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OGH vom 24.11.2011, 6Ob230/11h

OGH vom 24.11.2011, 6Ob230/11h

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ. Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache der Antragstellerin Dr. S***** H*****, vertreten durch Dr. Christine Kolbitsch, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Antragsgegner Ing. W***** H*****, vertreten durch Dr. Josef Lachmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückführung nach HKÜ, über die Revisionsrekurse beider Parteien gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom , GZ 20 R 94/11f 38, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Korneuburg vom , GZ 1 Ps 88/11w 28, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revisionsrekurse werden zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die Kindesmutter ist für die beiden Minderjährigen V***** (14 Jahre) und V***** C***** (9 Jahre) allein obsorgeberechtigt. Seit November 2009 wohnt sie mit ihnen in Sizilien. Die Minderjährigen verbrachten vereinbarungsgemäß die Osterferien von bis beim Vater in S***** und flogen danach nicht mehr zur Mutter zurück, weil der minderjährige V***** den Wunsch äußerte, in Österreich zu bleiben. Die Kindesmutter versuchte daraufhin, die Minderjährigen persönlich nach Italien zurückzuholen. Daraufhin übernahm der Jugendwohlfahrtsträger Land Niederösterreich gemäß § 215 Abs 1 ABGB die Obsorge, beließ die Minderjährigen beim Vater und beantragte beim Bezirksgericht Korneuburg die Übertragung der Obsorge im Teilbereich der Aufenthaltsbestimmung an den Vater.

Die Kindesmutter stellte in der Folge den Antrag, die Minderjährigen nach dem HKÜ nach Italien zurückzuführen.

Das Erstgericht wies den Antrag hinsichtlich des Minderjährigen V***** ab, weil dieser den klaren Wunsch geäußert habe, in Österreich zu bleiben. Hingegen habe die Minderjährige V***** C***** keinen klaren Wunsch äußern können, weshalb das Erstgericht deren Rückführung nach Italien anordnete.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil keine einheitliche oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob die Meinung eines mündigen Minderjährigen zu berücksichtigen sei und ob zu berücksichtigen sei, dass zwei Geschwister getrennt würden.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Die Revisionsrekurse sind entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenen Zulässigkeitsausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig.

1. Zum Revisionsrekurs der Kindesmutter:

1.1. Aktenwidrigkeit ist nur gegeben, wenn Feststellungen auf aktenwidriger Grundlage getroffen werden, das heißt, wenn der Inhalt einer Urkunde, eines Protokolls oder eines sonstigen Aktenstücks unrichtig wiedergegeben und infolgedessen ein fehlerhaftes Sachverhaltsbild der rechtlichen Beurteilung unterzogen wurde (RIS Justiz RS0043347). Die Mutter macht geltend, das Rekursgericht habe die Feststellungen des Erstgerichts aktenwidrig übernommen, weil der Minderjährige V***** mit seiner Weigerung, nach Italien zurückzukehren, eigentlich nur den Wohnort der Mutter gemeint habe. Damit macht die Kindesmutter aber keine Aktenwidrigkeit, sondern eine unrichtige Beweiswürdigung geltend. Die Beweiswürdigung kann im Revisionsrekursverfahren jedoch nicht angefochten werden (RIS Justiz RS0043371). Zudem kann in der Übernahme der Feststellungen des Erstgerichts durch das Rekursgericht schon begrifflich keine Aktenwidrigkeit liegen (RIS Justiz RS0043240).

1.2. Der Vollständigkeit halber ist darauf zu verweisen, dass die Kindesmutter in ihrer Rekursbeantwortung noch ausdrücklich die Feststellung begehrt hatte, der Minderjährige V***** lehne derzeit eine Rückkehr nach Italien ab (S 4 in ON 29). Abgesehen davon, dass sich die Kindesmutter mit ihrem nunmehrigen Standpunkt in Widerspruch zu den von ihr selbst im Rekursverfahren begehrten Feststellungen setzt, ist ihr entgegenzuhalten, dass die Geltendmachung eines Anfechtungsgrundes, dessen Geltendmachung in der Berufung bzw im Rekurs unterlassen wurde, im Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof nicht mehr nachgeholt werden kann (RIS Justiz RS0042916).

1.3. Die Rückgabe eines Kindes kann vom angerufenen Gericht ua dann abgelehnt werden, wenn sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts derer es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen. Die Anwendung dieser Bestimmung ist dem Ermessen der zuständigen Behörden zu überlassen (RIS Justiz RS0074552). Die Maßgeblichkeit des Ermessens im Einzelfall schließt eine richtunggebende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs grundsätzlich aus. Anderes würde nur bei gravierenden, an die Grenzen des Missbrauchs gehenden Fehlern gelten (3 Ob 131/04t; RIS Justiz RS0007104; RS0044088). Ob ein Rückführungshindernis iSd Art 13 Abs 2 HKÜ vorliegt, ist eine typische Einzelfallbeurteilung (RIS Justiz RS0074552 [T3]). Zudem ist das Vorliegen einer nötigen Reife eine vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbare Tatsachenfeststellung (2 Ob 537/92).

