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OGH vom 23.11.2000, 6Ob109/00y

OGH vom 23.11.2000, 6Ob109/00y

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schiemer, Dr. Huber, Dr. Prückner und Dr. Schenk als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Adam U*****, vertreten durch Dr. Ulrich Polley, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei Ing. Mathias R*****, vertreten durch Mag. Huberta Gheneff-Fürst, Rechtsanwältin in Wien, wegen Unterlassung ehrenrühriger Behauptungen, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz vom , GZ 6 R 223/99g-12, mit dem das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom , GZ 24 Cg 41/99g-8, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil wieder hergestellt wird.

Die klagende Partei hat der beklagten Partei die mit 33.192,56 S (darin enthalten 3.323,76 S USt 13.250,-- S Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am verschuldete der Kläger, der damals bereits Abgeordneter zum Kärntner Landtag war, dadurch, dass er einem links abbiegenden PKW auffuhr, einen Verkehrsunfall, bei dem der andere PKW-Lenker eine Platzwunde am Vorderkopf erlitt, die im Krankenhaus ambulant behandelt wurde. Der Kläger wies Symptome einer Alkoholbeeinträchtigung auf, verweigerte aber sowohl den "Alkotest" als auch eine klinische Untersuchung und Blutabnahme. In dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren bekannte er sich wegen fahrlässiger Körperverletzung unter Alkoholbeeinträchtigung schuldig. Er wurde mit Urteil des Bezirksgerichtes Spittal an der Drau vom gemäß § 88 Abs 1 und 3 StGB zu einer Geldstrafe von fünfzig Tagessätzen zu je 1.000,-- S, im Uneinbringlichkeitsfall zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von fünfundzwanzig Tagen verurteilt.

Der ehemalige Abgeordnete zum Nationalrat Ing. Walter M***** wurde mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom wegen des Finanzvergehens der Abgabenhinterziehung nach den §§ 11, 33 Abs 2 lit b FinStrG verurteilt, weil er gemeinsam mit einem Mitangeklagten im Juni 1994 durch die Forderung, für diesen Mitangeklagten vor Unterzeichnung eines Vertrages mit einem Fußballverein einen Betrag von 3,000.000,-- S in bar "schwarz" auszubezahlen, den Finanzreferenten und Vorstandssprecher dieses Vereins dazu bestimmt hat, die Verpflichtung zur Führung einkommensteuergerechter Lohnkonten zu verletzen, wodurch eine Verkürzung von Lohnsteuer in Höhe von 1,442.255,-- S sowie von Dienstgeberbeiträgen zum Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen in Höhe von 135.000,-- S bewirkt wurde. Über Ing. Walter M***** wurde eine Geldstrafe von 500.000,-- S, im Uneinbringlichkeitsfall eine Ersatzfreiheitsstrafe von fünfzig Tagen verhängt. Ein Teil der Geldstrafe von 340.000,-- S wurde auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen (27 Vr 3269/94 des Landesgerichtes Innsbruck). Dieses Urteil wurde vom Obersten Gerichtshof am bestätigt (13 Os 30/98).

Am fand in S*****anlässlich des Wahlkampfes für die Kärntner Landtagswahl 1999 eine Podiumsdiskussion der Spitzenkandidaten in diesem Bezirk statt. An dieser Veranstaltung nahm unter anderem Heinz W***** teil, der Bürgermeister von M***** war und auch eine politische Funktion innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Österreichs inne hatte. Heinz W***** griff den ebenfalls anwesenden Beklagten in dessen Eigenschaft als Vertreter der Fraktion der Freiheitlichen Partei Österreichs vehement verbal wegen der strafgerichtlichen Verurteilung des Ing. Walter M***** an.

