OGH vom 29.10.1997, 6Ob318/97a

OGH vom 29.10.1997, 6Ob318/97a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kellner, Dr.Schiemer, Dr.Prückner und Dr.Schenk als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am geborenen mj. Romana K***** infolge Revisionsrekurses des Vaters, Otto K*****, vertreten durch Dr.Johann Etienne Korab, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 43 R 624/97a-54, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom , GZ 5 P 1005/95x-45, bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluß aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällende Entscheidung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die Ehe der Eltern des Kinder wurde am aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Beide Elternteile streben die alleinige Obsorge an. Der Vater verwies darauf, daß das Kind bis zu seinem 6. Lebensjahr in einer Großfamilie, bestehend aus Vater, Großmutter väterlicherseits und den beiden Schwestern des Vaters aufgewachsen sei und dort bleiben solle. Die Zukunft der Mutter, die keine eigenen Wohnrechte habe und bei einem Lebensgefährten wohne, sei eher ungewiß.

Das Amt für Jugend und Familie 11. Bezirk befürwortete am die Obsorge der Mutter. Das Sachverständigengutachten bestätigte die Eignung beider Eltern zur Obsorge und regte an, das Recht des Kindes auf beide Eltern in den Vordergrund zu stellen; der Sachverständige sprach sich unter Bezugnahme auf die österreichische Rechtsordnung dafür aus, derzeit (solange durch gesetzliche Änderung eine gemeinsame Obsorge beider Elternteile nicht möglich sei) der Mutter die Obsorge zu übertragen, dem Vater aber ein großzügiges Besuchsrecht einzuräumen (ON 24).

Das Erstgericht "übertrug" die Obsorge der Mutter.

Es stellte fest, das Kind sei somatisch, intellektuell und altersmäßig entsprechend entwickelt und habe die Trennung der Eltern verkraftet. Die bisherige Betreuungssituation habe sich so gestaltet, daß die Minderjährige in den ersten zwei Lebensjahren während des Karenzurlaubes hauptsächlich von der Mutter betreut worden sei. Diese habe dann im väterlichen Betrieb als Serviererin zu arbeiten begonnen. Während dieser Zeit sei das Kind hauptsächlich von der väterlichen Großmutter und den Schwestern des Vaters betreut worden. Nach dem Auszug der Mutter aus der Ehewohnung habe zwischen Kind und Vater für kurze Zeit nur wenig Kontakt bestanden. Seit ihrem Schuleintritt besuche die Minderjährige ihren Vater Dienstag und Donnerstag nach der Schule, übernachte bei ihm und werde am nächsten Tag vom Vater in die Schule gebracht. Auch Freitags halte sich die Minderjährige nach Schulschluß bis etwa 16.00 Uhr beim Vater auf und werde dann von der Mutter abgeholt. Jeden zweiten Sonntag verbringe sie bei der Großmutter, übernachte bei ihr und werde Montag früh in die Schule gebracht. Die übrigen Wochenenden würden zwischen den Eltern aufgeteilt, sonst halte sich die Minderjährige bei der Mutter auf. Sie werde bei Aufenthalten im väterlichen Haushalt teilweise von Großmutter, Tante oder der nunmehrigen Lebensgefährtin des Vaters betreut. Die Minderjährige habe sich an die Betreuungssituation gewöhnt und empfinde sie positiv. Beide Elternteile hätten eine gute Beziehung zum Kind und seien für deren Erziehung bestens geeignet.

Bei Gegenüberstellung der Betreuungssituation im Haushalt des jeweiligen Elternteils erwog das Erstgericht, daß der Vater aufgrund seiner selbständigen Tätigkeit als Unternehmer über wenig Freizeit verfüge und deshalb die Betreuung des Kindes überwiegend an Verwandte delegiere. Die Mutter kümmere sich in ihrer Freizeit persönlich um die Minderjährige und wolle diese Situation durch die Aufnahme einer Halbtagsbeschäftigung noch verbessern. Unter Berücksichtigung des Alters sei aus entwicklungspsychologischer Sicht von einer stärkeren Bindung an die Mutter auszugehen und ihr die Obsorge zuzusprechen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters, mit dem dieser fehlende Feststellungen zu den Lebensumständen und der Betreuungssituation bei der Mutter gerügt hatte, nicht Folge und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Die Mutter habe in ihrer Äußerung wohl zugegeben, derzeit arbeitslos zu sein. Dies habe aber auf die Obsorgezuteilung keinen Einfluß. Irrelevant sei auch, ob und in welcher Form der Mutter an der Liegenschaft oder Wohnung, die sie künftig mit ihrem Lebensgefährten beziehen werde, Wohnrechte eingeräumt werden. Eine drohende Obdachlosigkeit der Mutter werde weder behauptet, noch durch den Akteninhalt dokumentiert. Die Lebensverhältnisse der Mutter seien stabil, konkrete dagegen sprechende Gründe würden auch vom Rekurswerber nicht vorgetragen. Sowohl das Jugendamt als auch der Sachverständige hätten die Zuteilung der Obsorge an die Mutter, deren Wohnsituation derzeit geordnet sei, befürwortet. Obwohl beide Eltern gleich fähig seien, die Minderjährige zu pflegen und zu erziehen, sei aufgrund des Alters des Kindes eine Obsorgezuteilung an die Mutter derzeit geboten. Dies schließe nicht aus, daß die Minderjährige, die unbestritten zu ihrem Vater intensiven Kontakt und ein gutes Verhältnis habe, in der Zukunft ihre Präferenz für den Verbleib beim Vater aussprechen werde.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig, weil der rechtlichen Beurteilung des Rekursgerichtes ein in wesentlichen Punkten unvollständiger Sachverhalt zugrundeliegt, der zur Wahrung der Rechtssicherheit und Rechtseinheit eine Ergänzung geboten erscheinen läßt (stRsp RIS-Justiz RS0042863; EFSlg 67.429). Das Rekursgericht hat nämlich bei seiner Entscheidung über die erstmalige Obsorgeregelung die Wohn- und Lebensverhältnisse der Mutter unbeachtet gelassen.

