OGH vom 19.10.2006, 3Ob208/06v
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Zechner, Dr. Prückner, Dr. Sailer und Dr. Jensik als weitere Richter in der Sachwalterschaftssache der Felicitas J*****, vertreten durch Mag. Astrid Wagner, Rechtsanwältin in Wien, infolge Revisionsrekurses der Betroffenen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 42 R 227/06b-44, womit infolge Rekurses der Betroffenen der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom , GZ 35 P 93/05b-40, bestätigt wurde, den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung durch das Erstgericht aufgehoben.
Text
Begründung:
Die am geborene alleinstehende Betroffene lebt in ihrer Eigentumswohnung im obersten Stockwerk eines Hauses ohne Lift im 14. Wiener Gemeindebezirk. Sie ist gehbehindert. Die Geschäfte des täglichen Lebens übernimmt ein Bekannter, den die Betroffene seit rund zehn Jahren kennt, als Vertrauensperson schätzt und den sie auch schon testamentarisch zum Erben eingesetzt hat.
Über Anregung des Hausarztes der Betroffenen vom wurde ein Sachwalterschaftsverfahren eingeleitet und am für die Betroffene eine Rechtsanwältin zur Verfahrenssachwalterin (§ 119 AußStrG) sowie zur einstweiligen Sachwalterin gemäß § 120 AußStrG zur Besorgung dringender Angelegenheiten bestellt. Grundlage der Entscheidung war ein psychiatrisches Gutachten (ON 11), demzufolge die Betroffene an einem „diskreten [leichten] dementiellen Zustandsbild bei altersbedingtem zerebralen Abbau, verbunden mit leichten Störungen von Merkfähigkeit und Auffassung" leide. Die Betroffene erkenne aber ihre Defizite und sei imstande, gültige Vollmachten und Aufträge zu erteilen (Gutachten AS 57 f). Die Bestellung der Rechtsanwältin zur einstweiligen Sachwalterin wurde mit der Entscheidung des Rekursgerichts vom ersatzlos behoben. Im fortgesetzten Verfahren über die Voraussetzungen zur Bestellung eines Sachwalters ergänzte der Sachverständige sein Gutachten dahin, dass die Betroffene zwar Aufgaben delegieren, jedoch nicht erkennen könne, „an wen sie die Angelegenheiten zu delegieren hat, bzw. ob der Vertreter geeignet ist, ihre Angelegenheiten zu regeln oder nicht. Die Betroffene ist zwar in der Lage Vollmacht zu erteilen, kann sich aber durch die Vollmachtserteilung an ungeeignete Personen durchaus selbst schädigen, da sie die Ungeeignetheit der Bevollmächtigten nicht erkennen kann" (SV AS 65). Das Erstgericht bestellte daraufhin einen zweiten Sachverständigen zur Klärung der Frage, ob die Betroffene trotz ihrer Behinderung zwar Vollmacht erteilen, die Eignung des Bevollmächtigten aber nicht erkennen könne. Es nahm aber in der Folge - nach erfolgloser Anfechtung des Sachverständigenbestellungsbeschlusses durch die Betroffene - von der Gutachtenserstattung Abstand und bestellte auf der Basis des schon aktenkundigen Gutachtens samt seiner Ergänzung die Verfahrenssachwalterin zur Sachwalterin gemäß § 273 Abs 3 Z 2 ABGB für folgende Angelegenheiten:
„Die Genehmigung oder Nichtgenehmigung der von der Betroffenen erteilten Aufträge, Ermächtigungen und Vollmachten und die Kontrolle deren Ausführung für die Einkommens- und Vermögensverwaltung; die Vertretung vor Ämtern, Behörden und Gerichten." Im Spruch der Entscheidung stellte das Erstgericht noch fest, dass die Betroffene selbständig testieren könne.
Der Erstrichter stellte dem Gutachten folgend ein leichtes dementielles Zustandsbild und die Einsicht der Betroffenen in „dieses Defizit" fest. Sie könne aber nicht erkennen, an wen sie ihre Angelegenheiten delegiere und ob der Vertreter geeignet sei. Deshalb könne die von ihr beabsichtigte Selbstbesorgung der Angelegenheiten über eine selbstorganisierte fremde Hilfe durch eine Vertrauensperson nicht erreicht werden.
