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OGH vom 24.07.2019, 6Ob126/19a

OGH vom 24.07.2019, 6Ob126/19a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache des Antragstellers Land Niederösterreich, *****, vertreten durch Mag. Thomas Reisch, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin C*****, vertreten durch Scheer Rechtsanwalt GmbH in Wien, wegen Unterhalts, über den Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom , GZ 20 R 141/18b-45, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Bruck an der Leitha vom , GZ 3 Fam 59/17t-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

L*****, geboren am ***** 1976, ist die Tochter von R***** und der Antragsgegnerin. Sie befindet sich seit aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe 7) im M*****. Ihr wird Sozialhilfe nach den Bestimmungen des NÖ Sozialhilfegesetzes 2000 (NÖSHG) durch Übernahme der Aufenthalts und Pflegekosten im Heim gewährt. Die Kosten der Sozialhilfe trägt das Land Niederösterreich. Der von L***** aus ihrem Einkommen und Pflegegeld geleistete Beitrag deckt die Aufenthalts und Pflegekosten nicht zur Gänze.

Der Antragsteller beantragte zuletzt, die Antragsgegnerin zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 970 EUR zu verpflichten. Der Unterhaltsanspruch sei aufgrund der Verständigung der Antragsgegnerin am gemäß § 42 NÖSHG auf das Land Niederösterreich als Sozialhilfeträger übergegangen.

Die Antragsgegnerin sprach sich gegen die begehrte Unterhaltsfestsetzung aus und beantragte, das Verfahren nach § 330a, 707a ASVG einzustellen.

Das Erstgericht gab dem Antrag statt.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Kostentragungsregeln des NÖSHG bewirkten, dass der volle Unterhaltsanspruch der Tochter gegenüber ihren Eltern trotz primärer Vollversorgung durch das Land als Sozialhilfeträger grundsätzlich bestehen bleibe. Dem Einwand der Antragsgegnerin, der Kostenregress sei durch § 35 NÖSHG begrenzt, sei entgegenzuhalten, dass es sich hier nicht um die Geltendmachung eines Kostenbeitrags handle, sondern um die Geltendmachung des nach § 42 NÖSHG auf das Land Niederösterreich als Sozialhilfeträger übergegangenen Unterhaltsanspruchs des Kindes. Dieser Unterhaltsanspruch bestehe unabhängig von der Volljährigkeit, weshalb die von der Rekurswerberin angestrebte Begrenzung nach § 35 NÖSHG nicht greife.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil sich der Oberste Gerichtshof mit der konkreten Konstellation des § 42 NÖ-SHG iVm § 330a ASVG noch nicht auseinandergesetzt habe.

Rechtliche Beurteilung

Hierzu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Der Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig; er ist auch berechtigt.

1.1. Nicht gefolgt werden kann dem Standpunkt der Revisionsrekurswerberin freilich in Bezug auf § 330a ASVG. Diesbezüglich ist durch die Rechtsprechung bereits geklärt, dass sich das Verbot des „Pflegeregresses“ ausschließlich auf das „Vermögen“, nicht aber das Einkommen bezieht (2 Ob 194/18w; 9 Ob 68/18t). Demgemäß hat der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen, dass vom Verbot des Pflegeregresses nach § 330a ASVG nicht die Verpflichtung der Eltern eines nach dem KKJHG im Rahmen der vollen Erziehung untergebrachten Kindes umfasst ist, dem Land die Kosten der vollen Erziehung, soweit durch diese Leistungen der Unterhalt tatsächlich gewährt wurde, zu ersetzen. Diese zum Kärntner Recht ergangene Entscheidung lässt sich auf das im vorliegenden Fall anwendbare NÖ-SHG grundsätzlich übertragen.

1.2. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, dass der Gesetzgeber unter „Vermögen“ im Sinne dieser Bestimmung Sparbücher, Eigenheime etc verstanden hat. Die Materialien führen nämlich aus, dass der bisher in landesgesetzlichen Vorschriften vorgesehene Pflegeregress beim betroffenen Personenkreis „oftmals zur gänzlichen Verwertung sämtlicher oft mühsam erworbener Vermögenswerte wie etwa eines Eigenheimes oder Sparguthabens“ führe (StenProt NR 25. GP 190. Sitzung 185).

1.3. Dadurch könne die im Rahmen des österreichischen Pflegevorsorgesystems intendierte Wahlmöglichkeit für die Betroffenen insofern eingeschränkt werden, als dadurch ein allfällig sachlich gebotener oder von der betroffenen Person gewünschter Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung oftmals nicht realisierbar sei.