Bisher wurde die Obsorge aufgrund einer zwischen den Eltern getroffenen Vereinbarung von beiden Eltern in annähernd gleichem Umfang wahrgenommen.

Bei der Beurteilung, bei welchem Elternteil das Wohl des Kindes besser gewährleistet ist, müssen anläßlich der gerichtlichen Entscheidung über die endgültige Obsorgeregelung die Lebensumstände beider Elternteile in ihrer Gesamtheit einschließlich des Umfelds einander gegenübergestellt werden. Neben dem Interesse an möglichst guter Verpflegung und Unterbringung des Kindes sind auch das Interesse an möglichst guter Erziehung, sorgfältiger Beaufsichtigung und an möglichst günstigen Voraussetzungen seiner ordnungsgemäßen seelischen und geistigen Entwicklung zu berücksichtigen (stRsp RIS-Justiz RS0047832). Auch der mögliche Betreuungsbeitrag von Großeltern oder neuen Lebenspartnern kann dabei eine Rolle spielen (Schwimann in Schwimann, ABGB2 Rz 11 zu § 177 mwN).

Diese Gesamtbeurteilung hat nicht allein nur von der aktuellen Situation auszugehen, es sind vielmehr Zukunftsprognosen zu stellen (stRsp RIS-Jusitz RS0048632) und das Für und Wider sorgfältig abzuwägen, um die dem Kindeswohl am besten entsprechende Alternative zu wählen. Die damit verbunde zukunftsbezogene Rechtsgestaltung ist nur dann sachgerecht, wenn sie auf aktuellen Sachverhaltsgrundlagen beruht (SZ 69/20).

Das Gericht hat alle Umstände und Verhältnisse, die auf seine Verfügung Einfluß haben, von Amts wegen zu untersuchen und den maßgeblichen Sachverhalt zu erforschen (EFSlg 79.416, 79.417).

Im vorliegenden Fall hat der Vater für das Kindeswohl bedeutsame Umstände aufgezeigt (beabsichtigter Wohnsitz - und Schulwechsel, Eingehen einer neuen Beschäftigung durch die Mutter und damit neue Betreuungssituation allenfalls auch durch den Lebengefährten der Mutter), die bisher nicht ausreichend überprüft und bewertet wurden.

Das Erstgericht hat wohl die Lebensverhältnisse des Vaters und die bei ihm gegebene Betreuungsituation festgestellt und eingehend gewürdigt. Es hat jedoch über die Wohn- und Lebensverhältnisse der Mutter und die offenbar beabsichtigten Änderungen keinerlei Feststellungen getroffen und nicht einmal aktuelle Erhebungen durch das Jugendamt veranlaßt, sodaß wesentliche Entscheidungsgrundlagen für die aus Anlaß der Sorgerechtsentscheidung erforderliche Abwägung aller das Wohl des Kindes betreffenden Umstände fehlen. Die im Mai 1995 eingeholte Stellungnahme des Bezirksjugendamtes ist nicht ausreichend, da sie auf die seither geänderte Verhältnisse bei der Mutter (Arbeitslosigkeit mit neuer Beschäftigungsaussicht und damit zusammenhängend geänderte Betreuungsnotwendigkeiten, Wohnsitz- und Schulwechsel) nicht Rücksicht nimmt.

Auch der Sachverständige ist bei seiner Begutachtung von einer Sachverhaltsgrundlage im Mai 1996 ausgegangen und hat ein Sorgerecht der Mutter allein unter Hinweis auf das damalige Alter des Kindes befürwortet. Er hat sich überdies für eine neuerliche Überprüfung schon nach kürzerer Zeit ausgesprochen.

Aus all diesen Erwägungen erweist sich eine Verfahrensergänzung als unumgänglich. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren auch die Lebensverhältnisse der Mutter und die bei dieser gegebene Betreuungssituation festzustellen und jener beim Vater gegenüberzustellen haben. Im Rahmen der gleichfalls anzustellenden Zukunftsprognose wird auch zu prüfen sein, bei welchem Elternteil der Minderjährigen die größtmögliche Föderung ihrer positiven Entwicklung zuteil werden kann.