OGH vom 30.11.2011, 7Ob201/11a
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der gefährdeten Parteien 1. P***** H*****, und 2. Minderjährige M***** H*****, geboren am ***** beide: *****, gegen die Gegnerin der gefährdeten Parteien H***** H*****, vertreten durch Dr. Bernhard Wörgötter, Rechtsanwalt in St. Johann in Tirol, wegen einstweiliger Verfügung gemäß § 382e EO, über den Revisionsrekurs der Gegnerin der gefährdeten Parteien gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom , GZ 4 R 168/11a 15, womit der mit „“ datierte Beschluss des Bezirksgerichts Kitzbühel, GZ 5 C 7/11y 4, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Begründung:
Bescheinigt ist folgender Sachverhalt:
Die gefährdeten Parteien (in der Folge Antragsteller) sind der Ehemann und die Tochter der Antragsgegnerin. Die Eheleute leben seit November 2010 getrennt. Die zwei gemeinsamen Kinder leben beim Erstantragsteller.
Schon seit mehreren Jahren kam es immer wieder zu heftigen, teils auch handgreiflichen Auseinandersetzungen, die sich in den letzten zwei Jahren vor dem Auszug der Antragsgegnerin häuften und an Intensität zunahmen. Anfang 2009 warf sie ein Brotmesser nach dem Erstantragsteller, der mit dem Kopf nur knapp ausweichen konnte. Im September 2010 packte sie ihren Sohn am Hals, hob ihn hoch, trug ihn in sein Zimmer und warf ihn auf ein Bett. Dabei erlitt er starke Würgemale. Dies war nicht der erste derartige Vorfall. Am schlug die Antragsgegnerin die Zweitantragstellerin mehrmals mit der Faust auf den Kopf und kratzte sie mit den Fingernägeln, dass sich Abschürfungen am Oberschenkel abzeichneten. Am warf die Antragsgegnerin dem Erstantragsteller aus etwa 1,5 m Entfernung einen Teller ins Gesicht, was zu einer starken Prellung unter dem rechten Auge führte.
Im November 2010 zog die Antragsgegnerin auf Anraten der Jugendwohlfahrtsbehörde aus der ehelichen Wohnung aus. Sie kehrte aber immer wieder mit dem Vorwand zurück, persönliche Sachen abzuholen. Dabei kam es zu Streitereien und auch zu Handgreiflichkeiten, vielfach auch vor den beiden Kindern.
Am wollte die Antragsgegnerin wiederum aus der Ehewohnung persönliche Sachen abholen. Es kam zu einem Streit mit dem Erstantragsteller wegen einer Küchenwaage. Die Antragsgegnerin nahm die Waage in die Hand, holte aus und warf sie dem Erstantragsteller an den Kopf. Die Zweitantragstellerin war während des Vorfalls anwesend. Der Erstantragsteller litt nach der Attacke der Antragsgegnerin an Kopf und Nackenschmerzen. Die Beamten der Polizeiinspektion F***** sprachen gegen die Antragsgegnerin ein Betretungsverbot aus. Der Erstantragsteller erstattete eine Anzeige wegen Körperverletzung. Die Antragsteller befürchten, dass die Antragsgegnerin immer wieder in die Wohnung kommen und die Situation eskalieren könnte.
Die Antragsteller beantragen die Erlassung einer einstweiligen Verfügung gemäß § 382e EO. Der Antragsgegnerin solle für die Dauer von zwölf Monaten der Aufenthalt in der Wohnung der Antragsteller mit einem Abstand von 100 m verboten (Punkt 1) und aufgetragen werden, das Zusammentreffen sowie die Kontaktaufnahme mit den Antragstellern zu vermeiden (Punkt 2).
Ohne Anhörung der Antragsgegnerin erließ das Erstgericht antragsgemäß die einstweilige Verfügung, weil keine schwerwiegenden Interessen den Geboten und Verboten der einstweiligen Verfügung zuwiderliefen und die Befürchtung bestehe, die Antragsgegnerin werde weitere Übergriffe setzen.