Der Beklagte konterte und erläuterte, es gebe diesbezüglich in der FPÖ ohnedies sehr strenge Maßstäbe, wonach Ing. Walter M***** entweder sein Mandant zurücklegen müsse oder aus der Partei ausgeschlossen werde bzw zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschlossen sei. Der Beklagte richtete an die anderen politischen Parteien die Aufforderung, ebenso strenge Maßstäbe für ihre eigenen Parteifunktionäre einzuhalten. Als Beispiel dafür, dass die Vorgangsweise seiner Partei jedoch noch nicht der einheitlichen politischen Moral entspreche, führte der Beklagte an, dass auch sozialdemokratische Abgeordnete wie P***** (Bürgermeister und Bundesrat) und C***** (Landtagsabgeordneter) bereits strafgerichtliche Verurteilungen aufwiesen und auch der - nicht anwesende - Kläger infolge eines unter Alkoholeinfluss verursachten, mit einer Körperverletzung verbundenen Verkehrsunfalles rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt worden sei. Dem Beklagten kam es nicht darauf an, den Kläger persönlich zu beleidigen oder zu attackieren, sondern er wollte aufzeigen, dass nicht nur "kleinere" Abgeordnete oder Funktionäre, sondern auch Politiker in hohen Positionen ungeachtet strafrechtlicher Vorfälle nach wie vor im Amt verblieben, wie es der derzeit üblichen politischen Moral entspreche.

Die strafgerichtliche Verurteilung des Klägers war zum Zeitpunkt dieser Äußerung bereits getilgt. Der Kläger war Präsident des Kärntner Landtages, der Beklagte Mitglied des Kollegiums der Kärntner Landesregierung.

Der Kläger begehrt, den Beklagten zu verurteilen, Äußerungen des Inhaltes, der Kläger sei wegen eines im Jahr 1989 verschuldeten Unfalles rechtskräftig verurteilt worden, zu unterlassen. § 113 StGB verbiete es, einem Verurteilten eine vollzogene oder bedingt nachgesehene Strafe vorzuwerfen. Dies müsse um so mehr für eine getilgte Verurteilung gelten. Der Vorwurf einer getilgten Verurteilung stelle eine Ehrenbeleidigung im Sinn des § 1330 Abs 1 ABGB dar. Der Unterlassungsanspruch werde auch auf die §§ 16 und 43 ABGB sowie auf jeden sonst in Betracht kommenden Rechtsgrund gestützt.

Der Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Er berief sich auf den Rechtfertigungsgrund des § 114 StGB, weil er sich als Politiker genötigt gesehen habe, dieses für die Öffentlichkeit wichtige Thema anzusprechen. Gerade die Partei des Klägers habe sich bei der Durchsetzung der 0,5 Promillegrenze im Straßenverkehr besonders hervorgetan. Im Hinblick auf die Vorbildwirkung jedes Politikers sei es daher politische Pflicht des Beklagten gewesen, für das vom Kläger gesetzte Verhalten Konsequenzen zu fordern. Eine Verurteilung wegen des Vorwurfes einer schon abgetanen strafgerichtlichen Verurteilung bedeute nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) einen Eingriff in die durch Art. 10 Abs 1 MRK garantierte Meinungsfreiheit, wie dies insbesondere im Urteil vom (46/1991/298/369; Schwabe gegen Österreich = ÖJZ 1993, 67/3), zum Ausdruck gebracht habe. Dem Beklagten sei es vor allem darum gegangen aufzuzeigen, dass gegenüber Mitgliedern anderer Parteien nicht strengere Maßstäbe angelegt werden sollten als an eigene Parteifreunde. Es sei nur um eine Feststellung zur politischen Moral gegangen.

