OGH vom 18.09.2019, 7Ob154/19a

OGH vom 18.09.2019, 7Ob154/19a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Unterbringungssache der Kranken R***** R*****, geboren am ***** 1957, *****, vertreten durch den Verein VertretungsNetz – Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, 3430 Tulln, Alter Ziegelweg 10 (Mag. B***** R*****), vertreten durch Dr. Rose-Marie Rath, Rechtsanwältin in Wien, gerichtlicher Erwachsenenvertreter Dr. Karl Ossana, Rechtsanwalt in Langenzersdorf, Abteilungsleiter OA Dr. I***** T*****, pA *****, wegen besonderer Heilbehandlung (§ 36 Abs 3 UbG), über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Kranken gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 317/19v-23, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Tulln vom , GZ 12 Ub 180/19f-18, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die Kranke leidet an einer unbehandelten chronischen paranoiden Schizophrenie mit einem ausgeprägten Selbstfürsorgedefizit bei Verweigerung ausreichender Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme sowie fremdaggressiven Verhaltensweisen und ist deshalb seit untergebracht.

Bei der Kranken ist die Verabreichung von Haldol Decanoat 100 mg geplant. Dabei handelt es sich um ein Antipsychotikum. Die Verabreichung als Depotpräparat entspricht den nationalen und internationalen Standards bei Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis. Das Medikament ist vom Nebenwirkungsprofil her allgemein gut verträglich. Als Nebenwirkungen können in manchen Fällen extrapyramidal-motorische Störungen im Sinn eines Parkinsonoids oder von Parakinesien auftreten, auch Akathisien kommen gelegentlich vor. Diese Nebenwirkungen sind jedoch durch die Gabe von Akineton oder Kemadri relativ leicht zu behandeln, alle weiteren in der Literatur beschriebenen Nebenwirkungen sind ausgesprochen selten. Haldol ist – neben Leponex – das bei weitem potenteste Antipsychotikum und liegt – anders als Leponex – auch als intramuskulär verabreichbares Depotpräparat vor. Da die Kranke bis dato jegliche Medikamenteneinnahme verweigerte, kann die Medikation ausschließlich intramuskulär verabreicht werden. In Anbetracht des Schweregrads des klinischen Bildes der Kranken erscheint die Auswahl von Haldol Decanoat 100 mg als gerechtfertigt.

Die rasche Behandlung mit Haldol ist die einzige Möglichkeit, um die Patientin wieder in einen Zustand zu versetzen, in dem sie einen Alltag außerhalb des geschützten Rahmens des Krankenhauses bewältigen kann. Der Zustand der Kranken wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit jeden weiteren Tag ohne Medikation weiter verschlechtern.

Da die Kranke bisher nicht nur die Einnahme von Medikamenten, sondern auch alle körperlichen Untersuchungen und Blutabnahmen verweigert hat, steht derzeit nicht fest, ob die Kranke das Medikament verträgt. Zur Verträglichkeitsprüfung ist die einmalige Gabe einer Ampulle Haldol 1 ml und die Durchführung einer Blutabnahme samt Erstellung eines Blutbildes erforderlich.

Das Aufgabengebiet des gerichtlichen Erwachsenenvertreters der Kranken umfasst nicht die Vertretung in medizinischen Angelegenheiten.

Der Abteilungsleiter beantragte (zuletzt modifiziert) die Genehmigung einer besonderen Heilbehandlung durch mehrmalige Gabe von Haldol Decanoat 100 mg über einen Zeitraum von 12 Wochen sowie die Verabreichung einer Ampulle Haldol 1 ml und eine Blutabnahme zur Herstellung eines Blutbildes der Kranken.

Das Erstgericht genehmigte – soweit für das Rechtsmittelverfahren relevant – „die besondere Heilbehandlung durch die Verabreichung von Haldol Decanoat 100 mg über einen Zeitraum von 12 Wochen (...) unter der Auflage, dass die (Kranke) nach Verabreichung einer Ampulle Haldol 1 ml zeigt, das Medikament zu vertragen und aufgrund einer Blutabnahme festgestellt wird, dass die Basiswerte der (Kranken) die beantragte Behandlung nicht ausschließen“. Es sprach weiters aus, dass dieser Entscheidung „gemäß § 44 AußStrG vorläufige Vollstreckbarkeit“ zukommt. Das Erstgericht war rechtlich der Ansicht, dass sowohl die einmalige Gabe einer Ampulle Haldol 1 ml als auch die Durchführung einer Blutabnahme für sich betrachtet keine besondere Heilbehandlung darstellten, aber Erfordernis für die genehmigte gesonderte Heilbehandlung und daher als Auflage anzuordnen gewesen seien. Die rasche Behandlung sei wegen der laufenden Verschlechterung des Zustands der Kranken notwendig.