Infolge Widerspruchs der Antragsgegnerin bestätigte das Erstgericht mit Beschluss vom , der nicht Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist, die einstweilige Verfügung.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs gegen die einstweilige Verfügung keine Folge. Die zunächst unterlassene Anhörung der Antragsgegnerin stelle weder eine Nichtigkeit noch eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens dar. Die Beweiswürdigung des Erstgerichts sei nicht bekämpfbar, weil sich der als bescheinigt angenommene Sachverhalt auch auf die Parteienvernehmungen stütze. Die vorzunehmende Interessenabwägung ziele nur auf die Berücksichtigung materieller Interessen des Antragsgegners ab, immateriellen Interessen komme grundsätzlich keine Bedeutung zu. Das Recht der Antragsgegnerin auf Kontakt mit den gemeinsamen Kindern hindere die Verfügung nach § 382e Abs 1 EO nicht. Die Antragsgegnerin sei überdies nicht nur gegenüber dem Erstantragsteller, sondern auch gegenüber den gemeinsamen Kindern gewalttätig vorgegangen. Die §§ 382b und 382e EO schlössen einander nicht aus, sähen sie doch teilweise unterschiedliche Tatbestandsmerkmale vor. Der Gesetzgeber habe mit dem 2. Gewaltschutzgesetz (2. GeSchG) den Ausbau des Gewaltschutzes bezwecken wollen. Es erscheine daher sachgerecht, dass der Antragsteller ein Wahlrecht habe, ob er zum Schutz vor Gewalt im Wohnbereich § 382b EO oder § 382e EO in Anspruch nehmen wolle, wobei er je nach Anspruchsgrundlage unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen zu behaupten und zu bescheinigen habe. Die Höchstdauer einer einstweiligen Verfügung nach § 382e Abs 1 EO ohne Zusammenhang mit einem Hauptverfahren betrage ein Jahr, sodass im konkreten Fall, insbesondere unter Berücksichtigung der massiven Gewaltübergriffe der Antragsgegnerin, keine Bedenken gegen die Ausschöpfung der Höchstfrist bestünden.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zur Frage des Verhältnisses der einstweiligen Verfügungen nach §§ 382b Abs 1 EO und § 382e Abs 1 EO betreffend den Schutz im Wohnbereich höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.
Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der Antragsgegnerin mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Antragsteller beteiligen sich am Revisionsrekursverfahren nicht.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist aber nicht berechtigt.
Der behauptete Nichtigkeitsgrund wurde bereits vom Rekursgericht verneint, sodass dieser auch im Provisorialverfahren nicht noch einmal vor dem Obersten Gerichtshof geltend gemacht werden kann (RIS Justiz RS0097225). Abgesehen davon ist nach ständiger Rechtsprechung im Sicherungsverfahren die Überprüfung der Beweiswürdigung des erkennenden Richters durch das Rekursgericht insoweit ausgeschlossen, als dieser den Sachverhalt aufgrund vor ihm abgelegter Zeugenaussagen oder Parteienaussagen als bescheinigt angenommen hat (RIS Justiz RS0012391; Zechner in Fasching/Konecny ², Vor §§ 514 ff ZPO, Rz 106 f). Die Argumentation des Revisionsrekurses, es ergebe sich die Unrichtigkeit des als bescheinigt angenommenen Sachverhalts schon allein aus den vorgelegten Urkunden, übergeht, dass das Erstgericht seine Beweiswürdigung im Zusammenhalt mit den Aussagen der vor der Beschlussfassung einvernommenen Antragsteller vorgenommen hat. Im Übrigen wurde die Antragsgegnerin vor Erlassen der einstweiligen Verfügung sehr wohl zu ihrer Einvernahme geladen; sie kündigte sogar ihr (verspätetes Erscheinen an, erklärte aber in der Folge bei einer telefonischen Nachfrage des Gerichts, sie werde doch nicht kommen.
Nach § 382b Abs 1 EO (Schutz vor Gewalt in Wohnungen) hat das Gericht einer Person, die einer anderen Person durch einen körperlichen Angriff, eine Drohung mit einem solchen oder ein die psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigendes Verhalten das weitere Zusammenleben unzumutbar macht, auf deren Antrag 1. das Verlassen der Wohnung und deren unmittelbarer Umgebung aufzutragen und 2. die Rückkehr in die Wohnung und deren unmittelbare Umgebung zu verbieten, wenn die Wohnung der Befriedigung des dringenden Wohnbedürfnisses des Antragstellers dient. Nach § 382e Abs 2 EO kann die einstweilige Verfügung für längstens sechs Monate getroffen werden, wenn keine Frist zur Einbringung der Klage bestimmt wird.
