahrenshelferin, gerichtlicher Erwachsenenvertreter Mag. Michael Luszczak, Rechtsanwalt in Wiener Neustadt, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Betroffenen gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom , GZ 16 R 52/20s-57, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Wiener Neustadt vom , GZ 16 P 111/18d-41, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben. Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Erweiterung des Wirkungsbereichs des gerichtlichen Erwachsenenvertreters in Bezug auf die Angelegenheiten „Verwaltung in finanziellen Angelegenheiten und Einkommensverwaltung, Vertretung gegenüber privaten Vertragspartnern, soweit sie über Alltagsangelegenheiten hinausgehen“ entfällt.
Die Betroffene hat die Kosten ihres Revisionsrekurses selbst zu tragen.
Die Revisionsrekursbeantwortung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Bei der 77-jährigen Betroffenen besteht eine altersbedingte vaskuläre Leukenzephalopathie. Sie ist nicht mehr in der Lage, komplexe Vorgänge selbst zu regeln und bedarf daher bei der Vertretung in Gerichtsverfahren sowie vor Ämtern, Behörden und Sozialversicherungsträgern sowie in finanziellen Belangen einer sachgerechten Unterstützung. Ihr Sohn B***** S***** ist bereit, die Betroffene zu vertreten und sie zu unterstützen.
Mit Beschluss des Erstgerichts vom wurde Rechtsanwalt Mag. Michael Luszczak zum einstweiligen Erwachsenenvertreter und mit Beschluss vom zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter zur Vertretung der Betroffenen in einem sozialgerichtlichen Verfahren zur Geltendmachung der Ausgleichszulage bestellt.
Am teilte der gerichtliche Erwachsenenvertreter dem Erstgericht mit, dass die Vorsitzende des zuständigen Arbeits- und Sozialgerichts in der Verhandlung vom eine befürchtete Interessenkollision bekanntgegeben habe, weil sich aus den Unterlagen ergebe, dass der Sohn der Betroffenen einen Privatkonkurs anstrebe und über kein das pfändungsfreie Existenzminimum übersteigende Vermögen verfüge. Es bestehe daher die Gefahr, dass die Ausgleichszulage zur Zahlung der Insolvenz-/Zahlungsquote verwendet werde.
Am gab die Betroffene zu Protokoll, dass die Unterstützung durch ihren Sohn für die Vertretung in gerichtlichen und behördlichen Verfahren nicht ausreiche.
Mit dem angefochtenen Beschluss erweiterte das Erstgericht den Wirkungsbereich des gerichtlichen Erwachsenenvertreters auf folgende Angelegenheiten:
- Vertretung gegenüber Gerichten, Ämtern, Behörden und Sozialversicherungsträgern, einschließlich der Vertretung im anhängigen sozialgerichtlichen Verfahren;
- Verwaltung in finanziellen Angelegenheiten und Einkommensverwaltung, Vertretung gegenüber privaten Vertragspartnern, soweit sie über Alltagsangelegenheiten hinausgehen.
Die Unterstützung durch ihren Sohn sei lediglich in Alltagsangelegenheiten ausreichend gegeben. In Bezug auf gerichtliche und behördliche Verfahren habe die Betroffene selbst mitgeteilt, dass ihr Sohn überfordert sei. Darüber hinaus bestehe eine Interessenkollision, weil ihr Sohn einen Privatkonkurs anstrebe und die Gefahr bestehe, dass die Ausgleichszulage für Zahlungen im Rahmen des Insolvenzverfahrens verwendet werde.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Ihre grundsätzliche Hilfsbedürftigkeit stelle die Betroffene nicht in Frage. Die Erweiterung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung in Bezug auf die Vertretung vor Gerichten, Ämtern, Behörden und Sozialversicherungsträgern entspreche der Mitteilung der Betroffenen. Darüber hinaus habe das Erstgericht verdeutlicht, dass der Sohn der Betroffenen ihre Angelegenheiten nicht übernehmen könne, weil aus objektiver Sicht eine Interessenkollision bestehe. Der ordentliche Revisionsrekurs sei mangels erheblicher Rechtsfragen nicht zulässig.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Betroffenen mit dem Antrag, den gerichtlichen Erwachsenenvertreter seines Amtes zu entheben.
Mit seiner (nicht freigestellten) Revisionsrekursbeantwortung beantragt der gerichtliche Erwachsenenvertreter, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts ist der Revisionsrekurs zulässig, weil die Entscheidung der Vorinstanzen in Bezug auf die finanziellen Belange der Betroffenen einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedarf. Dementsprechend ist der Revisionsrekurs teilweise berechtigt.
