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OGH vom 28.08.2020, 6Ob178/20z

OGH vom 28.08.2020, 6Ob178/20z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Außerstreitsache der Antragstellerin N*****, Ungarn, vertreten durch Dr. Katharina Bleckmann, Rechtsanwältin in Salzburg, gegen den Antragsgegner G*****, vertreten durch Dr. Lorenz Wolff, Rechtsanwalt in Salzburg als Verfahrenshelfer, wegen Rückführung der minderjährigen L*****, geboren am ***** 2015, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragsgegners gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom , GZ 21 R 121/19v-105, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom , GZ 20 Ps 105/18h-88, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Die – damals miteinander verheirateten – Eltern der Minderjährigen kamen im Jahr 2013 nach Österreich, die Minderjährige lebte ab ihrer Geburt zunächst bei ihnen. Im Jahr 2017 pendelte die Mutter mit der Minderjährigen immer wieder nach Ungarn, um ihre erkrankten Eltern zu pflegen. Nach dem Tod ihres Vaters verblieb die Mutter mit der Minderjährigen noch längere Zeit in Ungarn, um sich um die Beerdigung und andere Dinge kümmern zu können. Im September 2017 ging der Vater der Minderjährigen eine neue Beziehung ein, worauf es zur Trennung deren Eltern kam. Die Mutter verblieb mit der Minderjährigen endgültig in Ungarn, womit sich der Vater anfangs auch einverstanden zeigte. Am beantragte er in Ungarn die Scheidung der Ehe der Eltern der Minderjährigen, die Feststellung der gemeinsamen Obsorge für diese und die Festlegung deren hauptsächlichen Aufenthalts bei der Mutter in Ungarn. Nachdem die Mutter allerdings einem gemeinsamen Bekannten mitgeteilt hatte, sie spiele mit dem Gedanken, sich und die Minderjährige umzubringen, nahm der Vater im Zuge der Ausübung seines Kontaktrechts in Ungarn die Minderjährige am gegen den Willen der Mutter nach Österreich mit; seitdem lebt die Minderjährige bei ihm in Österreich.

Auch wenn der Vater in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs meint, an der internationalen Zuständigkeit des ungarischen Scheidungs- und Pflegschaftsgerichts sei „stark zu zweifeln“, so ist die Bejahung der internationalen Pflegschaftsgerichtsbarkeit ungarischer Gerichte durch die Vorinstanzen doch nicht zu beanstanden. Nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; dieser befand sich im Oktober 2017 in Ungarn, lebte die Minderjährige damals doch bei ihrer Mutter, womit der Vater auch einverstanden gewesen war, und beantragte er doch selbst die Festlegung des hauptsächlichen Aufenthalts der Minderjährigen bei der Mutter in Ungarn.

2. Der Gerichtshof Budapest Umgebung als Gericht II. Instanz bestimmte in seinem Urteil vom in Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung, dass zur Ausübung der elterlichen Obsorge für die der Ehe der Eltern entstammende Minderjährige deren Mutter berechtigt ist und dass der Vater verpflichtet wird, das Kind binnen 30 Tagen mit dessen Kleidung, Ausstattung und Urkunden an die Mutter zu übergeben. Festgehalten wird außerdem, dass gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel nicht zulässig sei.

2.1. Das Erstgericht hat mit seinem Beschluss vom den Rückführungsantrag der Mutter mit der Begründung abgewiesen, dass einer Rückkehr der Minderjährigen nach Ungarn ohne deren Vater das Rückführungshindernis der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens für die Minderjährige nach Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (BGBl 512/1988; HKÜ) entgegenstehe. Gegen diesen Beschluss erhob die Mutter fristgerecht ein Rechtsmittel.

2.2. Nach Art 11 Abs 6 und 7 Brüssel IIa-VO hat das Gericht des Fluchtstaats in einem solchen Fall – Rechtskraft der negativen Rückführungsentscheidung ist nicht notwendig (Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht [2019] Art 11 Brüssel IIa-VO Rz 23 unter Hinweis auf EuGH Rs C-195/08 PPU [Rinau] EU:C:2008:406) – das zuständige Gericht oder die Zentrale Behörde des Ursprungsstaats über die Entscheidung zu informieren, die wiederum die Parteien, sofern diese nicht bereits die Gerichte befasst haben, hievon zu unterrichten und im Fall einer Antragstellung die Frage des Sorgerechts zu prüfen haben. Nach der Aktenlage sind sowohl das ungarische Scheidungs- und Pflegschaftsgericht (vgl die Entscheidung des Kreisgerichts Szigetszentmiklós vom , S 5) als auch die Eltern in Kenntnis der negativen Rückführungsentscheidung; mit der Obsorge für die Minderjährige wurde nunmehr rechtskräftig die Mutter betraut.

2.3. Nach Art 11 Abs 8 Brüssel IIa-VO ist ungeachtet einer nach Art 13 HKÜ ergangenen Entscheidung (im Fluchtstaat), mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wurde, eine spätere Entscheidung (im Ursprungsstaat), mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach der Brüssel IIa-VO zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 der Brüssel IIa-VO vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen. Diese Bestimmung privilegiert zwar nur solche Entscheidungen, bei denen die zeitliche Abfolge nach Art 11 Abs 6 bis 8 Brüssel IIa-VO eingehalten wurde, die also später als die Entscheidung im Herausgabeverfahren nach dem HKÜ im Fluchtstaat erlassen wurden (Nademleinsky aaO Rz 24; 6 Ob 113/14g EF-Z 2014/173 [Nademleinsky] = iFamZ 2014/198 [Fucik]). Diese Voraussetzungen sind jedoch im vorliegenden Fall gegeben. Die negative Rückführungsentscheidung erging in Österreich am ; die Entscheidung des international zuständigen (siehe 1.) ungarischen Gerichts, mit der der Vater verpflichtet wurde, die Minderjährige binnen 30 Tagen mit deren Kleidung, Ausstattung und Urkunden an die Mutter zu übergeben, datiert vom .

3. Da das Gericht des Ursprungsstaats „ungeachtet“ der nach Art 13 HKÜ ergangenen Entscheidung die Rückgabe des Kindes anordnen kann (und hier auch angeordnet hat) und diese Anordnung aufgrund einer Bescheinigung des Ursprungsstaats nach Art 42 Brüssel IIa-VO auch im Fluchtstaat vollstreckbar ist, kommt es auf die Ausführungen des Vaters in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs, der die Wiederherstellung der negativen Rückführungsentscheidung des Erstgerichts anstrebt, zum zu beachtenden Wohl der Minderjährigen nicht mehr an.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2020:0060OB00178.20Z.0828.000

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