Dem hielt der Kläger entgegen, dass auch für einen Politiker der Grundsatz des § 113 StGB, die Resozialisierung des Täters zu ermöglichen, gelten müsse. Es habe kein Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit bestanden, weil die seinerzeitige Verurteilung mit der politischen Tätigkeit des Klägers nicht im Zusammenhang stehe und annähernd zehn Jahre zurückliege. Die in der zitierten Entscheidung des EGMR genannten Voraussetzungen für die Annahme eines Werturteiles lägen nicht vor. Dieser Entscheidung sei überdies eine strafgerichtliche Verurteilung wegen §§ 111 und 113 StGB zugrundegelegen, während hier ein verschuldensunabhängiger zivilrechtlicher Unterlassungsanspruch geltend gemacht werde. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes rechtfertige das Recht der freien Meinungsäusserung nicht die Herabsetzung des politischen Gegners durch unwahre Tatsachenbehauptungen. Gleiches müsse für Mitteilungen gelten, die dem Gesetz widersprächen, und zwar insbesondere dann, wenn das kritisierte Verhalten nicht mit der politischen Tätigkeit des Betroffenen im Zusammenhang stehe. Der Rechtfertigungsgrund des § 114 StGB sei auf den zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch nicht anzuwenden. Es komme nicht darauf an, ob der Beklagte den Kläger beleidigen habe wollen, weil der subjektive Wille des Erklärenden nicht maßgebend sei. Es liege auch eine Verletzung der durch § 16 ABGB gestützten Menschenwürde vor, wenn jemandem eine lange zurückliegende, der Privatsphäre zuzuordnende Verurteilung vorgeworfen werde.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es sei der Entscheidung des EGMR "Schwabe gegen Österreich" zu folgen, der ein ähnlicher Sachverhalt zugrundeliege. Demnach stelle sich die Aussage des Beklagten nicht als Angriff gegen den Kläger, sondern als sanktionsloses Werturteil auf der Basis richtig wiedergegebener Tatsachen dar. Die Vorstrafen von Politikern könnten zusammen mit deren Verhalten in der Öffentlichkeit für die Beurteilung ihrer Eignung zur Ausübung ihrer politischen Funktion maßgebend sein. Der Beklagte habe sich nur gegen die Angriffe auf seine Partei gewehrt und im Zusammenhang mit der Diskussion über die politische Moral sein eigenes Werturteil dargestellt. Die unterschiedliche Schwere der Delikte im Fall M***** einerseits und im Fall des Klägers andererseits sei nicht ausschlaggebend, sei doch gerade die Diskussion um die Senkung der 0,8 Promillegrenze von allen politischen Lagern leidenschaftlich geführt worden. Für das breite Publikum sei die Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung infolge Trunkenheit am Steuer von nicht geringerer Relevanz als eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung. Im Übrigen sei das Unterlassungsbegehren zu weit gefasst, weil der Beklagte keine derart pauschale Äußerung getätigt, sondern bloß die Verurteilung des Klägers im Zusammenhang mit dessen Alkoholisierung angesprochen habe.

Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil im Sinne einer Klagestattgebung ab. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstandes 260.000,-- S übersteige und die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

§ 114 Abs 2 StGB normiere einen Entschuldigungsgrund und sei daher auf den verschuldensunabhängigen Unterlassungsanspruch bei Ehrverletzungen nicht anwendbar. Es habe keinen Grund gegeben, den Kläger namentlich in die Diskussion hineinzuziehen, sondern erkennbar das Ziel des Beklagten gewesen, Kärntner Funktionäre der SPÖ bloßzustellen. Das Maß einer zulässigen Kritik sei überschritten, wenn Tatsachen verbreitet würden, die dem Strafgesetz widersprächen. Derartiges Verhalten könne auch nicht mit dem Recht der freien Meinungsäußerung gerechtfertigt werden. Die pauschale Forderung, jede in der Öffentlichkeit stehende Person müsse nach einer rechtskräftigen Verurteilung aus ihrem öffentlichen Amt zurücktreten, sei mit den anerkannten Werten der Rechtsordnung nicht in Einklang zu bringen, wie sich aus den Bestimmungen der §§ 13 und 27 StGB, den Tilgungsregeln und den §§ 13 ff Gewerbeordnung (wonach ein Gewerbeausschlussgrund erst nach einer drei Monate übersteigenden Freiheitsstrafe vorliege) ergebe. Dazu komme, dass die Tat schon über zehn Jahre zurückliege und mit einer aktuellen Verurteilung wegen Abgabenhinterziehung in Millionenhöhe nicht vergleichbar sei. Dass es das Ziel des Beklagten gewesen sei, den Kläger bloßzustellen, sei schon daraus ersichtlich, dass er das Datum und die näheren Umstände des vom Kläger gesetzten Deliktes nicht erwähnt habe. Der Kläger habe keinen sachlich gerechtfertigten Anlass zur betreffenden Äußerung gegeben, sondern habe nur als willkommenes Opfer gedient, bundesweiten Reaktionen auf die Verurteilung Ing. M*****s zu entgegnen und von ihm abzulenken.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Beklagten ist entgegen dem diesbezüglichen Ausspruch des Berufungsgerichtes zulässig, weil eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu der in der Revision zutreffend als erheblich im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO bezeichneten Frage fehlt, ob der Vorwurf einer getilgten Verurteilung im Zug einer politischen Diskussion durch die in Art. 10 MRK verankerte Meinungsfreiheit gerechtfertigt sein kann.

