OGH vom 20.11.2017, 5Ob140/17z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Johann W*****, geboren am *****, vertreten durch Dr. PeterLeo Kirste, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Monika W*****, geboren am *****, vertreten durch Mag. Christian Kras, Rechtsanwalt in Obertrum als Sachwalter, wegen Ehescheidung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom , GZ 21 R 160/17a41, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Salzburg vom , GZ 41 C 22/13v41 bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidung der Vorinstanzen wird im Ausspruch über das Verschulden dahingehend abgeändert, dass sie insgesamt zu lauten hat wie folgt:
„Die am vor dem Standesamtsverband S***** geschlossene Ehe, eingetragen zur Nummer *****, wird aus dem überwiegenden Verschulden der beklagten Partei mit der Wirkung geschieden, dass sie mit Rechtskraft dieses Urteils aufgelöst ist.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen deren mit 2.482 EUR (darin 378,29 EUR USt und 212,25 EUR anteilige Barauslagen) bestimmten Verfahrenskosten erster Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die Beklagte ist schuldig, dem Kläger anteilige Pauschalgebühren zweiter Instanz von 163 EUR und dritter Instanz von 243 EUR binnen 14 Tagen zu ersetzen, im Übrigen werden die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gegeneinander aufgehoben.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger begehrte die Scheidung der am mit der Beklagten geschlossenen Ehe aus deren Alleinverschulden. Bei der Beklagten seien ab 1994 Tabletten- und Alkoholprobleme aufgetreten. Sie habe in unregelmäßigen Abständen bis zum Totalausfall über mehrere Tage hinweg exzessiv Alkohol konsumiert. 1997 sei sie mit den beiden Töchtern fortgefahren, ohne dem Kläger ihren Aufenthaltsort bekanntzugeben und habe bei der Rückfahrt aufgrund ihrer starken Alkoholisierung einen schweren Verkehrsunfall verursacht. Eine etwa zwei Jahre weitgehend abstinente Phase sei ab 2000 wieder durch Rückfälle zunichte gemacht worden. Nach der Geburt der dritten Tochter im Sommer 2004 sei es aufgrund entsprechender Disziplin der Beklagten nur zu vereinzelten alkoholischen Entgleisungen gekommen, die sich mit Beginn des Jahres 2012 aber wieder massiv gesteigert hätten. Im Jänner 2012 sei es im Beisein der damals noch minderjährigen jüngsten Tochter zu einem Alkoholexzess der Beklagten in einem Wellnesshotel und einem von der Beklagten begangenen Diebstahl in der Umkleidekabine des Hotels gekommen. Im Juni 2012 sei die Beklagte verschwunden und erst mehrere Wochen später in der Wohnung eines fremden Mannes alkoholisiert, halb nackt und völlig verwahrlost angetroffen worden. Nach einem stationären Aufenthalt in der Landesnervenklinik sei die Beklagte nicht nach Hause zurückgekehrt, sondern zu diesem Mann gefahren. Im September 2012 habe der Kläger ihr eine letzte Chance gegeben und sie wieder bei sich aufgenommen, bereits wenige Tage später sei sie aber wieder alkoholisiert mit dem Auto unterwegs und danach einige Wochen unauffindbar gewesen. Eine stationäre Behandlung und einen Krankenhausaufenthalt habe die Beklagte verweigert, einer ernsthaften Therapie habe sie sich nie unterzogen. Die Beklagte habe Alkoholexzesse, die einseitige Aufhebung der Lebensgemeinschaft, Gefährdung und Vernachlässigung der Kinder, Wohn- und Saufgemeinschaften mit fremden Männern und die Verletzung der Treuepflicht zu verantworten, wodurch die eheliche Lebensgemeinschaft unheilbar zerrüttet worden sei. Der Kläger habe die Beklagte nie im Stich gelassen, sondern versucht, ihr Hilfestellung anzubieten, die Bereitschaft dazu habe bei der Beklagten ab 2012 völlig gefehlt. Als er 2001 einmal entdeckt habe, dass sich die Beklagte ein geheimes Lager an alkoholischen Getränken am Dachboden angelegt habe, sei es zu einer Auseinandersetzung gekommen, weil der Kläger alle Flaschen mit Alkohol verschüttet habe. Im Zuge dessen habe der Kläger die Beklagte einmal geschlagen. Regelmäßig habe die Beklagte den Kläger der Tätlichkeit beschuldigt, auch wenn sie tatsächlich in ihrem Delirium über Treppen oder Möbelstücke gestürzt sei und dadurch Blutergüsse davongetragen habe. Um ein Ausreißen der Beklagten in der Nacht zu verhindern, habe der Kläger am Schlafzimmerfenster einen versperrbaren Griff montiert und das Schlafzimmer versperrt, wenn er sich bei der Beklagten befunden habe. Ein alleiniges Einsperren der Beklagten in Abwesenheit des Klägers habe es nicht gegeben.
