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OGH vom 28.10.1997, 1Ob310/97p

OGH vom 28.10.1997, 1Ob310/97p

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1) Dominik L*****, und 2) Christoph L*****, infolge Revisionsrekurses des Vaters Ronald L*****, vertreten durch Dr.Walter Anzböck und Dr.Joachim Brait, Rechtsanwälte in Tulln, gegen den Beschluß des Landesgerichts St.Pölten als Rekursgerichts vom , GZ 10 R 215/97p-191, womit der Beschluß des Bezirksgerichts Tulln vom , GZ 1 P 2527/95d-180, ersatzlos behoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die mj. Kinder Dominik und Christoph befinden sich in Obsorge ihrer Mutter. Am beantragte der Vater, die Kinder ab dem Schulsommersemester 1997 in einem „Internat mit angeschlossenem Schulbetrieb“ unterzubringen und die Obsorge ihm zu übertragen. Verblieben die Kinder in Obsorge der Mutter, sei deren Wohl gefährdet (ON 152). Diese spreche übermäßig dem Alkohol zu und betreibe Medikamentenmißbrauch. Um diese Behauptungen zu beweisen, beantragte der Vater unter anderem die Vernehmung des Vertrauensarztes der Mutter als Zeugen (ON 157). Diese erklärte zu Gerichtsprotokoll, „grundsätzlich ... keinesfalls etwas“ gegen die Vernehmung ihres Vertrauensarztes zur Klärung ihres Gesundheitszustands zu haben, sie wolle jedoch dessen allfällige Entbindung von der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht noch mit ihrem Rechtsanwalt besprechen (ON 167). In einem Amtsvermerk vom hielt das Erstgericht als Ergebnis einer „Rückfrage“ bei der Niederösterreichischen Ärztekammer fest, daß sich ein Arzt „in allen zivil- und verwaltungsrechtlichen Verfahren auf die ärztliche Schweigepflicht berufen“ könne. Eine Entbindung sei „durch den Patienten ... oder durch gerichtlichen Beschluß nach einer Interessenabwägung Patient - öff. Interesse“ möglich (ON 172). Am trug das Erstgericht der Mutter auf, binnen acht Tagen mitzuteilen, „ob sie ihren Vertrauensarzt von seiner ärztlichen Verschwiegenheitspflicht nach § 26 ÄrzteG“ entbinde (ON 173). Eine Äußerung der Mutter unterblieb.

Mit Beschluß vom sprach das Erstgericht aus, der Vertrauensarzt der Mutter werde „von der Wahrung des ärztlichen Berufsgeheimnisses entbunden“, wobei sich die Vernehmung auf den „Gesundheitszustand der Mutter“, soweit dieser „mit ihrer Erziehungsfähigkeit“ zusammenhänge, und auf „Anzeichen“ eines „Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmißbrauchs“, der „Einfluß auf ihre Erziehungsfähigkeit“ haben könne, beschränken werde. Die gerichtliche „Fürsorgepflicht für die beiden Minderjährigen“ erfordere die Klärung aller Umstände, die für eine „allenfalls verminderte Erziehungsfähigkeit der Mutter von Bedeutung sein könnten“. Dafür sei eine Aussage ihres behandelnden Arztes von ausschlaggebender Bedeutung. Interessen der Rechtspflege überwögen das Interesse der Mutter, ihren Gesundheitszustand nicht preiszugeben, eindeutig (ON 180).