Das Rekursgericht bestätigte diese Rechtsmeinung und gab dem Rekurs der Betroffenen nicht Folge. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig sei.
Dagegen richtet sich der als außerordentlicher Revisionsrekurs zu behandelnde „ordentliche Revisionsrekurs" der Betroffenen mit dem unschlüssigen Antrag auf „ersatzlose Aufhebung" und dem hilfsweise gestellten Antrag auf Aufhebung zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist ein außerordentliches Rechtsmittel, weil die Sachwalterbestellung keine rein vermögensrechtliche Angelegenheit iSd § 62 Abs 2 und 3 AußStrG ist (§ 62 Abs 4 leg cit) und daher eine Abänderung des Rechtsmittelzulässigkeitsausspruchs durch das Rekursgericht (§ 63 Abs 1 AußStrG) nicht in Frage kommt. Der Revisionsrekurs ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts zulässig. Das Rechtsmittel ist iS des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt. Zwar kann die gerügte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz infolge Unterlassung der Einholung eines zweiten Sachverständigengutachtens nicht zum Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens gemacht werden, weil das Rekursgericht den Verfahrensmangel schon behandelt und verneint hat, woran der Oberste Gerichtshof nach stRsp gebunden ist (RIS-Justiz RS0050037, RS0030748). Die Betroffene kann auch nicht die Richtigkeit der Feststellungen der Vorinstanzen aus dem Grund unrichtiger Beweiswürdigung bekämpfen. Der Oberste Gerichtshof ist nur Rechtsinstanz, nicht aber Tatsacheninstanz (RIS-Justiz RS0007236). Mit Revisionsrekurs anfechtbar sind jedoch Feststellungsmängel aufgrund unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Solche liegen hier vor, weil die Frage der Zulässigkeit der Sachwalterbestellung hier nur nach einer Verbreiterung der Sachverhaltsgrundlage geprüft und entschieden werden kann:
I. Zu den Voraussetzungen einer Sachwalterbestellung nach folgenden maßgeblichen, in der oberstgerichtlichen Rsp vertretenen Grundsätzen:
1. Die Bestellung eines Sachwalters hat subsidiären Charakter und darf nur dann erfolgen, wenn der Betroffene nicht anders, nämlich durch die im § 273 Abs 2 ABGB erwähnten Möglichkeiten, in die Lage versetzt werden kann, seine Angelegenheiten im erforderlichen Ausmaß zu besorgen (RIS-Justiz RS0049088).
2. Die Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer Bestellung eines Sachwalters für eine behinderte Person müssen konkret und begründet sein. Sie müssen sich sowohl auf die psychische Krankheit oder geistige Behinderung als auch auf die Schutzbedürftigkeit beziehen (6 Ob 196/97k). Die Sachwalterbestellung setzt voraus, dass überhaupt Angelegenheiten zu besorgen sind (4 Ob 2299/96h).
3. Die Bestellung eines Sachwalters ist dann unzulässig, wenn der Betroffene sich der Hilfe anderer in rechtlich einwandfreier Weise bedienen kann, beispielsweise durch Vollmachtserteilung oder durch Genehmigung einer Geschäftsführung (RIS-Justiz RS0048997).
4. Die Hilfe durch einen Vertreter ist nur dann möglich, wenn die behinderte Person noch zu eigenem Handeln fähig ist, also noch über ein bestimmtes Maß an Einsichtsfähigkeit und Urteilsfähigkeit verfügt (RIS-Justiz RS0049004).
II. Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ist mangels konkreter Feststellungen, welche Angelegenheiten die Betroffene zu besorgen hat und wegen der Ergänzungsbedürftigkeit der getroffenen Feststellungen zur Einsichtsfähigkeit der Betroffenen derzeit noch nicht möglich:
1. Ob die Betroffene einen Sachwalter - hier noch dazu einen Rechtsanwalt (Rechtsanwältin) - benötigt, setzt die Kenntnis voraus, welche Angelegenheiten sie zu besorgen hat. Das Erstgericht hat weder die Einkommens- und Vermögensverhältnisse noch die Lebensverhältnisse (Wohnen in der eigenen Eigentumswohnung; ständige Betreuung durch den Hausarzt; Verrichtung der täglichen Geschäfte durch die Vertrauensperson) festgestellt. Ob über die Alltagsgeschäfte hinausgehende Angelegenheiten zu besorgen sind, steht eben sowenig fest wie die Frage, ob Verfahren vor Ämtern, Behörden und Gerichten schon anhängig oder doch zu erwarten sind. Die Frage der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen kann daher schon aus dem Grund fehlender Tatsachenfeststellungen nicht überprüft werden. Von der Art der zu besorgenden Geschäfte hängt aber auch das Maß der Einsichtsfähigkeit der Betroffenen ab, die vorliegen muss, dass sie mit Hilfe bevollmächtigter Dritter ihre Angelegenheiten ohne Bestellung eines Sachwalters selbst besorgen kann.
2. Das Subsidiaritätsprinzip des § 273 Abs 2 ABGB gilt nicht schon generell dann, wenn eine geminderte Einsichtsfähigkeit des Betroffenen dazu führt, dass rein abstrakt gesehen die Gefahr besteht, der Betroffene werde sich durch Auswahl eines ungeeigneten Bevollmächtigten selbst schädigen. Der Sachverständige und ihm folgend die Vorinstanzen haben zwar eine fehlende subjektive Fähigkeit der Betroffenen zur Prüfung der Eignung eines Bevollmächtigten ganz allgemein festgestellt. Ob sie dabei aber auch die Geschäfte des täglichen Lebens im Auge hatten, blieb genauso offen wie die Frage, welche anderen Angelegenheiten zu besorgen wären. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass der Sachverständige in seinem Gutachten zunächst von einer Fähigkeit ausging, „gültige Vollmachten und Aufträge zu erteilen", sodass nicht feststeht, was mit der Relativierung dieser Aussage im Ergänzungsgutachten gemeint war, ob der Betroffenen also tatsächlich beispielsweise auch für die Bevollmächtigung eines Vertreters zur Besorgung der Geschäfte des täglichen Lebens die erforderliche Einsichtsfähigkeit fehlt. Um diese Frage verlässlich beurteilen zu können, bedarf es ergänzender konkreter Feststellungen über das Ausmaß der geistigen Behinderung (Reduzierung) der Betroffenen. Im Lichte der mit dem noch nicht in Kraft getretenen Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 verfolgten Absicht des Gesetzgebers, dem Ansteigen der Sachwalterschaften entgegenzuwirken, das Subsidiaritätsprinzip stärker zu betonen und hiefür das Institut einer Vorsorgevollmacht an eine Person des Vertrauens als künftiger Vertreter des Betroffenen zu schaffen (dazu Barth, Das Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006, in FamZ 2006, 138
ff) ist die hier anzuwendende Bestimmung des § 273 Abs 2 ABGB jedenfalls nicht restriktiv dahin auszulegen, dass schon jede fehlende Fähigkeit eines Betroffenen, die Eignung eines Bevollmächtigten in fachlicher und charakterlicher Hinsicht verlässlich feststellen zu können, zwingend die Zulässigkeit einer Sachwalterbestellung auslöst. Gerade wenn ein Betroffener sich selbst nicht in der Lage fühlt, eine Angelegenheit selbst zu besorgen, ist fremde Hilfe erforderlich, die sich der Betroffene grundsätzlich aber selbst organisieren kann, solange er nur das Wesen der Bevollmächtigung versteht und eine ins Auge springende fehlende Eignung der in Aussicht genommenen Person in Bezug auf die zu besorgenden Geschäfte auch erkennen kann. Für den zu fordernden Grad der Einsichtsfähigkeit ist - wie ausgeführt - die Frage von Bedeutung, für welche Geschäfte Vertretungsmacht erteilt werden soll, weil davon das Risikopotential für den Betroffenen abhängt. Das Verfahren ist daher noch nicht spruchreif. Es wird im aufgezeigten Sinn sowohl zum Thema der Einsichtsfähigkeit der Betroffenen als auch zur Schutzbedürftigkeit nach der Art der konkret zu besorgenden Geschäfte zu ergänzen sein.