Die Beklagte bestritt das Scheidungsbegehren, beantragte dessen Abweisung und erhob einen Mitverschuldenseinwand, weil das überwiegende Verschulden am Scheitern der Ehe den Kläger treffe, der die Beklagte in der Not alleine gelassen und sich um sie nicht ausreichend gekümmert habe, sodass sie krank geworden sei, daran sei die Ehe zerbrochen. Der Kläger sei oft Billard spielen gegangen, obwohl die Beklagte aufgrund von Fehlgeburten depressiv gewesen sei und Angstzustände gehabt habe. Im Jahr 2001 habe der Kläger sie mit einem Billard-Stab geschlagen und ihr dadurch Hämatome zugefügt, dies habe sich in den Folgejahren mehrmals wiederholt, er habe sie mehrmals für einen längeren Zeitraum im Schlafzimmer eingesperrt und dadurch eine Freiheitsberaubung begangen.
Das Erstgericht sprach die Scheidung der Ehe aus gleichteiligem Verschulden beider Teile aus, wobei es von folgenden wesentlichen Feststellungen ausging:
Vor der Geburt der drei aus der Ehe stammenden Töchter Karina (1992), Vanessa (1994) und Jessica (2004) hatte die Beklagte zwei Fehlgeburten. Der Kläger spielt regelmäßig mehrmals pro Monat hobbymäßig Billard und fährt auch zu Turnieren, dieses Hobby hatte der Kläger bereits vor der Eheschließung. Die Beklagte teilte ihm nicht mit, dass er weniger Billard spielen und mehr Zeit mit ihr verbringen solle, weil sie ihm das Hobby nicht nehmen wollte.
Im Februar 1994 begannen die Parteien mit dem Hausbau, der im Dezember 1995 abgeschlossen war. In dieser Zeit begannen Alkohol- und Tablettenprobleme der Beklagten, die Ursache hiefür steht nicht fest. Der Alkohol- und Tablettenmissbrauch der Beklagten verlief phasenweise, dazwischen hatte sie Phasen, in denen sie trocken war und keine Tabletten konsumierte; da war sie eine gute Ehefrau und liebevolle Mutter. Wenn sie Alkohol und Tabletten konsumierte, war sie ein völlig anderer Mensch, es ging ihr nur mehr darum, sich Alkohol zu beschaffen, sie kümmerte sich nicht mehr um Haushalt oder Kinder und vernachlässigte die Körperpflege und die Nahrungsaufnahme. Die gesamte Familie versuchte Alkohol von ihr fernzuhalten. Schon damals war sie phasenweise abgängig, was dazu führte, dass die anderen Familienmitglieder sie in der Nacht suchten. In diesen Phasen kam es zu Alkoholkonsum bis zum Kollaps. Der Alkohol- und Tablettenmissbrauch der Beklagten führte zu oftmaligen Streitigkeiten zwischen den Parteien.
1997 fuhr die Beklagte mit beiden Töchtern an den Wörthersee, ohne dem Kläger hievon Bescheid zu geben, trank Alkohol und verursachte auf der Rückfahrt im alkoholisierten Zustand in einem Tunnel einen Unfall. Der Kläger holte die Familie dann ab und es gab Streit zwischen den Parteien.
Etwa 2000 kam es mehrmals vor, dass der Kläger die Beklagte im Schlafzimmer einsperrte, wo er einen versperrbaren Fenstergriff angebracht hatte, damit sie das Zimmer auch über das Fenster nicht verlassen konnte. Er wollte damit verhindern, dass die Beklagte Alkohol konsumiert oder betrunken Auto fährt. Wenn das Einsperren über Nacht erfolgte, befand sich der Kläger ebenfalls im Schlafzimmer. Erfolgte es untertags, war er grundsätzlich in Hörweite, fallweise entfernte er sich auch außer Hörweite, wenn er etwas zu erledigen hatte.