1. Vorweg ist klarzustellen, dass dem gerichtlichen Erwachsenenvertreter keine Revisionsrekurs-beantwortung zusteht, weil durch die Festlegung seines Wirkungsbereichs nicht in seine subjektiven Rechte eingegriffen wird und er sich auch nicht im Namen der Betroffenen gegen deren eigenen Revisionsrekurs stellen darf. Die aus eigenem eingebrachte Revisionsrekursbeantwortung war daher zurückzuweisen.
2. In ihrem Revisionsrekurs führt die Betroffene aus, dass für die Erweiterung des Wirkungsbereichs des gerichtlichen Erwachsenenvertreters keine ausreichende Grundlage bestehe, weil keine ausreichenden Erhebungen zu den zu besorgenden Angelegenheiten und zu den zur Verfügung stehenden Personen stattgefunden hätten. Tatsächlich könne sie ihr Sohn bei einer Vielzahl ihrer Erledigungen unterstützen und vertreten. Dies gelte insbesondere für die Vermögensverwaltung. Darüber hinaus habe die Betroffene ohnedies nur Angelegenheiten des täglichen Lebens zu besorgen, die ebenfalls ihr Sohn wahrnehmen könne. So sei der Telefonanschluss, den der gerichtliche Erwachsenenvertreter gekündigt habe, von ihrem Sohn bezahlt worden, was dem gerichtlichen Erwachsenenvertreter auch bekannt sei. Ebenso sei das Sparkonto der Betroffenen, das vom gerichtlichen Erwachsenenvertreter gekündigt worden sei, von ihrem Sohn dotiert worden, damit sie über kleinere Alltagsangelegenheiten selbst disponieren könne.
Diesen Ausführungen kommt in Bezug auf die finanziellen Angelegenheiten der Betroffenen Berechtigung zu.
3.1 Gemäß § 239 Abs 1 ABGB ist im rechtlichen Verkehr dafür Sorge zu tragen, dass volljährige Personen, die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung in ihrer Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt sind, möglichst selbständig, erforderlichenfalls mit entsprechender Unterstützung, ihre Angelegenheiten selbst besorgen können. Nach Abs 2 leg cit kann die erforderliche Unterstützung insbesondere durch die Familie oder andere nahestehende Personen, aber auch durch geeignete Einrichtungen oder Beratungsstellen erfolgen. Nach § 240 Abs 1 ABGB kommt die Bestellung eines Erwachsenenvertreters nur dann in Betracht, wenn dies zur Wahrung der Rechte und Interessen der betroffenen Person unvermeidlich ist (vgl dazu 4 Ob 180/18a). Nach Abs 2 leg cit darf kein Erwachsenenvertreter für die volljährige Person tätig werden, soweit sie bei Besorgung ihrer Angelegenheiten entsprechend unterstützt wird.
Gemäß § 271 ABGB ist einer volljährigen Person vom Gericht auf ihren Antrag oder von Amts wegen insoweit ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter zu bestellen, als sie bestimmte Angelegenheiten aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst besorgen kann (Z 1), sie dafür keinen Vertreter hat (Z 2), sie einen solchen nicht wählen kann oder will (Z 3) und eine gesetzliche Erwachsenenvertretung nicht in Betracht kommt (Z 4).
Das zentrale Anliegen des neuen Erwachsenenschutzrechts besteht darin, die Autonomie einer schutzberechtigten Person möglichst umfassend zu wahren und dementsprechend die Selbstbestimmung im größtmöglichen Umfang so lange wie möglich aufrecht zu erhalten (4 Ob 115/19v). Dementsprechend soll die betroffene Person vorrangig durch die erforderliche Unterstützung selbst in die Lage versetzt werden, ihre Angelegenheiten zu besorgen und am Rechtsverkehr teilzunehmen. Daraus ist der Grundsatz der Subsidiarität der Erwachsenenvertretung abzuleiten; die Selbstbestimmung hat grundsätzlich Vorrang vor der Bestellung eines Erwachsenenvertreters (4 Ob 180/18a). Nach diesem Grundsatz kann ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter überhaupt nur dann bestellt werden, wenn eine ausreichende Unterstützung des Betroffenen nicht möglich ist und die Vertretung zur Wahrung ihrer Rechte unvermeidlich ist.
3.2 In formeller Hinsicht muss für die Erweiterung des Wirkungsbereichs des gerichtlichen Erwachsenenvertreters – so wie auch für seine Bestellung – auf Sachverhaltsebene eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bestehen (vgl 4 Ob 180/18a). Es müssen daher konkrete und nachvollziehbare Feststellungen sowohl zur psychischen Beeinträchtigung der betroffenen Person als auch zu den zu besorgenden Angelegenheiten und den zu befürchtenden Nachteilen getroffen werden, um die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters oder der Erweiterung seines Wirkungsbereichs verlässlich beurteilen zu können (vgl 4 Ob 215/18y). Ebenso ist zu klären, ob im Sinn des § 239 ABGB für eine ausreichende Unterstützung der betroffenen Person gesorgt werden kann.