Nach § 382e Abs 1 EO (Allgemeiner Schutz vor Gewalt) hat das Gericht einer Person, die einer anderen Person durch einen körperlichen Angriff, eine Drohung mit einem solchen oder ein die psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigendes Verhalten das weitere Zusammentreffen unzumutbar macht, auf deren Antrag 1. den Aufenthalt an bestimmt zu bezeichnenden Orten zu verbieten und 2. aufzutragen, das Zusammentreffen sowie die Kontaktaufnahme mit dem Antragsteller zu vermeiden, soweit dem nicht schwerwiegende Interessen des Antragsgegners zuwiderlaufen. Nach § 382e Abs 2 EO kann die einstweilige Verfügung für längstens ein Jahr getroffen werden, wenn keine Frist zur Einbringung der Klage bestimmt wird.
Nach den Gesetzesmaterialien dient das 2. Gewaltschutzgesetz (2. GeSchG), auf dem diese Bestimmungen beruhen, dem Zweck, den Gewaltschutz auszubauen. Es sollen in der Praxis aufgetretene Defizite und Schutzlücken bei den einstweiligen Verfügungen zum Schutz vor Gewalt in der Familie und bei den einstweiligen Verfügungen zum Schutz vor Eingriffen in die Privatsphäre beseitigt werden (JA 106 BlgNR XXIV. GP, 1; ErläutRV 678 BlgNR XXIII. GP, 1). § 382b Abs 1 EO (Unzumutbarkeit des Zusammenlebens) und § 382b Abs 2 EO (Unzumutbarkeit des Zusammentreffens) sollen auf zwei gesonderte Bestimmungen (§§ 382b und 382e EO) aufgeteilt werden, um dem unterschiedlichen Charakter dieser einstweiligen Verfügungen besser gerecht werden zu können (ErläutRV aaO, 3). Dadurch soll verdeutlicht werden, dass es sich um zwei unterschiedliche Tatbestände mit unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Anforderungsbefugnissen handelt. Auf diese weit gefassten Voraussetzungen soll die neue Paragraphenüberschrift „Allgemeiner Schutz vor Gewalt“ hinweisen. Die Differenzierung hinsichtlich der Dauer zwischen den beiden Verfügungen ist insofern gerechtfertigt, als der Eingriff in die Rechte des Antragsgegners bei einem bloßen Aufenthalts- bzw Kontaktaufnahmeverbot weniger intensiv ist als bei einer Wegweisung aus der eigenen Wohnung (ErläutRV aaO, 13).
Das Verhältnis zwischen § 382b Abs 1 EO und § 382e Abs 1 EO und damit auch die Frage, ob der Antragsteller seinen Schutz im Wohnbereich auch nach § 382e EO sicherstellen kann, wird weder vom Gesetzeswortlaut noch von den zitierten Materialien geklärt ( Mohr , Neuerungen bei den einstweiligen Verfügungen zum Schutz vor Gewalt und Stalking, Änderungen durch das 2. Gewaltschutzgesetz in ÖJZ 2009/56; Beck in Gitschthaler/Höllwerth , Kommentar zum Ehe und Partnerschaftsgesetz, §§ 382b bis 382e EO Rz 15).
Mohr , aaO, führt dazu aus, § 382b EO könne einerseits als Sondernorm für Gewalt in Wohnungen oder als Spezialnorm für Personen, die zusammenleben oder zusammengelebt haben, gesehen werden. Nur § 382b EO enthalte Regelungen über die Ausweisung aus der Wohnung, zB für die Mitnahme von Sachen; insoweit sei § 382b EO als Spezialnorm zu sehen. Ebenso sei nur § 382b EO anzuwenden, wenn unklar sei, ob ausschließlich die gefährdete Partei Rechte an der Wohnung habe. In den übrigen Fällen könne die gefährdete Partei in ihrer Wohnung auch mit der einstweiligen Verfügung nach § 382e EO geschützt werden.
Beck , aaO, vertritt die Ansicht, dass unter Bedachtnahme auf die Gesetzestechnik der Gesetzgeber lasse den Schutz vor Gewalt in Wohnungen gemäß § 382b Abs 1 EO inhaltlich unverändert und füge ihm eine neue, als „allgemeiner“ Schutz bezeichnete Bestimmung hinzu davon auszugehen sei, dass es sich bei § 382b Abs 1 EO um eine Spezialnorm zur Verhinderung von Gewalt im Wohnbereich handle; nur diese Regelung enthalte auch die konkrete Möglichkeit, die Wegweisung des Antragsgegners anzuordnen. Überdies sehe ausschließlich § 382b Abs 1 EO einen uneingeschränkten, insbesondere von der materiellen Benützungsberechtigung an der Wohnung unabhängigen Rechtsschutz ohne Gegenüberstellung der Interessen der Beteiligten am Wohnungsgebrauch vor. Jedenfalls in den Fällen, in denen beide Parteien Rechte an der Wohnung hätten oder haben könnten, könne nur diese Norm den Schutz für Gewalt im Wohnbereich gewährleisten.