Aufgrund von Stürzen im betrunkenen Zustand hatte die Beklagte oft blaue Flecken, weil sie sich an Gegenständen stieß oder über Treppen stürzte. Sie war immer wieder für mehrere Tage oder eine Woche abgängig und musste dann vom Kläger gesucht werden.
Im Zuge eines Konflikts zwischen den Parteien wegen des Alkoholkonsums der Beklagten 2001 schlug der Kläger die Beklagte. Nicht fest steht, dass sie dadurch blaue Flecken erlitt oder es mehrere solche Vorfälle gegeben hätte.
Ab 2002/2003 besserte sich der Zustand der Beklagten deutlich; sie war mehrere Jahre abstinent.
Ende 2011/Anfang 2012 hatte die Beklagte einen massiven Rückfall in einem Wellnesshotel in G*****, wo sie beim Frühstücksbuffet im Bewusstsein ihres Alkoholproblems ein Glas Sekt trank. Da die Familie Angst um die jüngste Tochter hatte, die mit der Beklagten dort war, musste diese von den älteren Töchtern abgeholt werden. Die Beklagte wurde vom Kläger in einem nicht mehr transportfähigen Zustand abgeholt. Im Wellnesshotel beging die Beklagte Vermögensdelikte, die zu einem Strafverfahren gegen sie führten; den zu dessen Erledigung erforderlichen Geldbetrag zahlte der Kläger.
In der Folge war die Beklagte sehr oft abgängig und hielt sich bei verschiedenen Männern auf, so wurde sie etwa in der Innsbrucker Bundesstraße bei einem Mann namens F***** nur in Unterwäsche gekleidet vorgefunden. Mit Gerhard S***** hatte sie ein geschlechtliches Verhältnis, teilweise war die Beklagte aber auch wieder zu Hause. Im August 2012 war der Kläger auf einem Kuraufenthalt, wobei er nicht wollte, dass die Beklagte in dieser Zeit zu Hause sei. Danach kehrte sie wieder nach Hause zurück und hatte am einen neuerlichen Rückfall, mit diesem Zeitpunkt war die Ehe endgültig unheilbar zerrüttet, für den Kläger war an diesem Tag „Schluss“. Die Beklagte zog endgültig aus der Ehewohnung aus. Während ihrer Alkoholphasen war sie oftmals im Krankenhaus, einen richtigen Kuraufenthalt bzw eine dauerhafte Therapie wollte sie nicht machen. Aufforderungen von Familienmitgliedern an sie, mit dem Trinken aufzuhören führten zu verbaler Aggression ihrerseits. Der Alkohol- und Tablettenmissbrauch und das daraus resultierende Verhalten der Beklagten führten zur Ehezerrüttung auch deswegen, weil die Beklagte das Vertrauen des Klägers verletzte. Sie versprach immer wieder keinen Alkohol zu Hause zu haben, hatte solchen aber doch versteckt.
Auch die Gewalttätigkeit des Klägers 2001 und das Einsperren führten zur Ehezerrüttung. Dass der Kläger die Beklagte in ihrer Not alleine gelassen oder sich nicht ausreichend um sie gekümmert hätte, sodass sie krank geworden wäre, steht nicht fest, ebenso wenig, dass er sie nach den Fehlgeburten vernachlässigt hätte. Die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft der Parteien ist nicht mehr zu erwarten.
Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, durch das Abgleiten der Beklagten in Tabletten- und Alkoholsucht bzw den Rückfall mit den im Einzelnen dargestellten Folgen und Problemen habe die Beklagte eine schwere Eheverfehlung sowie ehrloses und unsittliches Verhalten zu verantworten, überdies habe sie die Ehe gebrochen und objektiv den Anschein ehewidriger Beziehungen durch engen Umgang mit dem anderen Geschlecht erweckt. Dies sei aber nicht ganz so schwer zu gewichten wie das Abgleiten in die Tabletten- und Alkoholsucht, die das grundlegende Problem und der Auslöser für alle anderen Probleme in der Ehe der Parteien gewesen sei. Allerdings sei auch dem Kläger die festgestellte Tätlichkeit als schwere Eheverfehlung vorzuwerfen, eine Verzeihung sei nicht festzustellen gewesen. Das Einsperren der Beklagten hänge mit der Alkoholproblematik zusammen, insoweit sei dem Kläger eine gewisse Rat- und Hilflosigkeit zu konzedieren. In den Fällen, wo er mit der Beklagten gemeinsam im Schlafzimmer oder in Hörweite gewesen sei, sei dies nicht als Eheverfehlung zu werten, wohl aber dann, wenn er sie eingesperrt hatte, ohne in Hörweite zu sein. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die bereits manifeste Alkohol- und Tablettenabhängigkeit eine Krankheit darstelle und damit eine Verringerung des Verschuldens einhergehe, sei von einer gleichen Gewichtung der Eheverfehlungen der Parteien auszugehen. Auch bereits verjährte Eheverfehlungen seien noch berücksichtigungswürdig.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und ließ die ordentliche Revision nicht zu. Es übernahm
– abgesehen von der Negativfeststellung betreffend die Verzeihung der Tätlichkeit 2001, hinsichtlich derer es die Beweisrüge aus rechtlichen Erwägungen unerledigt ließ – die Feststellungen des angefochtenen Urteils und vertrat rechtlich die Auffassung, das vom Kläger begehrte überwiegende Verschulden der Beklagten sei nur dann anzunehmen, wenn der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich hervortrete, was hier nicht der Fall sei. Maßgeblich für die unheilbare Zerrüttung der Ehe seien wechselseitige Eheverfehlungen beider Parteien gewesen. Dem Beitrag der Beklagten an der Ehezerrüttung sei zwar wohl etwas mehr Gewicht beizumessen; dass das Verschulden des Klägers fast völlig hinter das der Beklagten zurückzutreten habe, könne aber nicht gesagt werden, zumal er sie körperlich misshandelt und eingesperrt habe. Dass das schuldhafte Verhalten der Beklagten die Eheverfehlung des Klägers hervorgerufen habe, könne diesen nicht exkulpieren. Durch die weiteren Eheverfehlungen der Beklagten wie die Gefährdung und Vernachlässigung der Kinder, die Tätlichkeiten und Treueverletzung gegenüber dem Kläger, den Rückfall nach langjähriger Abstinenz trotz Bewusstsein ihres Alkoholproblems, das Begehen der Straftat, das Verlassen der Ehewohnung mit mehrwöchiger Abgängigkeit und den Ehebruch habe die Beklagte zwar die Zerrüttung der Ehe fortlaufend vertieft. Da aber die Alkoholabhängigkeit der Beklagten eine Krankheit darstelle, was schon daraus zu schließen sei, dass sie mittlerweile einen Sachwalter habe, müsse ihr Verschulden für die zuletzt begangenen Eheverfehlungen jedenfalls geringer veranschlagt werden. Im Ergebnis sei daher vom gleichteiligen Verschulden der Ehegatten auszugehen.
Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu, weil die Frage, welchem Ehepartner Eheverfehlungen zur Last falle und welchen das alleinige oder überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe treffe, eine solche des konkreten Einzelfalls und damit nicht erheblich im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung dahingehend, dass die Scheidung aus dem alleinigen, in eventu überwiegenden Verschulden der Beklagten ausgesprochen werden möge. Hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil die Verschuldensbemessung bei der Scheidung zwar nach den Umständen des Einzelfalls erfolgt und in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage begründen kann (RIS-Justiz RS0119414; RS0110837 [T1]), die Gewichtung der beiderseitigen Eheverfehlungen durch die Vorinstanzen allerdings mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht im Einklang steht.
Die Revision ist im Sinne ihres Eventualantrags auch berechtigt.