4.1 Im Anlassfall sind zwei Bereiche von Angelegenheiten zu unterscheiden.
In Bezug auf die Vertretung der Betroffenen vor Gerichten, Ämtern, Behörden und Sozialversicherungsträgern ist die Erweiterung des Wirkungsbereichs des gerichtlichen Erwachsenenvertreters notwendig, weil die Betroffene ihre sich darauf beziehenden rechtlichen Interessen nicht ohne Gefahr eines Nachteils selbst wahrnehmen kann und in dieser Hinsicht auch keine ausreichende familiäre oder anderweitige Unterstützung besteht, zumal ihr Sohn nicht über die dafür erforderlichen juristischen Fachkenntnisse verfügt. Gegen die sich auf diesen Bereich beziehende Erweiterung des Wirkungsbereichs des gerichtlichen Erwachsenenvertreters wendet sich die Betroffene in Wirklichkeit auch nicht.
4.2 In Bezug auf die finanziellen Angelegenheiten der Betroffenen (Einkommens- und Vermögensverwaltung sowie Vertretung gegenüber privaten Vertragspartnern) fehlt es hingegen am erforderlichen Tatsachensubstrat für die Erweiterung des Wirkungsbereichs des gerichtlichen Erwachsenenvertreters.
Aus den Feststellungen ist zwar abzuleiten, dass die Betroffene auch in finanziellen Angelegenheiten ihre Belange nicht mehr selbständig wahrnehmen kann, wenn diese über Alltagsausgaben oder rein alltägliche Vorgänge hinausgehen. Diese Grundlage genügt für die Erweiterung des Wirkungsbereichs des gerichtlichen Erwachsenenvertreters jedoch nicht, weil sie die Frage nach möglichen anderen, insbesondere familiären Unterstützungsleistungen für die Betroffene unberücksichtigt lässt.
Im Anlassfall hat sich der Sohn der Betroffenen bereit erklärt, sie in ihren Belangen zu vertreten und zu unterstützen. Dass er in finanziellen Angelegenheiten dazu in der Lage ist, wird von den Vorinstanzen nicht bezweifelt. Das Erstgericht hat ihn (mit Beschluss vom bis zur Enthebung am ) auch zum Verfahrensbeistand der Betroffenen gemäß § 119 AußStrG bestellt.
Gegen die Annahme der ausreichenden Unterstützung der Betroffenen in finanziellen Angelegenheiten führen die Vorinstanzen eine angebliche Interessenkollision ihres Sohnes ins Treffen. Dazu steht nur fest, dass nach der Mitteilung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters die Vorsitzende im sozialgerichtlichen Verfahren die Befürchtung einer Interessenkollision geäußert hat, weil der Sohn der Betroffenen offenbar einen Privatkonkurs anstrebt und über kein relevantes Vermögen verfügt. Dabei handelt es sich nur um eine vom Erwachsenenvertreter wiedergegebene Mutmaßung, aus der sich mangels ausreichender Anhaltspunkte für eine zweckwidrige oder gar missbräuchliche Verwendung der von der Betroffenen eingeklagten Ausgleichszulage jedenfalls keine aktuelle Gefahr für das Vermögen der Betroffenen ableiten lässt. Für die Annahme einer Interessenkollision des Sohnes der Betroffenen, die ernstlich gegen dessen sachgerechte Unterstützung der Betroffenen bei Besorgung ihrer Angelegenheiten sprechen würde, fehlt damit die Tatsachengrundlage.
5. Mangels ausreichenden Tatsachensubstrats für die Erweiterung des Wirkungsbereichs des gerichtlichen Erwachsenenvertreters in Bezug auf die finanziellen Angelegenheiten der Betroffenen kann die sich darauf beziehende Entscheidung der Vorinstanzen nicht aufrecht erhalten werden. Dem Revisionsrekurs der Betroffenen war daher in dieser Hinsicht Folge zu geben und der Wirkungsbereich des gerichtlichen Erwachsenenvertreters nur in Bezug auf die Vertretung vor Gerichten, Ämtern, Behörden und Sozialversicherungsträgern zu erweitern.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 124 AußStrG. Die Vertretungskosten hat die Betroffene selbst zu tragen (7 Ob 136/19d).
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2020:0040OB00075.20P.0702.000 |
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