OGH vom 23.10.2019, 7Ob211/18g

OGH vom 23.10.2019, 7Ob211/18g

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. V***** P*****, vertreten durch die Fritzsche Frank Fletzberger Rechtsanwälte GmbH in Wien, und deren Nebenintervenienten DI E***** G*****, vertreten durch Dr. Walter Schuhmeister und Mag. Franz Haydn, Rechtsanwälte in Schwechat, gegen die beklagten Parteien 1. W***** auf Gegenseitigkeit, *****, Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, und 2. Mag. G***** I*****, vertreten durch Mag. Gregor Olivier Rathkolb, Rechtsanwalt in Wien, wegen 7.484,18 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 1 R 40/18m-58, womit das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom , GZ 2 Cg 106/15m-53, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird – im Anschluss an die Vorabentscheidungsersuchen des Landesgerichts Salzburg zu C-355/18, C-356/18 und C-357/18, Rust-Hackner ua gegen Nürnberger Versicherung Aktiengesellschaft Österreich sowiedes Bezirksgerichts für Handelssachen Wien zu C-479/18, KL ua gegen UNIQA Österreich Versicherungen ua – folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind Art 15 Abs 1 der Richtlinie 90/619/EWG in Verbindung mit Art 31 der

Richtlinie 92/96/EWG (bzw Art 35 Abs 1 in Verbindung mit Art 36 Abs 1 der Richtlinie 2002/83/EG bzw Art 185 Abs 1 in Verbindung mit Art 186 Abs 1 der Richtlinie 2009/138/EG) dahin auszulegen, dass sie nationalen Regelungen entgegenstehen, wonach im Falle eines berechtigten (Spät-)Rücktritts des Versicherungsnehmers vom Versicherungsvertrag die von ihm als Steuerschuldner geschuldete und vom Versicherer bloß als Haftender eingehobene und an den Bund (Republik Österreich) abgeführte Versicherungssteuer (in Höhe von 4 % der Netto-Versicherungsprämie) nicht jedenfalls gemeinsam mit der Netto-Versicherungsprämie vom Versicherer aus vertraglicher Rückabwicklung zurückerlangt werden kann, sondern der Versicherungsnehmer darauf verwiesen ist, die Versicherungssteuer vom Bund (Republik Österreich) nach abgabenrechtlichen Vorschriften zurückzuverlangen, oder
– falls dies erfolglos bleibt – allenfalls Schadenersatzansprüche gegen den Versicherer geltend zu machen?

B. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Text

Begründung:

Vorbemerkungen:

Dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) liegen bereits die Vorabentscheidungsersuchen zu C355/18 bis C357/18 des Landesgerichts Salzburg und zu C479/18 des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vor. Im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof stellen sich vor einem vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund ergänzende Fragen an den EuGH.

Rechtsvorschriften:

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art 15 Abs 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG (ABl 1990, L 330, 50) in Verbindung mit Art 31 der

Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung; ABl 1992, L 360, 1) Art 35 Abs 1 in Verbindung mit Art 36 Abs 1 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Lebensversicherungen (ABl 2002, L 345, 1) Art 185 Abs 1 in Verbindung mit Art 186 Abs 1 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II; ABl 2009, L 335, 1).

Die hier anzuwendenden Bestimmungen des österreichischenVersicherungssteuergesetzes (VStG) lauten:

§ 1. (1) Der Steuer unterliegt die Zahlung des Versicherungsentgeltes auf Grund eines durch Vertrag oder auf sonstige Weise entstandenen Versicherungsverhältnisses.

Versicherungsentgelt

§ 3. (1) Versicherungsentgelt im Sinne dieses Gesetzes ist jede Leistung, die für die Begründung und zur Durchführung des Versicherungsverhältnisses an den Versicherer zu bewirken ist (Beispiele: Prämien, […]). […]

Steuerberechnung

§ 5. (1) Die Steuer wird für jede einzelne Versicherung berechnet. Die Bemessungsgrundlage ist

1. regelmäßig das Versicherungsentgelt […].