1. Das überwiegende Verschulden eines Ehegatten an der Zerrüttung der Ehe ist nur dort anzunehmen oder auszusprechen, wo der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich hervortritt und das mindere Verschulden fast völlig in den Hintergrund tritt (RIS-Justiz RS0057821; RS0057858). Nur ein erheblich schwereres Verschulden eines Teils soll im Scheidungsurteil zum Ausdruck kommen, ohne dass der Gesetzgeber dem Richter die Pflicht auferlegt hat, hinsichtlich des Verschuldensausmaßes subtile Erwägungen vorzunehmen (RIS-Justiz RS0057325). Grundlage des Verschuldens-ausspruchs ist dabei das Gesamtverhalten der Ehegatten während der gesamten Dauer der Ehe (RIS-Justiz RS0057268; RS0057303). Bei der Gewichtung des Verschuldens ist vor allem zu berücksichtigen, welche Partei mit dem zur Zerrüttung der Ehe führenden Verhalten begonnen und einen entscheidenden Beitrag zur Zerrüttung geleistet hat (RIS-Justiz RS0056597 [T1, T3]; RS0057223 [T5]). Hat das schuldhafte Verhalten eines Teils jenes des anderen nach sich gezogen, so ist dem Beitrag des ersteren in der Regel größeres Gewicht beizumessen (RIS-Justiz RS0057361; RS0057367). In die Verschuldensabwägung können auch bereits verjährte Eheverfehlungen einbezogen werden, deretwegen eine Scheidungsklage wegen Ablauf der Frist des § 57 EheG nicht mehr eingebracht werden könnte (RIS-Justiz RS0057209 [T3]), ebenso verziehene Eheverfehlungen (RIS-Justiz RS0057209 [T1], RS0043434), wobei die Berücksichtigung verziehener und verjährter Eheverfehlungen im Rahmen des § 60 Abs 3 EheG insbesondere dann geboten ist, wenn unter Bedachtnahme auf alle Umstände, auf die gesamten Beziehungen der Ehegatten zueinander, namentlich die Schwere und Tragweite der verjährten oder verziehenen Eheverfehlungen des Klägers, es nach allgemeiner Auffassung gerecht ist, die Schuld nicht allein der Beklagten aufzuerlegen (RIS-Justiz RS0057535).
2. Das Berufungsgericht hat diese Rechtsprechungsgrundsätze grundsätzlich zutreffend wiedergegeben, dann aber in korrekturbedürftiger Weise angewendet.
2.1. Der Kläger weist in seiner Revision zutreffend darauf hin, dass nach den Feststellungen die Beklagte es war, die die Einleitung der Zerrüttung der Ehe durch ihr Abgleiten in die Tabletten- und Alkoholsucht verursachte. Dass das Verhalten des Klägers ihr gegenüber dafür in irgendeiner Weise Grund und Anlass gewesen wären, konnte das Erstgericht hingegen nicht feststellen. Wie die Vorinstanzen richtig erkannten, ist Alkohol- und Tablettenmissbrauch als an sich schwere Eheverfehlung der Beklagten anzusehen (RIS-Justiz RS0056311). Darin lag nach den Feststellungen jedenfalls die Wurzel für die Zerrüttung der Ehe der Streitteile, führte dieses Alkoholproblem der Beklagten doch nicht nur zu laufenden Streitigkeiten, sondern auch zur festgestellten Tätlichkeit und dem mehrfachen Einsperren der Beklagten durch den Kläger.