Das Rekursgericht behob diesen Beschluß ersatzlos und sprach die Zulässigkeit des ordentlichen Revisionsrekurses aus. Nach dessen Rechtsansicht ist die Regelung des § 321 Abs 1 Z 3 ZPO sinngemäß auch im Verfahren außer Streitsachen anzuwenden. Danach dürfe ein Zeuge die Aussage über Tatsachen verweigern, die einer staatlich anerkannten Pflicht zur Verschwiegenheit unterlägen, solange er von der Geheimhaltungspflicht nicht gültig entbunden sei. Ein Arzt sei gemäß § 26 Abs 1 ÄrzteG zur Wahrung der ihm in Ausübung seines Berufs anvertrauten oder bekanntgewordenen Geheimnisse verpflichtet. Diese Verschwiegenheitspflicht bestehe jedoch gemäß § 26 Abs 2 Z 2 ÄrzteG dann nicht, wenn die Offenbarung des Geheimnisses nach Art und Inhalt durch Interessen der öffentlichen Gesundheitspflege oder der Rechtspflege gerechtfertigt sei. Die Standesbehörde könne in Fragen der Verschwiegenheitspflicht Weisungen erteilen, aber die Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht nicht ersetzen. Nichts anderes gelte im gerichtlichen Verfahren, sodaß eine mangelnde Entbindung, wie der Oberste Gerichtshof bereits in SZ 33/116 ausgesprochen habe, durch einen Gerichtsbeschluß im Sinne des § 367 EO nicht substituierbar sei. Der angefochtene Beschluß sei daher jedenfalls verfehlt. Das Erstgericht könne jedoch die Weigerung der Mutter, ihren Vertrauensarzt von seiner Verschwiegenheitspflicht zu entbinden, frei würdigen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Im Verfahren außer Streitsachen sind im Rechtsfürsorgebereich, soweit besondere Regeln fehlen, die Bestimmungen der Zivilprozeßordnung nach dem Prinzip partieller Analogie anzuwenden (Deixler-Hübner in Burgstaller/Deixler-Hübner/Dolinar, Praktisches Zivilprozeßrecht II5 [1997] 9; Dolinar, Österreichisches Außerstreitverfahrensrecht - Allgemeiner Teil [1982] 71). Danach gelten die Regeln der Zivilprozeßordnung über den Zeugenbeweis im allgemeinen auch im Verfahren außer Streitsachen, soweit sie dem Untersuchungsgrundsatz nicht widersprechen (Dolinar aaO 122 ff; zu den Beweismitteln und dem Umfang ihres Gebrauchs siehe etwa RZ 1990/114; SZ 45/22). Gemäß § 2 Abs 2 Z 5 AußStrG unterliegt das Rechtsfürsorgeverfahren in einer Obsorgeangelegenheit dem Untersuchungsgrundsatz.

Ein Zeuge darf gemäß § 321 Abs 1 Z 3 ZPO ohne Vorliegen einer gültigen Entbindung die Aussage über Tatsachen verweigern, die durch eine staatlich anerkannte Verschwiegenheitspflicht geschützt sind. Gründe, die eine Aussageverweigerung rechtfertigen können, sind jedoch nicht von Amts wegen wahrzunehmen. Das Gericht hat den Zeugen über diese Gründe vor der Vernehmung gemäß § 339 Abs 1 ZPO bloß zu belehren. Die Geltendmachung eines Rechts zur Aussageverweigerung bleibt dann dem Zeugen überlassen (Rechberger in Rechberger, Kommentar zur ZPO Rz 2 zu §§ 321, 322; Rechberger/Simotta, ZPR4 Rz 630). Es ist also allein Sache des Zeugen, Gründe für eine Aussageverweigerung vorzubringen (Rechberger in Rechberger aaO Rz 1 zu § 323; Rechberger/Simotta aaO).