Steuerschuldner

§ 7. (1) Steuerschuldner ist der Versicherungsnehmer. Für die Steuer haftet der Versicherer. Er hat die Steuer für Rechnung des Versicherungsnehmers zu entrichten. […]

[…]

(3) Hat der Versicherer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum weder seinen

(4) Im Verhältnis zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer gilt die Steuer als Teil des Versicherungsentgeltes, insbesondere soweit es sich um dessen Einziehung und Geltendmachung im Rechtsweg handelt. Zahlungen des Versicherungsnehmers auf das Versicherungsentgelt gelten als verhältnismäßig auf die Steuer und die dem Versicherer sonst zustehenden Forderungen (§ 3 Abs 1) geleistet. […]“

§ 1435 des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) lautet:

Bisheriges Verfahren:

Die Klägerin und das in der Bundesrepublik Deutschland ansässige erstbeklagte Versicherungsunternehmen schlossen Ende Jänner 2012 einen fondsgebundenen Rentenversicherungsvertrag mit Einmalerlag in Höhe von 194.599,77 EUR, darin 7.484,18 EUR Versicherungssteuer, mit einer Laufzeit von 29 Jahren.

Der erstbeklagte Versicherer wurde vom Erstgericht aufgrund des Rücktritts der Klägerin nach erstmaliger (wirksamer) Übersendung der Polizze am und der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung verpflichtet, die NettoVersicherungsprämie an die Klägerin zurückzuzahlen. Das Urteil erwuchs insofern in Rechtskraft. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch die Frage, ob die Erstbeklagte der Klägerin auch die Versicherungssteuer zu zahlen hat.

Die Vorinstanzen wiesen dieses Begehren ab, weil die Versicherungssteuer beim Versicherer, der nicht selbst Steuerschuldner sei, nur eine „Durchlaufpost“ sei. Die Klägerin habe keine Zuwendung an die Erstbeklagte im Sinne einer bewussten Vermehrung fremden Vermögens erbracht. Der Versicherer habe die Steuer für Rechnung des Versicherungsnehmers zu entrichten. Die Leistungsbeziehung bestehe zwischen dem Versicherungsnehmer als Steuerschuldner und dem Bund als Gläubiger der Steuerschuld. Mangels Leistungsbeziehung zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer komme daher eine bereicherungsrechtliche Rückforderung der Versicherungssteuer nicht in Betracht.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat beschlossen, das Verfahren über die dagegen von der Klägerin erhobene Revision auszusetzen und dem EuGH für die Entscheidung der Rechtssache wesentliche unionsrechtliche Fragen vorzulegen.

Begründung der Vorlagefragen:

1.1. Art 15 Abs 1 der Richtlinie 90/619/EWG in Verbindung mit Art 31 der

Richtlinie 92/96/EWG bzw Art 35 Abs 1 in Verbindung mit Art 36 Abs 1 der Richtlinie 2002/83/EG bzw Art 185 Abs 1 in Verbindung mit Art 186 Abs 1 der Richtlinie 2009/138/EG sehen vor, dass der Versicherungsnehmer ab dem Zeitpunkt, zu dem er vom Zustandekommen des Versicherungsvertrags in Kenntnis gesetzt wird, binnen einer bestimmten Frist vom Vertrag zurücktreten kann. Der Versicherer hat dabei im Rahmen der Vertragsanbahnung für eine hinreichende Belehrung über dieses Recht zu sorgen.

Mit der Rücktrittserklärung wird der Versicherungsnehmer von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen befreit.

1.2. Wenn in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung die Einzelheiten der Durchführung von Unionsnormen nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten durch das jeweilige innerstaatliche Recht geregelt werden, so dürfen sie doch nicht ungünstiger sein als bei entsprechenden Sachverhalten, die nur innerstaatliches Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), und sie dürfen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz – vgl , C-363/13 und C-407/13, Fiamingo, Rn 63, und , C-429/12, Pohl, Rn 23, jeweils mwN). Dabei ist anerkannt, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Unionsrecht vereinbar ist, weil solche Fristen nicht geeignet sind, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (zB C-429/12, Pohl, Rn 29; und , C-637/17, Cogeco, Rn 42 f; jeweils mwN).

2.1. Nach dem innerstaatlichen Recht hat ein– wie hier – begründeter und wirksamer Rücktritt von einem Vertrag die Auflösung des Vertrags ex tunc zur Folge, was die obligatorische Verpflichtung zur Wiederherstellung des früheren Zustands mit sich bringt (§ 1435 ABGB; vgl RS0018414 [T2]).