2. Zum Revisionsrekurs des Kindesvaters:

2.1. Der Kindesvater führt zum Versagungsgrund des Art 13 lit b HKÜ aus, dass das Erstgericht und das Rekursgericht die Gefährdung der Minderjährigen V***** C***** bei der Mutter nicht berücksichtigt hätten, insbesondere nicht geprüft und festgestellt hätten, ob bzw dass die Mutter die Kinder schlage. Hierbei verkennt der Vater, dass es bei der Rückführung nach dem HKÜ nicht um eine „Rückgabe“ der Kinder an den anderen Elternteil geht, welche Entscheidung allein dem Pflegschaftsgericht im Obsorgeverfahren zukommt. Ziel des Übereinkommens ist es vielmehr, sicherzustellen, dass das Kind in den Staat seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts zurückkehrt und dem durch die Entziehung verkürzten Elternteil das grundsätzliche Recht zum persönlichen Verkehr mit dem Kind bzw die Ausübung seines Sorgerechts gewährleistet wird. Es geht um die Rückführung, also um die Wiederherstellung der ursprünglichen Tatsachenverhältnisse in einem entformalisierten Schnellverfahren unter weitgehender Ausblendung von Rechtsfragen (5 Ob 47/09m). Insoweit muss die „schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens“ oder die „unzumutbare Lage“ iSd Art 13 lit b HKÜ bei der Rückführung in den Aufenthaltsstaat und nicht nur bei der Rückgabe an den antragstellenden Elternteil vorliegen.

2.2. Für das Vorliegen solcher Rückführungshindernisse trifft den anderen Elternteil die volle Behauptungs und Beweislast (RIS Justiz RS0074561); eine Pflicht zur amtswegigen Erforschung besteht nicht (RIS Justiz RS0074561 [T3]). Konkrete Behauptungen des Kindesvaters zu einer generellen Gefährdung der Minderjährigen V***** C***** in Italien liegen nicht vor. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist nach der Rechtsprechung zudem eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (RIS Justiz RS0074568 [T8] = 2 Ob 103/09z; 6 Ob 242/09w). Ob solche Gefahren vorliegen, ist eine Frage, die von den Umständen des Einzelfalls abhängig ist (RIS Justiz RS0112662; RS0074568 [T1, T 2]). Wenn die Vorinstanzen in dem Umstand, dass nur die Rückführung eines von zwei Geschwistern angeordnet wurde, weil der Wunsch des mündigen Minderjährigen, nicht nach Italien zurückkehren zu wollen, beachtlich sei, keine Erfüllung des Ausnahmetatbestands des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ sahen, ist darin keine vom Obersten Gerichtshof im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken.

2.3. Mit einer Rückführungsanordnung muss auch nicht notwendigerweise die Trennung des Kindes vom „Entführer“ oder von anderen Geschwistern verbunden sein. Durch die Rückgabe soll der Antragsteller nur wieder in die Lage versetzt werden, auch seinerseits die elterliche Sorge zum Wohl der Kinder mitausüben zu können (1 Ob 51/02k). Die Rechtsprechung geht überwiegend davon aus, dass es unter Beachtung der Umstände des Einzelfalls dem entführenden Elternteil zumutbar ist, gemeinsam mit dem Kind in den Herkunftsstaat zurückzukehren, weil es dann nicht zur Trennung kommen muss. Dass eine solche Lösung ausgeschlossen oder für die Kinder im Sinn der Ausnahmebestimmung des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ unzumutbar oder gefährdend wäre, kann aus dem vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt nicht abgeleitet werden und wurde vom Vater auch nicht behauptet. Dem entführenden Elternteil ist es zuzumuten, eigene Nachteile der Rückkehr in Kauf zu nehmen, weil es auf sein Wohl dabei nicht ankommt (RIS Justiz RS0109515 [T13, T 14, T 15]).

2.4. Die vom Kindesvater angeregte Befassung des Europäischen Gerichtshofs ist nicht erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt den Behörden bei Sorgerechtsentscheidungen ein großer Ermessensspielraum zu (vgl zB EGMR , G. gegen Deutschland , Beschwerde Nr 25706/03 Rz 113). Dazu kommt, dass es sich im vorliegenden Fall nicht um eine endgültige Obsorgeentscheidung handelt, sondern lediglich um eine Rückführung nach dem HKÜ. Die vom Zweck dieses Verfahrens gebotene Beschleunigung und Straffung des Verfahrens sind aber nur möglich, wenn die gesetzlich angeordneten Ausnahmegründe eng interpretiert werden, könnte doch die vom Übereinkommen angestrebte rasche Rückführung andernfalls stets durch entsprechende Behauptungen und dann notwendige weitwendige Erhebungen verzögert werden.

3. Damit bringen die Revisionsrekurswerber aber keine Rechtsfragen der in § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Qualität zur Darstellung, sodass die Revisionsrekurse spruchgemäß zurückzuweisen waren.