2.2. Die in der Revision auf Basis der Feststellungen anschaulich dargestellten Verfehlungen der Beklagten, die von einer Vernachlässigung des Haushalts, Gefährdung der Kinder bis zur tagelangen Abgängigkeit samt Aufenthalt bei verschiedenen Männern und dem geschlechtlichen Verhältnis zu einem anderen Mann reichten, sind wohl ohne jeden Zweifel in rein objektiver Hinsicht schwerwiegende Eheverfehlungen der Beklagten. Die Vorinstanzen haben ihr aufgrund ihrer Suchterkrankung und der damit verbunden geistigen Störung nur ein gemindertes Verschulden daran angelastet. Soweit der Kläger in seiner Revision moniert, die Beklagte habe das Vorliegen einer Erkrankung, die ihre Einsichts- und Urteilsfähigkeit eingeschränkt hatte, nicht einmal behauptet, ist ihm nicht nur das Prozessvorbringen der Beklagten entgegenzuhalten, die behauptete, erst die Vernachlässigung durch den Kläger habe ihre Krankheit ausgelöst, sondern auch das vom Kläger selbst im Zusammenhang mit den von ihm behaupteten Aufenthalten der Beklagten in Salzburger Landeskliniken konkret erstatteten Vorbringen zu Diagnosen wie Abhängigkeitssyndrom durch Alkohol, Entzugssyndrom bei Alkohol, Abhängigkeitssyndrom durch Sedativa oder Hypnotika etc (Schriftsatz ON 34). Allerdings kann weder aus dem Prozessvorbringen noch aus den Feststellungen abgeleitet werden, die Beklagte wäre überhaupt nicht mehr einsichts- und urteilsfähig gewesen. Die vom Berufungsgericht hiefür ins Treffen geführte Sachwalterbestellung erfolgte erst im Zuge des Scheidungsverfahrens im Juni 2014 und hat jedenfalls keine Aussagekraft über die Verschuldensfähigkeit der Beklagten bis zum Zeitpunkt Mitte September 2012, zu dem nach den Feststellungen die endgültige Zerrüttung der Ehe aufgetreten war. Das bereits im Jahr 1995 begonnene Abgleiten der Beklagten in den Tabletten- und Alkoholmissbrauch ist der Beklagten vielmehr ebenso als schuldhaft vorzuwerfen wie ihr Rückfall nach mehrjähriger völliger Abstinenz Ende 2011, wo die Beklagte im Bewusstsein ihres Alkoholproblems ohne irgendeinen nachvollziehbaren äußeren Anlass (schon gar nicht aufgrund eines Verhaltens des Klägers) neuerlich zum Sekt griff und damit einen Absturz in ihre Alkoholexzesse geradezu provozierte, obwohl sie dieses Wellnesswochende damals mit ihrer minderjährigen Tochter verbringen wollte. Man mag der Beklagten somit zwar die im Einzelnen als Folge der Alkoholerkrankung festgestellten, an sich schweren Eheverfehlungen aufgrund der von ihr nicht beherrschten Suchterkrankung nur in geringerem Umfang als Verschulden anrechnen können; dass sie ihren Tabletten- und Alkoholmissbrauch anfangs ohne festgestellten und vom Kläger gebotenen Anlass zur Suchterkrankung werden ließ bzw sich im Bewusstsein ihrer Krankheit aus freiem Willen dazu entschloss, wieder Sekt zu trinken und einen Rückfall zu provozieren, ist ihr aber als schwerwiegende und Wurzel der Zerrüttung darstellende Eheverfehlung anzulasten.
2.3. Aber auch dem Kläger fallen Eheverfehlungen zur Last, die – wenn auch verfristet – aus Billigkeitserwägungen nicht völlig unberücksichtigt bleiben können. Schon die Vorinstanzen wiesen zutreffend darauf hin, dass die festgestellte Tätlichkeit des Klägers gegenüber der Beklagten seit dem EheRÄG 1999, BGBl I 1999/125 unabhängig von der Schwere der Beeinträchtigung als jedenfalls schwere Eheverfehlung zu werten ist, zumal die besondere Hervorhebung körperlicher Gewaltakte im Gesetzeswortlaut den Schluss zulässt, dass der Gesetzgeber in dieser Hinsicht einen objektiven, von der persönlichen Lebenssituation der Ehegatten unabhängigen Maßstab an das Verhalten der Ehegatten anlegen wollte (RIS-Justiz RS0056787 [T6]). Eine entschuldbare Reaktionshandlung könnte nur dann vorliegen, wenn sich ein Ehepartner als unmittelbare Folge eines grob ehewidrigen Verhaltens des anderen dazu hinreißen lässt, in einer verständlichen Gemütsbewegung, die die Zurechnung seines Handelns als Verschulden ausschließt, seinerseits Eheverfehlungen zu setzen (RIS-Justiz RS0057136). Eine körperliche Misshandlung liegt allerdings außerhalb des Rahmens einer noch verständlichen und entschuldbaren Reaktionshandlung (RIS-Justiz RS0057020). Die Beurteilung der Vorinstanzen liegt im Rahmen dieser Rechtsprechung und ist zu billigen. Dass das Berufungsgericht die Beweisrüge zur Frage der Verzeihung der Tätlichkeit nicht erledigte, stellt keine Mangelhaftigkeit dar, weil selbst der Umstand einer Verzeihung der – an sich ohnedies bereits verfristeten – Eheverfehlung letztlich am rechtlichen Ergebnis nichts ändern würde (RIS-Justiz RS0042386).