Eindeutig erklärtes Ziel des Gesetzgebers war es, den Rechtsschutz auszudehnen und allfällige Rechtsschutzlücken zu schließen. Mit dem neu geschaffenem § 382e EO wurde wie schon in der Überschrift zum Ausdruck kommt der allgemeine Schutz vor Gewalt normiert. Diese Bestimmung greift ein, wenn das Zusammentreffen wegen der im Gesetz genannten Umstände nicht zumutbar ist. Der allgemeine Schutz vor Gewalt setzt eine Interessenabwägung voraus. Demgegenüber bedarf es bei einer einstweiligen Verfügung nach § 382b EO beim Schutz vor Gewalt in der Wohnung keiner Interessenabwägung, dafür muss die Wohnung aber der Befriedigung des dringenden Wohnbedürfnisses des Antragstellers dienen. Die beiden Gesetzesbestimmungen normieren also unterschiedliche Tatbestandsmerkmale. § 382b EO erleichtert gegenüber § 382e EO den Gewaltschutz für den Fall, dass der Antragsteller ein dringendes Wohnbedürfnis hat, weil keine Interessenabwägung vorzunehmen ist. Insofern ist der Schutz vor Gewalt in der Wohnung nach § 382b EO privilegiert. Dies bedeutet aber nicht, dass Gewaltschutz in der Wohnung ausschließlich nach § 382b EO erlangt werden könnte. Würde man nämlich diese Ansicht vertreten, entstünde eine Rechtsschutzlücke (die es nach dem Willen des Gesetzgebers zu verhindern galt), falls der Antragsgegner Gewalt in einer Wohnung ausübt, an der der Antragsteller kein dringendes Wohnbedürfnis hat (etwa bei einem Zweitwohnsitz) oder ein solches nicht bescheinigen kann. Der Gefährdete könnte sich dann nicht auf § 382b EO stützen. Würde man ihm aber den allgemeinen Schutz nach § 382e EO mit der Begründung versagen, der Schutz in der Wohnung sei abschließend in § 382b EO geregelt, könnte er sich nicht zur Wehr setzen, auch wenn eine Interessenabwägung zu seinen Gunsten ausschlagen würde. Wäre bei der Frage, ob § 382b oder § 382e EO zur Anwendung kommt, allein auf das dringende Wohnbedürfnis des Gefährdeten abzustellen, dann wäre der Gefährdete bei dringendem Wohnbedarf (etwa an der Ehewonung) nur bis sechs Monate, ansonsten (etwa am Zweitwohnsitz) aber bis zwölf Monate zu schützen. Die unterschiedliche Dauer, für die die einstweiligen Verfügungen nach den beiden Bestimmungen erlassen werden können, ist kein Argument gegen die erzielte Auslegung. Der Unterschied ist dadurch gerechtfertigt, dass nach § 382e EO eine Interessenabwägung stattfindet, bei der ohnehin die konkrete Lebenssituation der Beteiligten berücksichtigt werden muss, nach § 382b EO aber nicht. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass es bei Gewalt in der Wohnung dem Gefährdeten frei steht, ob er den Gewaltschutz nach § 382b EO (mit Nachweis des dringenden Wohnbedürfnisses) oder nach § 382e EO (mit Interessenabwägung) geltend machen will.
Die von den Vorinstanzen vorgenommene Interessenabwägung ist nicht zu beanstanden. Die Antragsgegnerin ging nach dem bescheinigten Sachverhalt durchaus massiv gegen ihre Familienangehörigen vor. Weiters wohnte sie schon einige Monate vor dem letzten Zwischenfall nicht mehr in der Wohnung. Abgesehen davon, dass die Antragsgegnerin auch gegen ihre Kinder gewalttätig ist, kann eine Verminderung des Kontakts zu ihnen nicht zu einer anderen Interessenabwägung führen (vgl Beck , aaO, Rz 64).
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 393 Abs 2 EO iVm §§ 50, 41 ZPO.