1.4. Zudem unterscheidet das NÖSHG deutlich zwischen Einkommen und Vermögen (vgl zB § 15 NÖSHG).

1.5. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in der Entscheidung G 148/20186 mit der Frage der Verfassungswidrigkeit der hier anzuwendenden Bestimmungen des NÖSHG auseinandergesetzt und die Behandlung des Antrags der Antragsgegnerin mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg mit der Begründung abgelehnt, dass § 330a ASVG den Zugriff auf das Vermögen von Angehörigen von Personen in staatlichen Pflegeeinrichtungen verbiete, nicht jedoch den Zugriff auf deren Einkommen.

2.1. Der Revisionsrekurs ist jedoch aus einem anderen Grund berechtigt:

2.2. Die Kostentragungsregeln des NÖSHG bewirken, dass der volle Unterhaltsanspruch der Tochter gegenüber ihren Eltern trotz primärer Vollversorgung durch das Land als Sozialhilfeträger grundsätzlich bestehen bleibt (9 Ob 68/18t).

2.3. Im vorliegenden Fall stellt sich jedoch die Frage nach dem Verhältnis der Regelung des § 42 NÖSHG zu derjenigen des § 35 NÖSHG. Nach § 35 Abs 2 NÖSHG, welche Bestimmung mit „Ausmaß der Hilfe für Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ überschrieben ist, haben die gesetzlich zum Unterhalt des Hilfeempfängers verpflichteten Angehörigen im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht einen Kostenbeitrag zu leisten. Ehegatten, eingetragene Partner, Großeltern, Kinder und Enkel dürfen jedoch nicht zum Kostenbeitrag herangezogen werden. Nach § 35 Abs 3 NÖSHG haben Eltern für die ihren Kindern gewährten stationären Dienste zumindest eine Kostenbeitragsleistung in der Höhe des Werts der Sachbezüge gemäß § 1 Abs 1 der Verordnung des Bundesministers für Finanzen über die bundeseinheitliche Bewertung bestimmter Sachbezüge, BGBl 1992/642 idF BGBl II 1998/423 zu leisten. Jedenfalls haben sie einen Kostenbeitrag in dem Ausmaß zu leisten, als sie für dieses Kind aufgrund gesetzlicher, vertraglicher oder statutarischer Bestimmungen Anspruch auf eine Leistung haben. Für volljährige Hilfeempfänger sind von den Eltern darüber hinaus keine Kostenbeiträge aus deren Einkommen zu erbringen.

2.4. § 35 Abs 2 und 3 NÖSHG regeln somit für die dort behandelte Konstellation die Kostenbeitragspflicht von Angehörigen des Menschen mit besonderen Bedürfnissen im Zusammenhang mit der Unterhaltspflicht. Aus der systematischen Stellung dieser Bestimmung ergibt sich, dass es sich dabei um eine Sonderregelung (lex specialis), zur im allgemeinen Abschnitt 5 „Kostenersatz und Anspruchsübertragung“ des NÖSHG enthaltenen Regelung über den Übergang von Rechtsansprüchen (§ 42 NÖSHG) handelt. Bestünde nämlich regelmäßig auch eine Kostenbeitragspflicht von Unterhaltspflichtigen im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht nach § 42 NÖSHG, bliebe für § 35 Abs 2 und 3 NÖSHG kein Anwendungsbereich mehr. Eine gesetzliche Bestimmung darf aber im Zweifel nicht dahin ausgelegt werden, dass sie völlig funktionslos wäre (Kodek in Rummel/Lukas ABGB4§ 6 Rz 85).

2.5. Damit richtet sich die Beitragspflicht der Antragsgegnerin im vorliegenden Fall ausschließlich nach § 35 Abs 2 und 3 NÖSHG.

2.6. § 35 Abs 2 NÖSHG enthält den allgemeinen Grundsatz, wonach die gesetzlich zum Unterhalt des Hilfeempfängers verpflichteten Angehörigen im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht einen Kostenbeitrag zu leisten haben. Im unmittelbaren Anschluss nimmt Satz 2 dieser Bestimmung jedoch Ehegatten, eingetragene Partner, Großeltern, Kinder und Enkel von dieser Kostenbeitragspflicht aus. Damit bleiben aus praktischer Sicht nur noch die Eltern übrig, ist doch davon auszugehen, dass der theoretisch mögliche Fall einer Unterhaltspflicht von Urgroßeltern dem Landesgesetzgeber nicht bewusst war. Jedenfalls stand letztere Konstellation bei der Einführung des § 35 Abs 2 NÖSHG evident nicht im Vordergrund.