Gemäß § 26 Abs 1 ÄrzteG ist der Arzt zur Wahrung der ihm in Ausübung seines Berufs anvertrauten oder bekanntgewordenen Geheimnisse verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht gemäß § 26 Abs 2 Z 2 etwa dann nicht, wenn die Offenbarung des Geheimnisses nach Art und Inhalt durch Interessen der Rechtspflege - als hier allein maßgeblicher Tatbestand - gerechtfertigt ist. Aufgrund der danach gebotenen Interessenabwägung kann einem im Verhältnis zur Einhaltung der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht höherwertigen Rechtsgut Vorrang eingeräumt werden (Arnold, Einschränkungen des Berufsgeheimnisses - Ausnahmen vom Geheimnisschutz, ÖJZ 1982, 1 [4]; ders in Ruppe, Geheimnisschutz im Wirtschaftsleben - Das Berufsgeheimnis der freien Berufe [1980] 276; Kux/Emberger/Neudorfer/Chlan/Mahn, Ärztegesetz mit Kommentar3 [1988] Anm 3b zu § 26). Um jedoch das unerläßliche Vertrauen zu einem Arzt in Ausübung seines Berufs nicht zu erschüttern, kann der Geheimnisschutz durch ein höherwertiges Rechtsgut nur als Ergebnis einer strengen Prüfung verdrängt werden (Arnold, ÖJZ 1982, 4; ders in Ruppe aaO 276;Schwamberger, Zur Frage der Bekanntgabe der Todesursache an Dritte, ÖJZ 1986, 169 [170]). Diese Abwägung, die der Arzt selbst vorzunehmen hat (Kux/Emberger/Neudorfer/Chlan/Mahn aaOAnm 3b zu § 26; Schmoller, Zur Reichweite der Verschwiegenheitspflicht von Ärzten, Psychologen und Psychotherapeuten, RdM 1996, 131 [132]), vermag jedoch nur zu klären, ob der Geheimnisträger aufgrund der von ihm zu beachtenden gesetzlichen Regelungen die berufliche Verschwiegenheitspflicht zu wahren hat. Keiner Abwägung durch den Geheimnisträger bedarf dagegen die Frage, ob dieser nach einer Berufung auf die berufliche Verschwiegenheitspflicht aufgrund des jeweils anzuwendenden Verfahrensrechts dennoch zur Aussage verhalten werden darf (idS Arnold in Ruppe aaO 276;Schmoller, RdM 1996, 131 [132]). Deshalb wird etwa ein Recht des Arztes, sich im gerichtlichen Strafverfahren der Aussage zu entschlagen, verneint, weil dem materiellrechtlichen Schutz der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht kein strafprozessuales Entschlagungsrecht gegenübersteht (9 Os 104/80 = SSt 52/9 [soweit unveröffentlicht]; 10 Os 59/79 = EvBl 1980/82; Kux/Emberger/Neudorfer/Chlan/Mahn aaO Anm 5d zu § 26; Schmoller, RdM 1996, 132). Arnold (ÖJZ 1982, 5, 9 f) hält bloß das Ergebnis für zutreffend, leitet jedoch, soweit das öffentliche Interesse reicht, die (generelle) Preisgabe des ärztlichen Geheimnisses im gerichtlichen Strafverfahren - nach einer auch in einem solchen erforderlichen Interessenabwägung - aus einem Rechtfertigungsgrund ab. Im jüngeren Schrifttum findet dagegen die unbeschränkte Aussagepflicht des Arztes im gerichtlichen Strafverfahren nicht mehr uneingeschränkte Zustimmung (Bertel, Grundriß des österreichischen Strafprozeßrechts5 [1997] Rz 374 [„nicht mehr zeitgemäß“]; Klaus, Ärztliche Schweigepflicht [1991] 101 [de lege ferenda]; Schmoller, RdM 1996, 132 FN 10 [de lege ferenda]). Im Unterschied zum gerichtlichen Strafprozeß ist das Recht des Arztes zur Zeugnisverweigerung im zivilgerichtlichen Verfahren durch die materiellrechtliche Reichweite der beruflichen Verschwiegenheitspflicht begrenzt (Kux/Emberger/Neudorfer/Chlan/Mahn aaO Anm 5d zu § 26; Schmoller, RdM 1996, 132 [je ohne Unterscheidung zwischen streitigem und außerstreitigem Verfahren]; offenbar ebenso idS Klaus aaO 102 f). In den vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahren soll jedoch nach einem Teil der Lehre wiederum kein Recht des Arztes zur Zeugnisverweigerung gelten (Fasching, LB2 Rz 984; Rechberger in Rechberger aaO Rz 5 zu §§ 321, 322; aM; RZ 1955, 166 [Eheaufhebungsverfahren]; Klaus aaO 103 ff [keine Durchbrechung des ärztlichen Berufsgeheimnisses „aus dem Untersuchungsgrundsatz per se“]). Träfe letztere Ansicht zu, bestünde für den Arzt auch in Verfahren außer Streitsachen, die dem Untersuchungsgrundsatz unterworfen sind, keine berufliche Verschwiegenheitspflicht, sind doch die Bestimmungen der Zivilprozeßordnung - wie bereits erörtert - nur soweit anwendbar, als sie jenem Grundsatz nicht widersprechen.

