OGH vom 15.02.2017, 7Ob236/16f
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei X***** SE, Zweigniederlassung Österreich, *****, vertreten durch Dr. Uwe Niernberger, Dr. Angelika Kleewein, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei I***** S.p.A., *****, vertreten durch Stapf Neuhauser Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 205.000 EUR sA, über den Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom , GZ 1 R 68/16a-57, womit der Beschluss des Handelsgerichts Wien vom , GZ 24 Cg 7/14h-51, als nichtig aufgehoben wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Die Klägerin begehrt die Zahlung von 205.000 EUR. Sie habe als Haftpflichtversicherin einen von der Beklagten zu vertretenden Schaden liquidiert. Der Anspruch sei nach § 67 VersVG auf sie übergegangen. Die inländische Gerichtsbarkeit und der Gerichtsstand ergäben sich aus einer Gerichtsstandsvereinbarung in Verbindung mit Art 23 EuGVVO 2001 (in Folge EuGVVO).
Die Beklagte erhob die Einrede der mangelnden internationalen Zuständigkeit. Eine nach Art 23 EuGVVO wirksame Gerichtsstandsvereinbarung liege nicht vor.
Das Erstgericht führte am und am eine auf die Verhandlung über die Unzuständigkeitseinrede eingeschränkte mündliche Verhandlung durch, in der es unter anderem Zeugen vernahm. Am verkündete es den Schluss der mündlichen Verhandlung über die Prozesseinrede. Mit Beschluss vom wurde die Verhandlung zur Einholung eines Sachverständigengutachtens über den Handelsbrauch wieder eröffnet. Trotz zwischenzeitig eingetretenen Richterwechsels fand danach keine mündliche Verhandlung mehr statt. Vielmehr sprach das Erstgericht durch seinen nunmehr nach der Geschäftsverteilung zuständigen Richter seine internationale Unzuständigkeit aus und wies die Klage zurück, weil es eine wirksame Zuständigkeitsvereinbarung nach Art 23 EuGVVO verneinte.
Dagegen erhob die Klägerin Rekurs aus den Rekursgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der Aktenwidrigkeit, der unrichtigen Tatsachenfeststellungen und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung; hilfsweise wegen Nichtigkeit gemäß § 477 Abs 1 Z 9 ZPO; hilfsweise wegen Nichtigkeit gemäß § 477 Abs 1 Z 2 ZPO. Sie beantragte, den Beschluss des Erstgerichts dahin abzuändern, dass die Unzuständigkeitseinrede der Beklagten, nach allfälliger Beweiswiederholung durch Verlesung, verworfen werde; hilfsweise den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen; hilfsweise den angefochtenen Beschluss als nichtig gemäß § 477 Abs 1 Z 9 iVm § 514 Abs 2 ZPO aufzuheben; hilfsweise ihn gemäß § 477 Abs 1 Z 2 iVm § 514 Abs 2 ZPO aufzuheben.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs Folge und hob den erstgerichtlichen Beschluss als nichtig auf. Es verneinte das Vorliegen des Nichtigkeitsgrundes nach § 477 Abs 1 Z 9 ZPO. Des weiteren führte es aus, eine unrichtige Gerichtsbesetzung bilde nur dann den Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 2 ZPO, wenn sie nicht nach § 260 Abs 4 ZPO durch Einlassung in die mündliche Streitverhandlung oder die abgesonderte Verhandlung über die Prozesseinrede geheilt sei. Das Rechtsmittelgericht dürfe den Nichtigkeitsgrund nicht amtswegig wahrnehmen, wenn die Parteien den Besetzungsfehler außerhalb der mündlichen Verhandlung hätten rügen können, dies aber unterlassen hätten. Im vorliegenden Fall habe die Klägerin die Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO bei der ersten Möglichkeit gerügt. Diesen Nichtigkeitsgrund wolle sie jedoch nur für den Fall geprüft wissen, dass die übrigen geltend gemachten Rekursgründe „nicht greifen“. Durch diese von der Klägerin vorgenommene Reihung der Rekursgründe sei aber eine Heilung der unrichtigen Gerichtsbesetzung nicht eingetreten.
Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof zu, weil keine oberstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage bestehe, ob die bloß hilfsweise Geltendmachung einer Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO die Heilung einer unrichtigen Gerichtsbesetzung bewirke.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs der Beklagten mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin begehrt, dem Revisionsrekurs hinsichtlich des Abänderungsantrags keine Folge zu geben. Dem hilfsweise gestellten Aufhebungsantrag tritt sie nicht entgegen.
Rechtliche Beurteilung
1.1 Nach § 412 Abs 1 ZPO kann das Urteil nur von denjenigen Richtern gefällt werden, welche an der dem Urteil zugrunde liegenden mündlichen Verhandlung teilgenommen haben. Bei Eintritt eines Richterwechsels ist die mündliche Streitverhandlung gemäß § 412 Abs 2 ZPO neu durchzuführen.