Vorweg ist den weiteren Ausführungen des Beklagten zur Zulässigkeit der Revision zu erwidern, dass das Berufungsgericht dem Beklagten die erfolgreiche Geltendmachung des Entschuldigungsgrundes des § 114 Abs 2 StGB in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes verwehrt hat. Die Ausführungen des Berufungsgerichtes hiezu entsprechend weitgehend der bereits in 6 Ob 2281/96a und 6 Ob 2393/96x (= MR 1997, 83) dargelegten Argumentation des Obersten Gerichtshofes, dass § 114 Abs 2 StGB einen Entschuldigungsgrund normiere, der bei einem verschuldensunabhängigen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch nicht zum Tragen komme. Entgegen der dem Erstgericht folgenden Ansicht des Beklagten ist das Klagebegehren auch weder zu unbestimmt noch im Verhältnis zu den festgestellten Äußerungen des Beklagten zu weit gefasst, gibt es doch die konkrete Verletzungshandlung, nämlich den Vorwurf der strafgerichtlichen Verurteilung wegen eines vom Kläger verschuldeten Unfalles, richtig wieder. Bei der Frage, auf welcher Stufe der Verallgemeinerung die konkrete Verletzungshandlung zu umschreiben ist, ist eine gewisse Großzügigkeit notwendig, könnte doch sonst der Beklagte durch ein ähnliches, aber dem Titelwortlaut nicht völlig gleiches Zuwiderhandeln die Vollstreckung des Urteiles und der Unterlassungsgebot umgehen. Der Kern der Verletzungshandlung muss so erfasst sein, dass unter den Schutzumfang des Unterlassungsspruches nicht nur völlig gleichartige Handlungen, sondern auch alle anderen fallen, die diesen Kern der Verletzungshandlung unberührt lassen (4 Ob 16/91 = ÖBl 1991, 108; 4 Ob 109/94 = MR 1994, 244). Da die festgestellte Äußerung des Beklagten jedenfalls auch den Vorwurf der Verurteilung wegen des Verkehrsunfalles enthielt, entspricht das Unterlassungsbegehren zumindest sinngemäß durchaus den Worten des Beklagten.

Die Äußerungen des Beklagten waren aber durch das Recht der freien Meinungsäußerung gerechtfertigt:

§ 113 StGB stellt den in einer für einen Dritten wahrnehmbaren Weise erhobenen Vorwurf einer strafbaren Handlung, für die die Strafe schon vollzogen ..... worden ist, unter Strafsanktion. Dass das vom Strafgesetzgeber verpönte, im Vierten Abschnitt ("Strafbare Handlungen gegen die Ehre") des StGB beschriebene Verhalten grundsätzlich auch gegen den zivilrechtlichen Ehrenschutz des § 1330 ABGB verstösst, wird von den Parteien nicht weiter in Zweifel gezogen.

Gemäß § 114 Abs 1 StGB ist nicht zu bestrafen, wer durch eine im § 111 oder § 113 StGB genannte Handlung eine Rechtspflicht erfüllt oder ein Recht ausübt. Damit wird lediglich hervorgehoben, was sich schon aus allgemeinen Grundsätzen ergibt. Auch jeder zivilrechtliche Unterlassungsanspruch setzt die Rechtswidrigkeit der begangenen oder drohenden Eingriffshandlungen voraus. Zwar ist der Angriff auf die absoluten Rechte der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes einer Person schon Indiz für die Rechtswidrigkeit. Diese kann aber im Einzelfall dann ausgeschlossen sein, wenn für das Handeln oder Unterlassen ein besonderer Rechtfertigungsgrund vorlag. Ein solcher Rechtfertigungsgrund muss sich im Wege einer Interessenabwägung aus weiteren Geboten oder Verboten der gesamten Rechtsordnung gewinnen lassen. Bei der gebotenen umfassenden Interessenabwägung müssen den Interessen am gefährdeten Gut die Interessen des Handelnden und die der Allgemeinheit gegenübergestellt werden. Es kommt dabei auf die Art des Eingriffs, die Verhältnismäßigkeit am verfolgten Recht und