Hier muß nicht beantwortet werden, ob dieser Gesichtspunkt ganz allgemein das Ergebnis rechtfertigen kann, die berufliche Verschwiegenheitspflicht des Arztes gemäß § 26 Abs 1 ÄrzteG verdränge stets in derartigen außerstreitigen Verfahren ohne Rücksicht auf deren Gegenstand mangels Anwendbarkeit des § 321 Abs 1 Z 3 ZPO. Bezieht sich jedoch das Verfahren - wie hier - auf eine Obsorgeangelegenheit und steht daher das Wohl minderjähriger Kinder während ihrer Entwicklungsphase auf dem Spiel, deren Gestaltung ihr künftiges Leben prägend beeinflussen wird, kommt eine Anwendung des § 321 Abs 1 Z 3 ZPO jedenfalls nicht in Betracht (auch für das Verfahren außer Streitsachen ganz allgemein aM Klaus aaO 103 ff). Das öffentliche Interesse, das Ziel dieses Rechtsfürsorgeverfahrens nicht zu verfehlen, verbietet nämlich jede Abwägung zwischen den Interessen eines Elternteils, eine allfällige Unfähigkeit zur Kindesobsorge mit Hilfe der beruflichen Verschwiegenheitspflicht seines Vertrauensarztes zu verbergen, und jenen minderjähriger Kinder an einer bestmöglichen Gestaltung ihrer seelischen, geistigen und körperlichen Entwicklung. Im Gegensatz dazu erfordert jede durch die Rechtsordnung gebotene Interessenabwägung, daß an sich - je nach den Umständen des Einzelfalls - die Erzielung des einen oder des anderen der einander widerstreitenden Ergebnisse möglich ist. Gerade das ist jedoch in einer Obsorgeangelegenheit ausgeschlossen, weil kein Einzelfall vorstellbar ist, der eine Interessenabwägung zu Lasten der Entwicklung minderjähriger Kinder zuließe. Zumindest in derartigen Verfahren außer Streitsachen stellt sich daher - als Voraussetzung einer Zeugenaussage - mangels Anwendbarkeit des § 26 Abs 1 und Abs 2 Z 1 und 2 ÄrzteG in Verbindung mit § 321 Abs 1 Z 3 ZPO auch nicht die Frage einer allfälligen Entbindung des Arztes von der Geheimhaltung von Tatsachen, die für die Fähigkeit des Patienten zur Ausübung der Kindesobsorge von Bedeutung sind und sonst unter das Berufsgeheimnis fielen. Soweit besteht demnach keine berufliche Verschwiegenheitspflicht des Arztes. Dabei hat das Gericht jene Grenze zu bestimmen, bis zu der sich ein Arzt im Interesse einer vollständigen Aufklärung der für die Obsorgeentscheidung maßgeblichen Tatsachen der Aussagepflicht jedenfalls nicht unter Berufung auf eine sonst bestehende Verschwiegenheitspflicht entziehen kann. Deshalb bedarf hier auch die Rechtsprechung, nach der eine Entbindung des Arztes von der Geheimhaltungspflicht durch Gerichtsbeschluß nicht substituierbar ist (SZ 33/116 [zustimmend Arnold, ÖJZ 1982, 3]), keiner Erörterung.

Im Ergebnis erweist sich daher die angefochtene Entscheidung als zutreffend, weil die Aussagepflicht des Vertrauensarztes der Mutter unmittelbar aus dem Gesetz folgt. Sollte dieser eine Zeugenaussage allenfalls ungerechtfertigt verweigern, bestimmt sich das weitere Verfahren nach den §§ 323 ff ZPO.

Dem Revisionsrekurs, in dem eine Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses angestrebt wird und nur Fragen der Abwägung der Rechtsgüter als Voraussetzung einer Entbindung von der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht erörtert werden, ist daher nicht Folge zu geben.