§ 425 Abs 3 ZPO postuliert auch für Beschlüsse durch die Anordnung der sinngemäßen Anwendung des § 412 ZPO grundsätzlich den Unmittelbarkeitsgrundsatz. Dieser ist dabei aber auf jene Fälle zu beschränken, in denen das Gesetz eine mündliche Verhandlung als Grundlage der Beschlussfassung anordnet. Sieht das Gesetz vor, dass vor der Beschlussfassung eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist, sofern eine solche erforderlich erscheint und werden in einer in diesem Sinn notwendigen Verhandlung Beweise aufgenommen oder Bescheinigungen durchgeführt, so hat auch in diesen Fällen jener Richter zu entscheiden, der dieses Verfahren durchgeführt hat. Kommt es vor der Beschlussfassung zu einem Richterwechsel, so hat der neue Richter das Beweisverfahren neuerlich durchzuführen, sofern nicht auch eine mittelbare Beweiswiederholung zulässig ist (vgl M. Bydlinski in Fasching/Konecny2 III § 425 ZPO Rz 6).
1.2 Urteile von Richtern, die nicht an der ganzen mündlichen Streitverhandlung teilgenommen haben, sind gemäß § 477 Abs 1 Z 2 ZPO nichtig (RIS-Justiz RS0036578). Die Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO tritt aber nur dann ein, wenn nach einem Richterwechsel während oder nach Abschluss einer mündlichen Verhandlung von dem neuen Richter ohne jede Verhandlung entschieden wird (RIS-Justiz RS0036578 [T3]). Soweit die oben genannten Voraussetzungen gegeben sind, bewirkt auch die Beschlussfassung durch einen anderen Richter als denjenigen, der die mündliche Verhandlung durchgeführt hat, Nichtigkeit im Sinn des § 477 Abs 1 Z 2 ZPO (M. Bydlinski aaO Vor §§ 425 ff ZPO Rz 16).
1.3 Mit seinem Beschluss sprach das Erstgericht trotz Richterwechsels ohne Durchführung einer Verhandlung seine internationale Unzuständigkeit aus.
Nach § 261 Abs 1 ZPO aF musste über die Prozesseinrede mündlich verhandelt werden. Nach § 261 Abs 2 ZPO idF BGBl I Nr 94/2015 (in Kraft getreten am ) ist eine mündliche Verhandlung über die Einrede nur anzuberaumen, wenn das Gericht dies im einzelnen Fall für erforderlich hält.
Hier galt es daher für das Erstgericht den Unmittelbarkeitsgrundsatz aufgrund der gesetzlichen Regelung zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlungen über die Prozesseinrede und weil das Erstgericht unmittelbar aufgenommene Beweise gewürdigt hat, einzuhalten.
1.4 Die Voraussetzungen des Vorliegens des Nichtigkeitsgrundes des § 477 Abs 1 Z 2 ZPO sind damit vom Rekursgericht zutreffend bejaht worden, wogegen die Beklagte auch keine Argumente vorbringt.
2.1 Allgemein ist voranzustellen, dass es gerade Charakteristikum der Nichtigkeitsgründe des § 477 ZPO ist, dass sie regelmäßig von Amts wegen, also auch ohne entsprechende Rüge in einem Rechtsmittel, aufzugreifen sind (vgl RIS-Justiz RS0041901). Dies wird hinsichtlich des Nichtigkeitsgrundes des § 477 Abs 1 Z 2 ZPO insoweit relativiert, als hier unter bestimmten Voraussetzungen der Einlassung „Heilung“ eintreten kann (9 ObA 132/07p).
2.2 Nach § 260 Abs 2 ZPO kann der Umstand, dass das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt ist (§ 477 Abs 1 Z 2 ZPO) nicht mehr berücksichtigt werden, wenn sich beide Parteien in die mündliche Streitverhandlung eingelassen haben, ohne diesen Umstand geltend zu machen.
Zur Vorgängerbestimmung des § 260 Abs 4 ZPO wurde ausgesprochen, dass die Heilungsvorschrift nicht eng auf die mündliche Verhandlung zu beziehen, sondern vielmehr im Sinn einer Einlassung in die Sache zu verstehen ist (RIS-Justiz RS0040259 [T4]). Der in der unrichtigen Besetzung des Berufungsgerichts gelegene Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 2 ZPO kann nur dann als geheilt angesehen werden, wenn eine mündliche Berufungsverhandlung anberaumt worden ist (RIS-Justiz RS0040259). Ein im Berufungsverfahren unterlaufener Verstoß gegen die Geschäftsverteilung muss entweder vor Einlassung in die Berufungsverhandlung oder, wenn eine solche nicht stattgefunden hat, in der Revision gerügt werden, widrigenfalls der Nichtigkeitsgrund vom Obersten Gerichtshof nicht wahrgenommen werden kann (2 Ob 85/09b).