den Grad der Schutzwürdigkeit dieses Interesses an (6 Ob 30/95 =

ecolex 1995, 892 mwN; 6 Ob 119/99i = MR 1999, 334; RIS-Justiz

RS0031657). Als Rechtfertigungsgründe werden in der Rechtsprechung § 1330 Abs 2 dritter Satz ABGB (SZ 60/138), medienrechtliche Regelungen nach § 6 MedienG, das Interesse der Öffentlichkeit einer ordnungsgemäßen Rechtspflege und damit im Zusammenhang die Ausübung eines Rechts (Prozesshandlungen, Anzeigen), die Ausübung eines öffentlichen Mandats, Art. 17a StGG und insbesondere auch Art. 10 MRK angesehen (6 Ob 119/99i mwN).

Die Herabsetzung eines Anderen durch unwahre Tatsachenbehauptungen oder durch Werturteile, die auf unwahren Tatsachenbehauptungen basieren, kann allerdings nicht mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung gerechtfertigt werden (6 Ob 218/97w u.a.; EMR 1998, 265; MR 1998, 328; RIS-Justiz RS0107915).

Bei der gebotenen Interessensabwägung im Konflikt des Rechtes auf

freie Meinungsäußerung mit dem absolut geschützten Gut der Ehre ist

die Gewichtigkeit des Themas für die Allgemeinheit, in dessen Rahmen

die ehrverletzender (richtige) Äußerung fiel, eines von mehreren

Beurteilungskriterien, das den Ausschlag für die Bejahung des

Rechtfertigungsgrundes geben kann (6 Ob 2300/96w; 6 Ob 93/98i = SZ

71/96). Der Persönlichkeitsschutz von Politikern ist dabei insofern

eingeschränkt, als die Grenzen zulässiger Kritik bei ihnen weiter

gezogen sind als bei Privatpersonen. Jeder Politiker setzt sich

selbst einer genauen Beurteilung seiner Worte und Taten durch

Journalisten, das breite Publikum und insbesondere auch durch seinen

politischen Gegner aus (4 Ob 75/94 u.a.; RIS-Justiz RS0075552). Das

Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist großzügig auszulegen,

insbesondere wenn es um zur Debatte stehende politische

Verhaltensweisen geht (6 Ob 1040/95 = MR 1996, 237; 6 Ob 2060/96a

u. a.; RIS-Justiz RS0082182). Ob im politischen Meinungsstreit eine

den politischen Gegner treffende Äußerung noch im Sinn des Art. 10

MRK gerechtfertigt erscheint, ist unter anderem an der politischen

Bedeutung der die eigene Sicht und Haltung ausdrückenden

Stellungnahme, insbesondere im Zusammenhang mit dem politischen

Verhalten des Betroffenen, an der dem Anlassfall und der Bedeutung

des Aussageinhalts angepassten Form und Ausdrucksweise sowie den

danach zu unterstellenden Verständnis der Erklärungsempfänger zu

messen (6 Ob 18/94; 6 Ob 1/96 = MR 1996, 236). Es können selbst

Beschimpfungen im Rahmen politischer Debatten durch das Recht der

freien Meinungsäußerung gerechtfertigt sein, wenn ein entsprechender

Sachbezug gegeben ist (6 Ob 171/99m = MR 2000, 17). Die Freiheit der

politischen Debatte ist jedenfalls als einer der Pfeiler des Konzepts

einer demokratischen Gesellschaft anzusehen (6 Ob 24/95 = MR 1996,

26; 4 Ob 2247/96m = MR 1997, 26).

