OGH vom 05.05.2010, 1Ob63/10m (1Ob78/10t)
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden und die Hofräte Univ. Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau, Dr. Grohmann und Dr. E. Solé als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. Lukas Arno S 2. Shaima Emmanuel S 3. Faye Saphira S*****, und 4. Muriel Pauline S*****, über die Revisionsrekurse der Mutter Barbara S*****, vertreten durch Dr. Manfred Schiffner, Mag. Werner Diebald und Mag. Kuno Krommer, Rechtsanwälte in Köflach, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom , GZ 1 R 36/10m 110, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Deutschlandsberg vom , GZ 1 PS 131/09m 64, bestätigt wurde, und gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom , GZ 1 R 106/10f 122, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Deutschlandsberg vom , GZ 1 PS 131/09m 88, abgeändert wurde, den
B e s c h l u s s
gefasst:
Spruch
1. Die Anträge, den Revisionsrekursen aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, werden zurückgewiesen.
2. Beide außerordentliche Revisionsrekurse werden mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
3. Die Anträge auf Zuspruch der Kosten der Revisionsrekurse werden zurückgewiesen.
Text
B e g r ü n d u n g :
Die Eltern lebten mit den vier (mit Ausnahme des ältesten gemeinsamen) Kindern im gemeinsamen Haushalt. Die drei älteren Kinder sind seit bei Pflegeeltern untergebracht. Mit Beschluss vom wurde den Eltern die Obsorge für das jüngste, am geborene Kind im Bereich medizinische (Heil )Behandlung, Bestimmung des Aufenthalts, je einschließlich der gesetzlichen Vertretung entzogen und dem Land Steiermark als Jugendwohlfahrtsträger übertragen. Begründung war, dass die Eltern notwendige therapeutische, schulmedizinische Maßnahmen (Impfungen etc) für die Minderjährige, die bereits im ersten Lebensjahr zweimal aufgrund einer schweren Lungenentzündung auf der Intensivstation eines Landeskrankenhauses behandelt werden musste, ablehnten. Nach dem zweiten Krankenhausaufenthalt wurde das Kind am auf einem Pflegeplatz untergebracht. Die Eltern betreiben eine Internetseite, auf der sie im Menüpunkt „Korrespondenz“ wesentliche Bestandteile des Pflegschaftsakts (gerichtliche Beschlüsse, Krankengeschichten, Sachverständigengutachten) darstellen.
In seinem Beschluss vom verpflichtete das Erstgericht die Eltern nach § 140 Abs 3 AußStrG zur Geheimhaltung bestimmter Tatsachen über das Privat und Intimleben der Minderjährigen, insbesondere über ihren physischen und psychischen Gesundheitszustand und ihre aktuellen Lebensumstände, von denen die Eltern ausschließlich durch das gegenständliche Pflegschaftsverfahren Kenntnis erlangt hätten oder noch erlangen würden.
Aufgrund des Antrags der Eltern vom (ON 86) erließ das Erstgericht am eine vorläufige Maßnahme, mit der im Teilbereich „Zustimmung zu Impfungen“ ausgenommen die Behandlung von akuten Erkrankungen die Obsorge für das jüngste Kind wieder an die Eltern rückübertragen wurde.
Das Rekursgericht bestätigte den ersten Beschluss. Der zweite Beschluss wurde unter gleichzeitiger Abweisung des Antrags der Eltern ersatzlos behoben.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen diese Entscheidungen gerichteten außerordentlichen Revisionsrekurse der Mutter sind nicht zulässig.
1. Das Erstgericht hat seinen Beschlüssen jeweils vorläufige Verbindlichkeit nach § 44 Abs 1 AußStrG zuerkannt. Die Mutter beantragt nun, ihren Revisionsrekursen aufschiebende Wirkung bis zur Enderledigung zuzuerkennen. Damit übersieht sie im zweiten Fall zunächst, dass das Rekursgericht den Ausspruch über die vorläufige Wirksamkeit nicht behoben hat und diese daher weiter fortwirkt ( Fucik/Kloiber § 44 AußStrG Rz 6 f). Hier ist die Mutter daher nicht beschwert, was den Antrag auf aufschiebende Wirkung des Revisionsrekurses überflüssig macht. Jedenfalls aber sind im Rechtsmittelverfahren Anträge im Zusammenhang mit der vorläufigen Verbindlichkeit oder Vollstreckbarkeit von Beschlüssen als nicht zulässig zurückzuweisen (RIS Justiz RS0122828).