2.4. Das von den Vorinstanzen ebenso als schwere Eheverfehlung gewertete mehrfache Einsperren der Beklagten durch den Kläger erfolgte nach den erstgerichtlichen Feststellungen entweder über Nacht oder tagsüber für mehrere Stunden, wobei es auch vorkam, dass der Kläger sich außer Hörweite entfernte. Auch insoweit lag keine unmittelbare, entschuldbare Reaktionshandlung im Sinn der Rechtsprechung vor, zumal sich dieses Verhalten des Klägers im Jahr 2000 über einen gewissen Zeitraum fortsetzte. Eine Verzeihung dieser Eheverfehlungen durch die Beklagte behauptete der Kläger gar nicht.
2.5. Nach den vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichts waren sowohl die Tätlichkeit als auch das Einsperren mit ein Grund für die Zerrüttung der Ehe. Dass die Vorinstanzen diese Eheverfehlungen ungeachtet ihrer Verfristung in die Abwägung des Verschuldens an der Zerrüttung der Ehe einbezogen, hält sich angesichts ihrer Schwere noch im Rahmen des ihnen in diesem Zusammenhang eingeräumten Ermessens.
2.6. Damit hat das Verschulden des Klägers zwar insgesamt ein nicht ganz zu vernachlässigendes Gewicht, allerdings stehen die ihm vorgeworfenen Eheverfehlungen im engen Zusammenhang mit dem – Wurzel der Zerrüttung der Ehe bildenden – Alkohol- und Tablettenmissbrauch der Beklagten, der den Kläger offenbar massiv überforderte. Allerdings hat die Beklagte ohne jeden Zweifel nicht nur mit der Zerrüttung der Ehe begonnen (RIS-Justiz RS0057367), sondern auch letztlich den entscheidenden Teil zu deren Vollendung beigetragen (3 Ob 218/08t). Ihr ist nämlich nicht nur das ursprüngliche Abgleiten in die Tabletten- und Alkoholsucht, sondern auch ihre mangelnde Bereitschaft zur Behandlung und Therapie und letztlich der Ende 2011 ohne jeglichen Anlass geradezu provozierte Rückfall mit massiven Folgen vorzuwerfen, während die Eheverfehlungen des Klägers einerseits Ausdruck seiner Hilflosigkeit im Umgang mit der Suchterkrankung der Beklagten waren und überdies bereits mehr als zehn Jahre zurückliegen. Da sie nach den Feststellungen aber ebenfalls ehezerrüttend wirkten, sind sie als – wenn auch geringergradiges – Verschulden des Klägers zu veranschlagen.
2.7. In teilweiser Stattgebung der Revision waren daher die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn des Ausspruchs des überwiegenden Verschuldens der Beklagten abzuändern.
3. Die Entscheidung über die Verfahrenskosten beruht auf §§ 43 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO. Bei überwiegendem Verschulden eines der Ehegatten ist die Ausmessung des Kostenersatzes dem begründeten Ermessen des Gerichts zu überlassen, das hiezu auf die besonderen Umstände des Falls, insbesondere auf den Grad des Verschuldens Bedacht zu nehmen hat (RIS-Justiz RS0035945). Danach entspricht es der Billigkeit, den Prozesserfolg des Klägers mit ¾ zu bewerten und dementsprechend der Beklagten den Ersatz der Hälfte der gegnerischen erstinstanzlichen Kosten – ausgenommen Gerichtsgebühren – aufzuerlegen. Die Gerichtsgebühren waren hingegen gemäß § 43 Abs 1 letzter Satz ZPO im Verhältnis des Obsiegens zuzusprechen. Im Rechtsmittelverfahren, in dem nur mehr die Frage eines gleichteiligen oder alleinigen Verschuldens der Beklagten Gegenstand war, sind die Verfahrenskosten wechselseitig aufzuheben, weil insoweit vom gleichteiligen Obsiegen ausgegangen werden kann. Hinsichtlich der Pauschalgebühren ist ein Zuspruch von 50 % im Sinn des § 43 Abs 1 letzter Satz ZPO vorzunehmen.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0050OB00140.17Z.1120.000 |
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