Im Sinne dieser Rechtsprechung ist aus dem vorliegenden Sachverhalt als wesentlich hervorzuheben, dass der Beklagte keine unwahre Tatsachenbehauptung aufgestellt hat, weil es richtig ist, dass der Kläger wegen eines Verkehrsunfalls im alkoholisierten Zustand verurteilt wurde. Der Kläger ist und war Spitzenpolitiker in einem Bundesland. Der Beklagte gehört dort ebenfalls in gehobener Position einer Partei an. Die Äußerung fiel im Rahmen einer Wahlkampfdebatte und im Gegenzug auf eine Attacke gegen den Beklagten als Repräsentanten einer politischen Partei, wobei die Frage nach der Tragfähigkeit von strafgerichtlich verurteilten Personen in politischen Funktionen aufgeworfen war. Die vom Beklagten vertretene Partei wurde sinngemäß insgesamt negativ dargestellt, weil einige ihrer Funktionäre mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren. Das Thema der Verantwortlichkeit der Gesamtpartei oder ihrer Führungsspitze für solche in ihren Reihen befindliche Personen und der Umgang mit diesen ist für die Allgemeinheit von imminentem Interesse und immer wieder Gegenstand aufmerksam verfolgter medialer Berichterstattung. Besonders sensibilisiert ist die Bevölkerung auch gegenüber dem Thema "Alkohol am Steuer", das vor allem in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit der zunächst geplanten und schließlich vom Gesetzgeber beschlossenen Herabsetzung des höchstzulässigen Blutalkoholwertes im Straßenverkehr von 0,8 Promille auf 0,5 Promille Gegenstand umfangreicher Debatten war. Nach wie vor wird dieses Thema immer wieder medial angesprochen. Alkohol am Steuer wird der Bevölkerung als besonders negative Verhaltensweise präsentiert.

Die in der vorliegenden Debatte zur Sprache gekommenen Delikte der Anstiftung zur Steuerhinterziehung ("Schwarzgeldzahlung") einerseits und der fahrlässigen Körperverletzung unter Alkoholeinfluss im Rahmen eines Verkehrsunfalles anderseits sind zwar vom Tatbestand her nicht vergleichbar, doch liegt die Gewichtung des Unrechtsgehaltes des einen gegenüber dem anderen Delikt in der gängigen Anschauung der Bevölkerung nicht allzu weit auseinander. Da sich gerade jene Partei, für die der Kläger schon seit vielen Jahren politisch tätig ist, bekanntermaßen besonders für die Senkung der Promillegrenze einsetzte, war der "Gegenangriff" des Beklagten auf den Vorwurf der "Affäre M*****" durchaus gleichwertig und situationsbezogen. Der persönliche Umgang eines Politikers mit jener Thematik, für die sich seine Partei besonders hervortut, und die Reaktion der Partei auf Funktionäre in ihren eigenen Reihen, die sich dem Image als "saubere" Partei zuwider verhalten haben, kommt für politisch Interessierte eine zentrale Bedeutung zu. Meinungsäußerungen zu diesem Thema können daher auch dann gerechtfertigt sein, wenn sie besonders massiv in die Ehre eines Anderen eingreifen. Die Gewichtigkeit des Themas führt dazu, dass dem verfassungsrechtlich geschützten Recht auf freie Meinungsäußerung der höhere Stellenwert zukommt, solange nicht ein Wertungsexzess feststellbar ist (vgl 6 Ob 2300/96w).

Ein solcher Wertungsexzess liegt hier nicht vor.

Der Beklagte sprach vielmehr die Vorstrafe des Beklagten als Beispiel im Rahmen seiner Stellungnahme zur politischen Moral gegnerischer Parteien in der Frage der "Deckung" ihrer Funktionäre ungeachtet allfälliger Konflikte mit dem Strafrecht an. In diesem Sinn unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt durch kein wesentliches Element von jenem, der der Entscheidung des EGMR vom (Schwabe gegen Österreich) zugrunde lag: Auch dort hatte derjenige, der deshalb wegen §§ 111, 113 StGB verurteilt wurde, einem Spitzenpolitiker der gegnerischen Partei eine viele Jahre zurückliegende, getilgte strafgerichtliche Verurteilung wegen eines Verkehrsunfalles unter Alkoholeinfluss vorgeworfen. Mit diesem Vorwurf reagierte der Verurteilte auf einen Angriff eines Politikers auf einen anderen politischen Funktionär einer gegnerischen Partei, der seinerseits wegen eines - allerdings aktuellen - Verkehrsdeliktes im alkoholisierten Zustand ins Gespräch geraten und zum Rücktritt aufgefordert worden war. Auch im dortigen Fall war der vom Verurteilten Angegriffene an der Verbalattacke nicht beteiligt und hatte keine unmittelbare Möglichkeit zur Stellungnahme, weil die betreffenden Äußerungen in einer Presseaussendung erfolgten und in einer Zeitung ohne sein Beiziehen veröffentlicht wurden.