2.7. Für die – nach dem Gesagten allein nach § 35 NÖSHG als Beitragspflichtige in Betracht kommenden –Eltern des Hilfeempfängers enthält § 35 Abs 3 NÖSHG eine Sonderregelung für die ihren Kindern gewährten stationären Dienste. Für diesen Fall sieht § 35 Abs 3 NÖSHG offenbar aus sozialen Erwägungen eine besondere Deckelung vor, die über die allgemeine, in § 35 Abs 2 NÖSHG statuierte Bindung an den Rahmen ihrer Unterhaltspflicht hinausgeht. Eltern haben nämlich eine Kostenbeitragsleistung zwar zumindest in der Höhe des Werts der Sachbezüge zu leisten und jedenfalls insoweit, als sie für dieses Kind aufgrund gesetzlicher, vertraglicher oder statutarischer Bestimmungen Anspruch auf eine Leistung haben.

2.8. Für volljährige Hilfeempfänger sieht das Gesetz jedoch ausdrücklich vor, dass von den Eltern „darüber hinaus“ keine Kostenbeiträge aus deren Einkommen zu erbringen sind. Damit stellt sich die Frage, ob die dort statuierte Einschränkung „darüber hinaus“ sich nur auf den unmittelbar vorangehenden zweiten Satz des § 35 Abs 3 NÖSHG bezieht, der eine Kostenbeitragspflicht an Ansprüche der Eltern auf Leistung für dieses Kind bindet, oder auch auf den ersten Satz des § 35 Abs 3 NÖSHG. Bezöge sich der dritte Satz des § 35 Abs 3 NÖSHG auf beide vorangehende Sätze, bedeutete dies, dass die Eltern volljähriger Hilfeempfänger zwar auch eine Kostenbeitragsleistung in Höhe des Werts der Sachbezüge zu leisten hätten; für diese Kostenbeitragsleistung würde jedoch der Wert der Sachbezüge nicht – wie in § 35 Abs 3 Satz 1 NÖSHG statuiert – die Untergrenze, sondern die Obergrenze bilden. Die Begünstigung für die Eltern volljähriger Hilfeempfänger läge demnach in der Beschränkung der Kostenbeitragsleistung auf die Höhe des Werts der Sachbezüge. Bezieht man demgegenüber § 35 Abs 3 Satz 3 NÖSHG nur auf den unmittelbar vorangehenden Satz, so bedeutete dies, dass Eltern volljähriger Hilfeempfänger überhaupt nur dann einen Kostenbeitrag zu leisten haben, wenn sie für das Kind aufgrund gesetzlicher, vertraglicher oder statutarischer Bestimmungen Anspruch auf eine Leistung haben.

2.9. Nach Auffassung des erkennenden Senats entspricht die erste Auslegung eher der Absicht des Gesetzgebers. Das NÖSHG ist grundsätzlich in weitem Umfang bestrebt, die Kosten für Sozialleistungen bei Unterhaltspflichtigen hereinzubringen. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass Eltern volljähriger Hilfeempfänger nur zur Zahlung eines Kostenbeitrags verpflichtet sind, soweit sie für das Kind Anspruch auf eine Leistung haben. Vielmehr bezieht sich die Einschränkung „darüber hinaus“ in § 35 Abs 3 Satz 3 NÖSHG auch auf den ersten Satz dieser Bestimmung. Der Schutz der Eltern volljähriger Hilfeempfänger die schon dadurch überdurchschnittlich belastet sind, dass sie über den normalen Zeitraum der Unterhaltsleistung hinaus in Anspruch genommen werden können, erfolgt dadurch, dass die Kostenbeitragsleistung nicht wie bei minderjährigen Kindern mindestens die Höhe des Werts der Sachbezüge beträgt, sondern dass dieser Wert die Obergrenze der Kostenbeitragsleistung darstellt.

2.10. Von ihrer abweichenden Rechtsansicht ausgehend haben die Vorinstanzen im vorliegenden Fall jedoch keine Feststellungen über die Betreuungsleistungen und den sich bei Anwendung des § 35 Abs 3 Satz 1 iVm Satz 3 NÖSHG ergebenden Betrag getroffen. Daher war spruchgemäß mit Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen vorzugehen und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2019:0060OB00126.19A.0724.000

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