Leistungskondiktionen stehen zur Rückabwicklung fehlerhafter Leistungen dem Leistenden gegen den Empfänger zu und setzen eine Leistung des Verkürzten an den Bereicherten voraus, wobei unter der Leistung eine bewusste Zuwendung zur Erreichung eines bestimmten Zwecks zu verstehen ist. Wer rückstellungspflichtiger Leistungsempfänger ist, hängt davon ab, auf welchen Rechtsgrund hin der rückforderungsberechtigte Leistende seine Leistung erbringen wollte; die Absicht des Leistenden ist dabei – wie bei rechtsgeschäftlichen Erklärungen – vom Empfängerhorizont aus festzustellen (vgl

RS0020192). Sind an einer Vermögensverschiebung mehrere Personen beteiligt, so ist die Feststellung vom Berechtigten und Verpflichteten auf Grund der von den Parteien bei der Leistung vorgestellten Zweckbestimmung zu treffen. Es muss daher gefragt werden, wer nach dem angenommenen Schuldverhältnis oder der sonstigen Zweckvereinbarung Leistender und wer Leistungsempfänger sein sollte; die Rückabwicklung ist zwischen diesen Personen vorzunehmen (vgl RS0033737).

2.2. Bei der hier in Frage stehenden Rückabwicklung nach § 1435 ABGB ist in Ansehung der Versicherungssteuer zu berücksichtigen, dass nach § 7 Abs 1 VStG der Versicherungsnehmer Steuerschuldner ist, während der Versicherer nur für die Einhebung und Abfuhr der Steuer haftet, was aufgrund der Ausgestaltung der Steuer schon von Anfang an klar ist. Die dem Versicherer vom Bund übertragene abgabentechnische Aufgabe der Berechnung, Einhebung und Ablieferung der Steuer ändert nichts an deren Charakter. Nähme der Staat für die Einhebung der auf Versicherungsverträge erhobenen Steuer nicht einen privaten Dritten (hier den Versicherer) in die Pflicht, bliebe es bei der Grundregel, dass der Steuerschuldner für die Entrichtung der Steuer selbst zu sorgen hat. Dies ist auch schon nach geltendem österreichischen Recht bei Verträgen mit Versicherern ohne (Wohn)Sitz oder Bevollmächtigten zur Entgegennahme des Versicherungsentgelts in der Union/dem EWR der Fall (§ 7 Abs 3 VStG). Auch dies zeigt, dass der eigentlichen Leistung des Versicherers für die Begründung und Durchführung des Versicherungsverhältnisses (§ 3 Abs 1 VStG) nur das (Netto)Versicherungsentgelt gegenübersteht, wohingegen der Versicherungssteuer keine Leistung des Versicherers gegenüber dem Versicherungsnehmer entspricht und insofern kein Äquivalenzverhältnis besteht.

Soweit nach § 7 Abs 4 VStG im Verhältnis zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer die Steuer als Teil des Versicherungsentgelts „gilt“, „insbesondere“ soweit es sich um dessen Einziehung und Geltendmachung im Rechtsweg handelt, bestehen über den Bereich der Einziehung und Abfuhr der Steuer hinaus keine Gründe, warum die Steuer versicherungssteuerrechtlich zum Versicherungsentgelt gehören sollte. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die bis dahin inhaltsgleiche deutsche Rechtslage in jüngerer Zeit insofern geändert wurde (vgl nunmehr § 7 Abs 9 dVStG 1996 idF VerkehrStÄndG, dBGBl I 2012/57, 2433), als das Wort „insbesondere“ als entbehrlich entfallen ist (Gesetzentwurf der deutschen Bundesregierung zum VerkehrStÄndG, Bundestags-Drucksache 301/12).

3.1. Die Erstbeklagte ist daher nach nationalem Recht durch die Versicherungssteuer nicht bereichert, sondern die Leistungszuwendung erfolgte nach dem völlig klaren Zweck der zu beurteilenden Regeln des VStG vom Steuerschuldner – hier der Klägerin – in Erfüllung einer Steuerpflicht an den Bund.

3.2. Damit könnte der Versicherungsnehmer nach österreichischem Bereicherungsrecht im Falle des ihm auf unionsrechtlicher Grundlage zustehenden Rücktritts vom Vertrag vom Versicherer nur die NettoVersicherungsprämie, also das Entgelt für die Versicherung, erlangen. Hinsichtlich der Versicherungssteuer wäre er auf die Rückforderung im Abgabenverfahren oder auf Schadenersatz gegenüber dem Versicherer zu verweisen.

3.3. Es stellen sich daher die genannten Fragen, ob diese Rechtslage dem Äquivalenz und Effektivitätsgrundsatz entspricht.

Aussetzung des Verfahrens:

Der Ausspruch über die Aussetzung des Verfahrens gründet sich auf § 90a Abs 1 GOG.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00211.18G.1023.000

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