Art. 13 StGG garantiert - neben dem Verbot der Zensur der Presse - jedermann das - einem formellen Gesetzesvorbehalt unterworfene - Recht der freien Meinungsäußerung. Dieser Grundrechtsschutz wurde durch Art. 10 MRK überlagert. Gemäß dessen Abs 1 hat jedermann Anspruch auf freie Meinungsäußerung; dieses Rechts schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie vom Gesetz vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder Rechte anderer, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder dass Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, unentbehrlich sind (Abs 2).

Der EGMR hat in der zitierten Entscheidung die Verurteilung des Verfassers der Presseaussendung (des dortigen Beschwerdeführers) als Verstoß gegen Art. 10 MRK qualifiziert und hiezu, soweit für den vorliegenden Fall wesentlich, ausgeführt:

Die in Beschwerde gezogene Sanktion stelle eindeutig einen "Eingriff" in die Ausübung der Freiheit der Meinungsäußerung durch den Beschwerdeführer dar, wie sie in Art. 10 Abs 1 MRK garantiert werde. Dies sei unbestritten. Ebenso sei unbestritten, dass der Eingriff "gesetzlich vorgesehen" gewesen sei, insbesondere durch die §§ 111 und 113 StGB und dass er ein legitimes Ziel gehabt habe, nämlich den Schutz "des guten Rufs oder der Rechte anderer" im Sinn des Art. 10 Abs 2 MRK. Der Streit vor dem Gerichtshof habe sich daher auf die Frage konzentriert, ob der Eingriff als "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" angesehen habe werden können. Dort wo die Grenzen annehmbarer Kritik im Zusammenhang mit der politischen Diskussion einer politischen Frage von allgemeinem Interesse auf dem Spiel stünden, habe sich der Gerichtshof bei der Wahrnehmung seiner Überwachungsfunktion davon zu überzeugen, dass die innerstaatlichen Behörden einen Standard angewendet haben, der im Einklang mit den in seiner Rechtsprechung festgelegten Grundsätzen stehe und darüber hinaus, dass sich diese Behörden dabei auf eine akzeptable Beurteilung der wesentlichen Tatsachen gestützt hätten. Das Hauptanliegen des Beschwerdeführers sei dahin gegangen zu zeigen, dass der Spitzenpolitiker der einen Partei strengere Maßstäbe an die politische Moral bei einem "kleinen Bürgermeister einer Gemeinde", der zu einer anderen politischen Partei gehöre, anlege als bei seinem "Parteifreund" und Stellvertreter. Die Presseaussendung des Beschwerdeführers versuche nicht, die beiden Verkehrsunfälle aus einem rechtlichen Gesichtspunkt zu vergleichen. Sie versuche nur, eine Aussage betreffend die politische Moral zu treffen. Die Bezugnahme auf den lange zurückliegenden Unfall sei mit diesem hauptsächlichen Punkt, der eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse gewesen sei, nur zufällig verbunden. Die Frage sei in der Folge eine Angelegenheit der allgemeinen Diskussion über die politische Moral betreffend die beiden rivalisierenden Parteien geworden. Die Vorstrafen eines Politikers von der Art, wie sie hier in Rede stünden, könnten zusammen mit seinem Verhalten in der Öffentlichkeit in anderer Hinsicht maßgebliche Faktoren sein, um seine Eignung zur Ausübung seiner politischen Funktion beurteilen. Der Beschwerdeführer habe aus dem Vergleich der beiden Unfälle die Schlussfolgerung gezogen, dass sie genügend gemeinsame Züge aufgewiesen hätten, um den Rücktritt beider betroffener Politiker zu verlangen. Der Vergleich sei im Wesentlichen auf ein Werturteil hinausgelaufen, hinsichtlich dessen ein Wahrheitsbeweis nicht möglich sei. Es könne nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer die Grenzen der Freiheit der Meinungsäußerung überschritten habe. Der in Beschwerde gezogene Eingriff sei nicht "in einer demokratischen Gesellschaft .... für den Schutz des guten Rufs .... anderer .... notwendig" gewesen. Es habe daher eine Verletzung des Art. 10 der Konvention stattgefunden.