Das Rekursgericht bestätigt diese Entscheidung mit der Maßgabe, dass sie lautet: „Die besondere Heilbehandlung durch die Verabreichung von Haldol Decanoat 100 mg über einen Zeitraum von 12 Wochen an die Patientin wird genehmigt unter der medizinisch zu prüfenden Voraussetzung, dass die Patientin nach Verabreichung einer Ampulle Haldol 1 ml verträglich auf das Medikament reagiert, was durch die Anfertigung eines Blutbildes zu überprüfen sein wird.“ Es vertrat zusammengefasst die Rechtsansicht, dass die Depotbehandlung derzeit die einzige Möglichkeit darstelle, eine relevante Besserung des psychischen Zustandsbilds der Kranken erreichen zu können, die Voraussetzung für eine Alltagsbewältigung ohne Selbst- oder Fremdgefährdung sei. Die einmalige Verabreichung von Haldol in Nichtdepotform und die Anfertigung eines Blutbildes der Kranken seien der Beginn der gerichtlich genehmigten Langzeit-Behandlung, die als Einheit zu beurteilen sei.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Die Beurteilung, ob eine besondere Heilbehandlung im Sinn des § 36 Abs 1 UbG erforderlich sei, sei stets nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit einem Aufhebungsantrag.

Der Revisionsrekurs ist aus folgenden Erwägungen zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1.1. Soweit der Kranke entscheidungsfähig ist, darf er nach § 36 Abs 1 UbG nicht gegen seinen Willen behandelt werden; eine medizinische Behandlung, die gewöhnlich mit einer schweren oder nachhaltigen Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Persönlichkeit verbunden ist (besondere Heilbehandlung), darf nur mit seiner schriftlichen Zustimmung durchgeführt werden.

1.2. Ist der Kranke nicht entscheidungsfähig, so hat zufolge § 36 Abs 3 UbG auf Verlangen des Kranken oder seines Vertreters das nach § 12 Abs 1 UbG zuständige Gericht über die Zulässigkeit der Behandlung unverzüglich zu entscheiden. Eine besondere Heilbehandlung bedarf der Genehmigung dieses Gerichts.

2.1. Das UbG definiert die Heilbehandlung nicht. Nach der Rechtsprechung sind medizinische Heilbehandlungen im Sinn des UbG alle ärztlichen Maßnahmen, die aufgrund einer medizinischen Indikation vorgenommen werden, um Krankheiten zu erkennen, zu heilen oder zu lindern. Der Begriff „Heilbehandlung“ umfasst nicht nur unmittelbar therapeutische, sondern auch diagnostische und physikalische Maßnahmen, wie etwa eine Blutabnahme (6 Ob 2117/96h; 7 Ob 168/15d).

2.2. Besondere Heilbehandlungen sind aber nur solche, die die körperliche Integrität des Kranken in besonderer Weise beeinträchtigen. Bei Behandlungen, mit denen Persönlichkeitsveränderungen verbunden sind, wird zu unterscheiden sein: Behandlungen, die auf die Heilung (und damit die Veränderung) der kranken Persönlichkeit selbst abzielen, werden nicht schlechthin „besondere Heilbehandlungen“ sein. Wenn eine Behandlung aber über das Ziel einer solchen Heilung hinaus – vorübergehende oder dauernde – Veränderungen der Persönlichkeit des Kranken, andere erhebliche Nebenwirkungen oder sonst schwerwiegende Beeinträchtigungen der körperlichen oder psychischen Verfassung nach sich ziehen können, wird eine „besondere Heilbehandlung“ vorliegen (vgl RS0076093; vgl dazu auch Ganner in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 36 UbG Rz 6).

2.3. Nach diesen Grundsätzen ist im hier vorliegenden Fall zunächst der auch im Revisionsrekurs nicht behaupteten Ansicht des Erstgerichts dahin beizupflichten, dass allein die einmalige Gabe einer Ampulle Haldol 1 ml verbunden mit der Durchführung einer Blutabnahme zur Herstellung eines Blutbildes der Kranken zum Zweck der Prüfung der Verträglichkeit des Medikaments noch keine besondere Heilbehandlung darstellen. Diese Maßnahmen sind daher für sich genommen zufolge § 36 Abs 3 UbG nicht genehmigungsbedürftig, weil die Kranke nicht entscheidungsfähig ist und insoweit weder die Kranke noch ihr Vertreter ein Überprüfungsbegehren gestellt haben. Vielmehr sind die Ausführungen im Revisionsrekurs dahin zu verstehen, dass auch seitens der Kranken eine Verträglichkeitsprüfung vor der für einen längeren Zeitraum geplanten Depotbehandlung für notwendig erachtet wird.