Diese Rechtsprechung kann auf die inhaltsgleiche Nachfolgebestimmung des § 260 Abs 2 ZPO übertragen werden.
2.3 Die Klägerin rügte die Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO in ihrem Rekurs. Fraglich ist aber, ob dadurch, dass sie diesen Rekursgrund ausdrücklich bloß hilfsweise, nämlich für den Fall erhob, dass die anderen geltend gemachten Rekursgründe (Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit, unrichtige Tatsachenfeststellungen, unrichtige rechtliche Beurteilung und Nichtigkeit wegen § 477 Abs 1 Z 9 ZPO) nicht greifen, wobei sie vorrangig die Abänderung der erstgerichtlichen Entscheidung, hilfsweise deren Aufhebung zur Verfahrensergänzung und wiederum hilfsweise deren Aufhebung als nichtig begehrte, Heilung eingetreten ist.
3. § 471 Z 5 ZPO weist die Beratung und Entscheidung des Berufungssenats über eine geltend gemachte Nichtigkeit dem Vorprüfungsverfahren zu. Daraus folgt, dass die Prüfung einer geltend gemachten Nichtigkeit gegenüber der Prüfung der übrigen Berufungsgründe vorrangig zu erfolgen hat. Das hat auch im Rekursverfahren zu gelten, in dem inhaltlich dieselbe Prüfung des Vorliegens allfälliger Nichtigkeit vorzunehmen ist. Dies ist auch zweckmäßig; handelt es sich bei Nichtigkeitsgründen doch um schwere Verletzungen grundsätzlicher Verfahrensvorschriften, die in der Regel ohne Rücksicht auf ihre Auswirkungen im Einzelfall aufzugreifen sind und deren Verneinung erst die Prüfung der weiteren Rechtsmittelgründe ermöglicht.
4. Zwar sind bedingte Prozesshandlungen in der Regel dann zulässig, wenn die Bedingung in einem innerprozessualen Umstand oder Vorgang besteht und ihre Beachtung nicht dazu angetan ist, die Vorhersehbarkeit des weiteren Prozessablaufs für das Gericht oder den Prozessgegner in unerträglicher Weise zu beeinträchtigen (RIS-Justiz RS0037502, RS0006954 [T4], RS0006441). In diesem Sinn ist der Oberste Gerichtshof etwa bei konkurrierenden Rechtsbehelfen (4 Ob 509/93) oder bei einem an das Gericht erster Instanz gerichteten Antrag auf Nichtigerklärung eines Verfahrensteils und eines nur für den Fall der Abweisung dieses Antrags erhobenen Rechtsmittels (8 Ob 503/90) vom Vorliegen einer „innerprozessualen“ Bedingung ausgegangen.
Hier hat die Klägerin nicht die Erhebung des Rekurses selbst an eine Bedingung geknüpft, sondern die Reihenfolge der gewünschten Erledigung der Rechtsmittelgründe festgelegt, indem sie Nichtigkeit nur unter der Bedingung des Scheiterns der übrigen Rechtsmittelgründe geltend macht. Eine derartige Bedingung ist aber schon deshalb unzulässig, weil sie der vom Gesetz angeordneten vorrangigen Prüfung des Vorliegens von Nichtigkeitsgründen widerspricht.
5. Zu prüfen ist nun, ob die unter der unzulässigen Bedingung gesetzte Prozesshandlung als (unbedingt) vorgebracht oder als nicht vorgebracht anzusehen ist.
Jeder Partei steht nur eine einzige Rechtsmittelschrift oder Rechtsmittelgegenschrift zu. Weitere Rechtsmittelschriften und Rechtsmittelgegenschriften, Nachträge oder Ergänzungen sind auch dann unzulässig, wenn sie innerhalb gesetzlicher Frist angebracht wurden (RIS-Justiz RS0041666). Die Erhebung eines Rechtsmittels ist ein einheitlicher Akt (Pimmer in Fasching/Konecny² IV § 465 ZPO Rz 1) über den eine einheitliche Entscheidung ergeht. Das heißt, das Rechtsmittel muss als Einheit betrachtet werden, eine Reihung von Rechtsmittelgründen ist unzulässig. Da die Klägerin (wenn auch nur hilfsweise) den Nichtigkeitsgrund nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO ausdrücklich geltend macht, kann von einer Heilung nicht ausgegangen werden.
6. Das Vorliegen des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes war damit vorrangig zu prüfen, was zur Aufhebung der erstgerichtlichen Entscheidung zu führen hatte. Dem Revisionsrekurs war daher keine Folge zu geben. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 ZPO.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0070OB00236.16F.0215.000 |
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