Diese Ausführungen zur Frage der Rechtfertigung des Vorwurfes einer schon abgetanen Strafe stehen nicht im Widerspruch mit den aufgezeigten Grundsätzen, die von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zum Ehrenschutz im Spannungsfeld mit dem Recht der freien Meinungsäußerungen entwickelt wurden. Sie präzisieren diese Grundsätze vielmehr für den bisher vom Obersten Gerichtshof noch nicht entschiedenen Fall des Vorwurfes einer bereits getilgten strafgerichtlichen Verurteilung dahin, dass dieser Eingriff in den Privatrechtschutz, insbesondere den Schutz des guten Rufes einer Person, unter bestimmten, in der Entscheidung genannten Voraussetzungen gemäß Art. 10 MRK gerechtfertigt sein kann. Diese Voraussetzungen liegen, wie bereits ausgeführt wurde, auch hier vor. Dass der hier Beklagte nicht zwei Verkehrsunfallsdelikte miteinander verglichen hat, sondern unterschiedliche strafrechtliche Tatbestände, macht keinen entscheidenden Unterschied, ging es doch nicht um einen Vergleich der beiden Fälle aus rechtlicher, sondern aus politischer Sicht und sollte damit in erster Linie die politische Moral der Parteien und der Parteifunktionäre in den Vordergrund der Debatte gerückt werden.

Auch der Umstand, dass der EGMR in der zitierten Entscheidung eine

strafgerichtliche Verurteilung als konventionswidrig ansah, im

vorliegenden Fall aber die Zivilgerichtsbarkeit mit der Frage der

Rechtfertigung der Ehrverletzung konfrontiert ist, macht die

Entscheidung des EGMR im Gegensatz zur Ansicht des Revisionsgegners

keineswegs unanwendbar, kann doch eine Verpflichtung eines

Vertragsstaates aus der MRK überhaupt durch jede Person verletzt

werden, die eine ihr übertragene öffentliche Funktion ausübt (EGMR

, Wille gegen Liechtenstein, = ÖJZ 2000/10; vgl weiters

etwa EGMR , News gegen Österreich, = MR 2000, 221; EGMR

, Wabl gegen Österreich, = MR 2000, 226 wobei jeweils

zivilgerichtliche Urteile Gegenstand der Entscheidungen des EGMR im Zusammenhang mit der Art. 10 MRK waren).

Warum dieser Rechtfertigungsgrund nur in Strafsachen, nicht aber in privatrechtlichen Streitigkeiten zu berücksichtigen sein soll, vermag der Revisionsgegner nicht überzeugend darzulegen.

Sowohl das Recht auf Ehre (§ 1330 ABGB; §§ 111 ff StGB) als auch das im § 43 ABGB geregelte Namensrecht sind Persönlichkeitsrechte im Sinne des § 16 ABGB (Aicher in Rummel2 I RZ 18, 19 zu § 16 ABGB; RZ 1 zu § 43 ABGB hier mwN). Ob die Äußerung des Beklagten neben dem Recht auf Ehre noch in weitere Persönlichkeitsrechte, wie insbesondere in jenes des Namens eingegriffen hat, bedarf im Gegensatz der Ansicht des Klägers keiner weiteren Prüfung. Denn auch insoweit kommt jedenfalls der Rechtfertigungsgrund des § 10 MRK gegenüber dem legitimen Ziel etwa des § 43 ABGB, "die Rechte anderer" zu schützen (vgl § 10 Abs 2 EMRK) zum Tragen, wie aus der zitierten Entscheidung des EGMR hervorgeht.

Im Hinblick auf die in den wesentlichen Sachverhaltselementen gleichgelagerten Fallkonstellationen und die unmissverständlichen Darlegungen des EGMR, dass und warum der Vorwurf einer getilgten Verurteilung unter solchen Umständen durch das Recht der freien Meinungsäußerung gedeckt ist, war die das Unterlassungsbegehren abweisende Entscheidung des Erstgerichtes wiederherzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO. Gemäß § 10 Z 6 lit b RATG war von einer Kostenbemessungsgrundlage von 120.000,-- S auszugehen, weil die Behauptung nicht in einem Medium verbreitet wurde. Demgemäß beträgt der Einheitssatz 60 % (§ 23 Abs 3 RATG), der gemäß § 23 Abs 9 RATG für die Berufungsbeantwortung 3-fach (nicht 4-fach) zuzuerkennen war.