2.4. Dem Abteilungsleiter steht im Rahmen des § 36 Abs 3 UbG ein gesondertes Überprüfungsbegehren nur für eine einfache Heilbehandlung nicht zu, doch ist dessen Antrag richtigerweise ohnehin als ein auf die Genehmigung der besonderen Heilbehandlung abzielendes „Gesamtbegehren“ zu werten.

3. Alle Verfahrensbeteiligten und die Vorinstanzen gehen übereinstimmend und zutreffend davon aus, dass die geplante Depotbehandlung durch mehrmalige Gabe von Haldol Decanoat 100 mg über einen Zeitraum von 12 Wochen angesichts der dabei möglichen Nebenwirkungen und der langen Behandlungsdauer eine besondere Heilbehandlung darstellt und daher nach § 36 Abs 3 UbG der Genehmigung des Gerichts bedarf. Einigkeit besteht auch betreffend die notwendige Verträglichkeit der Medikation als – geradezu selbstverständliche – Voraussetzung der Genehmigungsfähigkeit der besonderen Heilbehandlung. Unterschiedliche Rechtsansichten bestehen (nur) darüber, ob – so die im Revisionsrekurs vertretene Ansicht – die Verträglichkeitsprüfung gesondert und vor der Entscheidung über die Genehmigung der besonderen Heilbehandlung vorgenommen werden muss oder ob die Verträglichkeitsprüfung – so die Meinung der Vorinstanzen – als Bestandteil der besonderen Heilbehandlung zu genehmigen sei und in deren Rahmen zu erfolgen habe. Dazu wird erwogen:

4. Der Fachsenat hat bereits, wenngleich zu Maßnahmen nach § 33 Abs 3 UbG ausgesprochen, dass eine einheitliche Beschränkung dann vorliegt, wenn gleichartige, eine sachliche Einheit bildende, Maßnahmen ergriffen werden, die Einzelschritte von vornherein als Einheit geplant sind und daher ihre regelmäßige Wiederholung wahrscheinlich ist, wie etwa eine wiederholte Medikation (7 Ob 208/12g). Diese Überlegung gilt auch im vorliegenden Kontext dahin, dass eine notwendige Voraussetzung, hier die Medikamentenverträglichkeit, die eine besondere Heilbehandlung erst zulässig macht, mit dieser keine Einheit bildet, also nicht bereits deren Teil sein kann und daher nicht der – überdies an keine konkreten sachlichen Kriterien geknüpften – künftigen Beurteilung des behandelnden Arztes überlassen werden darf. Dies kann auch nicht unter dem Titel einer – im UbG ohnehin nicht vorgesehenen – „Auflage“ oder einer „medizinsch zu prüfenden Voraussetzung“ geschehen. Bei der gegenteiligen, aus der Vorgangsweise der Vorinstanzen folgenden Sichtweise würde wegen noch nicht möglicher Beurteilung der Medikamentenverträglichkeit die gesamthafte Prüfung aller Voraussetzungen der besonderen Heilbehandlung der vorherigen umfassenden gerichtlichen Kontrolle entzogen und zu einem wesentlichen Teil dem behandelnden Arzt übertragen. Eine solche Vorgangsweise widerspricht gerade dem Grundgedanken der § 36, 37 UbG, wonach im Regelfall die gerichtliche Genehmigung und damit die Prüfung aller dafür notwendigen Voraussetzungen – vor – der besonderen Heilbehandlung zu erfolgen hat. Daraus folgt:

5. Vor der einmaligen Gabe einer Ampulle Haldol 1 ml verbunden mit der Durchführung einer Blutabnahme zur Herstellung eines Blutbildes der Kranken kann die Verträglichkeit des Medikaments und damit die Zulässigkeit der geplanten besonderen Heilbehandlung nicht beurteilt werden. Das Erstgericht wird dies im fortgesetzten Verfahren mit den Beteiligten zu erörtern und zu klären haben, ob diese Verträglichkeitsprüfung zwischenzeitig bereits erfolgt ist. Andernfalls wird sie vom Klinikum als Voraussetzung der geplanten Depotbehandlung durchzuführen sein und das Erstgericht wird auf Basis der dabei erzielten Ergebnisse eine neuerliche Entscheidung über die besondere Heilbehandlung zu treffen haben. Dabei wird auch die gegebenenfalls zu genehmigende Behandlung betreffend die Art der Verabreichung und deren Intervalle soweit möglich zu konkretisieren sein.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00154.19A.0918.000

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