Berufungsentscheidung - Steuer (Referent), UFSW vom 06.10.2008, RV/2834-W/08

Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit

Beachte

VwGH-Beschwerde zur Zl. 2011/16/0078 (vormals 2008/13/0225) eingebracht (Amtsbeschwerde). Mit Erk. vom wird der Bescheid soweit er den Monat Juli 2002 betrifft, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, im übrigen, sohin für den Zeitraum ab Juli 2002, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Fortgesetztes Verfahren mit BE zur Zl. RV/3248-W/11 erledigt.


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Rechtssätze
Stammrechtssätze
RV/2834-W/08-RS1
Mit der Formulierung des § 8 Abs. 6 FLAG 1967 hat der Gesetzgeber nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes nicht nur für die Frage des Grades der Behinderung, sondern (seit 1994) auch für die Frage der Selbsterhaltungsfähigkeit ein qualifiziertes Nachweisverfahren eingeführt.

Entscheidungstext

Berufungsentscheidung

Der Unabhängige Finanzsenat hat über die Berufung der Bw., W.,M-Gasse, vertreten durch Dr. Christiane Bobek, Rechtsanwältin, 1150 Wien, Mariahilfer Straße 140, vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Wien 4/5/10 vom betreffend Abweisung eines Antrags auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe ab entschieden:

Der Berufung wird Folge gegeben.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

Entscheidungsgründe

Die 1971 geborene Berufungswerberin (Bw.) leidet an einer bipolaren Störung sowie an einer Borderline Persönlichkeitsstörung. Im Juni 2007 beantragte sie, vertreten durch ihre Sachwalterin, die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung.

Mit Gutachten vom wurde vom Bundessozialamt der Gesamtgrad der Behinderung mit 50% rückwirkend ab festgestellt und ausgesprochen, dass die Bw. voraussichtlich dauernd außerstande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Der Beginn der Erkrankung sei mit dem 19. Lebensjahr anzunehmen, da damals der Drogenkonsum begonnen habe.

Mit Bescheid vom wies das Finanzamt den Antrag auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe ab Juni 2002 ab und führte in der Begründung aus, laut Verwaltungsgerichtshof stehe eine mehrjährige berufliche Tätigkeit (im vorliegenden Fall sei die Bw. 105 Monate berufstätig gewesen) des Kindes der Annahme entgegen, das Kind sei infolge seiner Behinderung dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

In der dagegen erhobenen Berufung führte die Sachwalterin aus, dass die Bw. seit ihrer Jugend an psychischen Problemen leide und ab dem 13. Lebensjahr Suizidgedanken bestanden hätten. Bei der Bw. bestehe eine psychiatrische Erkrankung im Sinne bipolarer Störung, eine Borderline Persönlichkeit, sowie eine Poltoxiekomanie. Krankheitsbedingt fehle ein Realitätsbezug und füge sich die Bw. selbst Verletzungen zu. Darüber hinaus finde sich eine Störung des Sozialverhaltens aufgrund des Drogenabusus ab dem 19. Lebensjahr.

Es sei zwar zutreffend, dass die Bw. jeweils kurzfristige Arbeitsverhältnisse eingegangen sei, diese könnten jedoch bestenfalls als Arbeitsversuche gewertet werden. Dazwischen seien krankheitsbedingt lange Unterbrechungszeiträume gelegen, weshalb die festgestellten Dienstverhältnisse als vergeblicher Versuch einer Eingliederung in das Erwerbsleben zu bezeichnen seien. Die Bw. habe auf Grund ihres Krankheitsbildes keine ordentliche Berufsausbildung absolvieren können, weshalb sie nicht in der Lage sei und auch nicht gewesen sei, für ihren Unterhalt aufzukommen.

Die Berufung wurde mit Berufungsvorentscheidung als unbegründet abgewiesen. Laut vorliegendem Datenauszug der Sozialversicherung sei die Bw. neben anderen Beschäftigungsverhältnissen in der Zeit vom bis bei Dr. D. und vom bis bei Dr. R. beschäftigt gewesen, habe 11 Monate Kinder bei X. betreut und sei vom bis bei der Firma A. als Fachkraft tätig gewesen.

Da die Bw. mehrere Jahre hindurch im Stande gewesen sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, könnten vor allem die angeführten Beschäftigungsverhältnisse nicht als Arbeitseingliederungsversuche gewertet werden. Die Arbeitsbestätigungen würden belegen, dass die Tätigkeiten als Kinderbetreuerin und als Fachkraft als normale Beschäftigungen entsprechend entlohnt worden seien.

In weiterer Folge wurde ein Antrag auf Entscheidung der Berufung durch die Abgabenbehörde zweiter Instanz gestellt.