2.1. Nach § 140 Abs 2 AußStrG dürfen Mitteilungen über Umstände des Privat und Familienlebens, an deren Geheimhaltung ein begründetes Interesse einer Partei oder eines Dritten besteht, soweit deren Kenntnis ausschließlich durch das Verfahren vermittelt wurde, nicht veröffentlicht werden. Soweit es das Wohl eines Minderjährigen verlangt, hat das Gericht Personen zur Geheimhaltung bestimmter Tatsachen, von denen sie ausschließlich durch das Verfahren Kenntnis erlangt haben, zu verpflichten (Abs 3 Satz 1 leg cit). Diese Bestimmungen entsprechen § 182d AußStrG idF des Kindschaftsrechts Änderungsgesetzes 2001 (KindRÄG 2001), der vor der Kenntnis von bestimmten Informationen durch dritte, verfahrensfremde Personen schützen soll (7 Ob 217/03t = SZ 2003/122). Umfang und Zielsetzung der Geheimhaltungspflicht sind damit klar definiert. Es begründet daher entgegen der Auffassung der Revisionsrekurswerberin keine erhebliche Rechtsfrage, dass zu den Bestimmungen des § 140 Abs 2 und 3 AußStrG, die der Vorgängerbestimmung des § 182d AußStrG idF KindRÄG 2001 entsprechen, noch keine höchstgerichtliche Judikatur besteht (RIS Justiz RS0042656), zumal die Frage der Geheimhaltung im Interesse des Wohls des betroffenen Minderjährigen unter Bedachtnahme auf alle konkreten Umstände des Einzelfalls zu lösen ist ( Fucik/Kloiber aaO 424). Die Auffassung des Rekursgerichts, die Interessen der Kinder seien durch die Darstellung unter anderem ihres physischen und psychischen Gesundheitszustands im „world wide web“ gefährdet, ist nicht korrekturbedürftig. Der Beschluss beschränkt sich gesetzeskonform ausschließlich auf jene Informationen, welche die Eltern aus dem Verfahren erhalten haben. Wieso dies bei der Veröffentlichung von Beschlüssen und Anträgen nicht der Fall sein sollte, kann der Revisionsrekurs nicht erklären. Titel des § 140 AußStrG ist der „Schutz des Privat- und Familienlebens“. Ist eine Geheimhaltungsanordnung iSd Abs 3 leg cit zur Wahrung der Interessen des betroffenen Minderjährigen notwendig, so ist sie unter dem Gesichtspunkt des Art 8 Abs 2 EMRK zu rechtfertigen, so wie jede Entscheidung, die auf einer wohlverstandenen Abwägung des Kindeswohls beruht (RIS Justiz RS0102064 [T1]). Die im Revisionsrekurs geforderte, auf Art 6 EMRK gestützte Möglichkeit der Eltern, zwecks Prozessvorbereitung und Prozessstoffsammlung möglichst viele Informationen über alternative Heilmethoden zu erhalten, wird zweifellos nicht nur durch die Veröffentlichung detaillierter Bestandteile des Pflegschaftsakts im Internet gewährleistet, weshalb ein Verstoß gegen das Prinzip des „fair trial“ nicht vorliegt.
2.2. Einstweilige Verfügungen im Rahmen eines Obsorgeverfahrens sind nur bei einer akuten und konkreten Gefährdung des Kindeswohls durch Beibehaltung der bisherigen Situation zulässig (RIS Justiz RS0007035; 1 Ob 265/00b). Ob die Voraussetzungen für vorläufige Obsorgeregelungen vorliegen, ist grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls abhängig (6 Ob 124/08s = RIS Justiz RS0007009 [T4]). Die Entziehung der dem Jugendwohlfahrtsträger (auch) im Teilbereich „Zustimmung zu Impfungen“ zustehenden Obsorge würde voraussetzen, dass der Jugendwohlfahrtsträger durch sein Gesamtverhalten schutzwürdige Interessen der betroffenen Minderjährigen ernstlich und konkret gefährdet (7 Ob 253/01h). Ein derartiges, eine akute und konkrete Gefährdung des Kindeswohls mit sich bringendes Verhalten ist hier nicht mit einer derartigen Sicherheit anzunehmen, dass eine Veränderung der bestehenden Obsorgeregelung gerechtfertigt wäre. Es handelt sich um unterschiedliche Auffassungen, soweit es die medizinische Behandlung der Minderjährigen betrifft. Die Eltern stehen einer schulmedizinischen Behandlung des Kindes und damit auch der Einhaltung des Impfplans ablehnend gegenüber, während der Jugendwohlfahrtsträger sich an den ärztlichen Empfehlungen orientiert, die von den behandelnden Ärzten einer Universitätsklinik unter Berücksichtigung der besonderen Situation der Minderjährigen erstellt wurden (ON 99, 100). Den Eltern wurde es einerseits freigestellt, in die übermittelten Unterlagen der Klinik Einsicht zu nehmen, weiters wurden ärztliche Stellungnahmen auch zugestellt (ON 101), weshalb der Vorwurf der Revisionsrekurswerberin in Bezug auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ungerechtfertigt ist. Die im Rechtsmittel vermisste - Einholung eines Sachverständigengutachtens widerspricht dem Charakter eines möglichst rasch und ohne Verzögerung durchzuführenden Provisorialverfahrens (RIS Justiz RS0104363). Die im Antrag der Eltern geäußerte Befürchtung zur beabsichtigten Impfung gegen die „Schweinegrippe“, ist durch den Akteninhalt insoweit entkräftet, als zu dieser Impfung ausdrücklich keine Zustimmung erteilt wurde (AS 213/II).
2.3. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).
3. Die Entscheidung über die Kosten dieses Revisionsrekursverfahrens gründet sich auf § 107 Abs 3 AußStrG, der einen Kostenersatz im Obsorgeverfahren ausdrücklich ausschließt.