Über die Berufung wurde erwogen:

Die Behörde nahm folgenden Sachverhalt als erwiesen an:

Die 1971 geborene Berufungswerberin (Bw.) leidet an einer bipolaren Störung sowie an einer Borderline Persönlichkeitsstörung.

Im Gutachten des Bundessozialamtes vom wurde der Bw. ein Gesamtgrad der Behinderung von 50% ab bescheinigt und ausdrücklich festgehalten, dass die Bw. voraussichtlich dauernd außerstande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Rechtliche Beurteilung:

§ 6 FLAG, BGBl. 376/1967, idF BGBl. I 68/2001 lautet:

"(1) Anspruch auf Familienbeihilfe haben auch minderjährige Vollwaisen, wenn

a) sie im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,

b) ihnen nicht Unterhalt von ihrem Ehegatten oder ihrem früheren Ehegatten zu leisten ist und

c) für sie keiner anderen Person Familienbeihilfe zu gewähren ist.

(2) Volljährige Vollwaisen haben Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn auf sie die Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a bis c zutreffen und wenn sie

.......

d) wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und sich in keiner Anstaltspflege befinden, oder

.......

(5) Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3)."

Für erheblich behinderte Kinder wird gemäß § 8 Abs. 4 FLAG 1967 erhöhte Familienbeihilfe gewährt.

§ 8 Abs. 6 leg. cit. idF BGBl. I 105/2002 ordnet an:

"Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Die diesbezüglichen Kosten sind aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu ersetzen."

Mit dieser Bestimmung wurde nicht nur die Rechtslage hinsichtlich des Nachweises des Grades der Behinderung neu geregelt, sondern dieses Verfahren auch auf die Frage der Selbsterhaltungsfähigkeit erstreckt (vgl. ).

Die derzeit geltende Fassung ist mit der Novelle BGBl. I 105/2002 eingeführt worden. In den Materialien (RV 1136 BlgNR 21. GP) heißt es dazu:

"...... Der vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, dass die Untersuchungen nunmehr ausnahmslos durch das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen - einschließlich durch deren Mobile Dienste - durchzuführen und ärztliche Sachverständigengutachten zu erstellen sind, da das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen über langjährige praktische Erfahrungen bei der Anwendung der angesprochenen Richtsatzverordnung verfügt und sohin eine bundesweit einheitliche Vollziehung gewährleisten kann. Diese Maßnahme lässt auch mehr Effizienz bei den administrativen Abläufen erwarten, wobei auf die angespannte Personalsituation in den Beihilfenstellen der Finanzämter hinzuweisen ist."

In der oben zitierten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vertrat dieser die Ansicht, aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 8 Abs. 6 FLAG ergebe sich, dass der Gesetzgeber nicht nur die Frage des Grades der Behinderung, sondern (seit 1994) auch die (damit ja in der Regel unmittelbar zusammenhängende) Frage der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, der eigenständigen Beurteilung der Familienbeihilfenbehörden entzogen und dafür ein qualifiziertes Nachweisverfahren eingeführt habe, bei dem eine für diese Aufgabenstellung besonders geeignete Institution eingeschaltet werde und der ärztliche Sachverstand die ausschlaggebende Rolle spiele. Dem dürfte die Überlegung zugrunde liegen, dass die Frage, ob eine behinderte Person voraussichtlich dauernd außerstande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, nicht schematisch an Hand eines in einem bestimmten Zeitraum erzielten Einkommens, sondern nur unter Berücksichtigung von Art und Grad der Behinderung bzw. der medizinischen Gesamtsituation der betroffenen Person beurteilt werden könne. Damit könne auch berücksichtigt werden, dass gerade von behinderten Personen immer wieder - oft mehrmals - Versuche unternommen würden, sich in das Erwerbsleben einzugliedern, bei denen jedoch die hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass sie aus medizinischen Gründen auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt sein werden. Der Gesetzgeber habe daher mit gutem Grund die Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit jener Institution übertragen, die auch zur Beurteilung des Behinderungsgrades berufen sei. Die Beihilfenbehörden hätten bei ihrer Entscheidung jedenfalls von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und könnten von ihr nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung abgehen.

Da im vorliegenden Fall vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen mit Gutachten vom neben einem Gesamtgrad der Behinderung von 50% bescheinigt wurde, dass die Bw. voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, war der Berufung daher in Anbetracht der obigen Ausführungen stattzugeben und der angefochtene Bescheid aufzuheben.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
FLAG
Finanzstrafrecht Verfahrensrecht
betroffene Normen
Schlagworte
Beginn der Erkrankung
dauernd außerstande
Selbsterhaltungsfähigkeit
Gutachten
Verweise
Zitiert/besprochen in
UFSjournal 2009, 22

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at