Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 17.01.2023, RV/7103475/2018

Wiederaufnahmeantrag - Kenntnisstand des Antragstellers ist relevant Behinderung - Bindung an Gutachten des Sozialministeriumservice - keine Rückwirkung Kosten der krankheitsbedingten Unterbringung in einem Altersheim

Beachte

Revision beim VwGH anhängig zur Zahl Ra 2023/13/0025. Zurückweisung mit Beschluss vom 31.1.2024.

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht erkennt durch seinen Richter Dr. Alexander Hajicek über die Beschwerden
1. vom 7.8.2017 sowie 2. vom 31.1.2017
des mittlerweile am **.**.**** verstorbenen E**** H****, Steuernummer **-***/****, nunmehr der I**** H**** als Erbin nach E**** H****, [Adresse], beide vertreten durch Dr. Rebekka Stern, 1030 Wien, Hintere Zollamtsstraße 15/1/30,
gegen die Bescheide des Finanzamtes Wien 9/18/19 Klosterneuburg
1. vom 4.7.2017 betreffend die Abweisung eines Antrages vom 2.2.2017 auf Wiederaufnahme der Verfahren hinsichtlich Einkommensteuer für die Jahre 2012 bis 2014 sowie
2. vom 20.1.2017 betreffend Einkommensteuer für das Jahr 2015
zu Recht:

Die Beschwerde betreffend die Abweisung eines Antrages auf Wiederaufnahme der Verfahren hinsichtlich Einkommensteuer für die Jahre 2012 bis 2014 wird als unbegründet abgewiesen.

Die angefochtenen Bescheide betreffend die Abweisung eines Antrages auf Wiederaufnahme der Verfahren hinsichtlich Einkommensteuer für die Jahre 2012 bis 2014 bleiben unverändert.

Der Beschwerde betreffend Einkommensteuer für das Jahr 2015 wird teilweise Folge gegeben.

Der Bescheid betreffend Einkommensteuer für das Jahr 2015 wird abgeändert.

Die Bemessungsgrundlage und die Höhe der Abgabe betreffend Einkommensteuer für das Jahr 2015 sind dem den als Beilage angeschlossenen Berechnungsblatt zu entnehmen und bilden einen Bestandteil des Spruches dieses Erkenntnisses.

Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art 133 Abs 4 BVG ist nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Der am **.**.1931 geborene und mittlerweile verstorbene E**** H**** (idF Beschwerdeführer) beantragte mit Schreiben vom 2.2.2017 durch seine steuerliche Vertreterin die Wiederaufnahme der Verfahren betreffend Einkommensteuer für die Jahre 2012 bis 2014 und legte für diese Jahre berichtigte Aufstellungen betreffend außergewöhnliche Belastungen samt Belegen sowie eine ärztliche Bescheinigung vom 27.9.2016 vor.

Dieser Wiederaufnahmeantrag lautet:
"Sehr geehrte Damen und Herren!
Im Auftrag und Vollmachtsnamen rubr. Mandanten wird innerhalb offener Frist betreffend die Einkommensteuerveranlagungen 2012 vom 12.2.2014, 2013 vom 25.8.2014 und 2014 vom 24.8.2015 der

Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 303 BAO

gestellt und dieser wie folgt begründet:
Der Antrag stützt sich auf neu hervorgekommene Tatsachen bzw Beweise, die bei der Einkommensteuerfestsetzung 2012, 2013 und 2014 nicht geltend gemacht wurden und deren Kenntnis zu einer niedrigeren Steuer für den Betrachtungszeitraum geführt hätte.
Rubr. Mandant lebt seit dem Kalenderjahr 2012 in einem Pflegeheim. Nach zahlreichen vorangegangenen Operationen samt Implantaten (in beiden Knien, Hüftprothese, Bandscheibenprothese) sowie eine Vielzahl von Gesundheitsbeeinträchtigungen wie Aortenstenose, Coxarthrose, Diabetes mellitus, Thymektomie, Beinödeme und vieles mehr war dem Klienten der Verbleib in der eigenen Wohnung nicht mehr möglich zumal seine Gattin, geschwächt durch mehrere Operationen den Haushalt nicht mehr aufrecht erhalten konnte. Kurz nach der Übersiedlung in das Pflegeheim
***** wurde dem Klienten im AKH ein Aortenklappenersatz implantiert.
Gemäß § 34 iVm
§ 35 EStG 1988 können behinderte Steuerpflichtige bzw Steuerpflichtige, die aus Krankheitsgründen in einem Pflegeheim untergebracht sind, die dadurch entstandenen Kosten ohne Selbstbehalt als außergewöhnliche Belastung steuerlich geltend machen. In den Kalenderjahren 2012, 2013 und 2014 wurde im Zuge der Veranlagung regelmäßig ein Selbstbehalt in Abzug gebracht.
Zusätzlich zu den beantragten außergewöhnlichen Belastungen sind im Zeitraum 2012, 2013 und 2014 Pflegeheim- und Apothekerkosten angefallen, die hiermit beantragt werden. Diesbezügliche Belegnachweise sowie Kostenaufstellungen finden sich als Beilage.
Im Sinne der Rechtsrichtigkeit stelle ich im Auftrag und Vollmachtsnamen rubr. Mandanten den Antrag, die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2012, 2013 und 2014 unter steuermindernder Berücksichtigung der gesamten beantragten außergewöhnlichen Belastungen abzuändern. In eventu rege ich eine amtswegige Wiederaufnahme an.
Ich ersuche um eine positive Erledigung meines Antrages auf Wiederaufnahme des Verfahrens, stehe für Rückfragen gerne zu Ihrer Verfügung und zeichne
mit vorzüglicher Hochachtung [...]
Beilagen:
- Beilage zur Einkommensteuererklärung für 2012 - außergewöhnliche Belastungen berichtigt samt Belege
- Beilage zur Arbeitnehmerlnnenveranlagung 2013- außergewöhnliche Belastungen
berichtigt samt Belege
- Beilage zur Arbeitnehmerlnnenveranlagung 2014 - außergewöhnliche Belastungen
berichtigt samt Belege
- Steuervollmacht
- ärztliche Bescheinigung"

Die diesem Wiederaufnahmeantrag angeschlossene ärztliche Bescheinigung, ein Schreiben des Facharztes für Innere Medizin Dr. R**** A**** (*****-Klinik), vom 27.9.2016 lautet:
"Auch Herrn E**** H**** betreue ich seit mittlerweile 16 Jahren in allen internistischen Belangen.
Bei dem Patienten agravierend kam hinzu, dass vor ca. 13 Jahren eine Myasthenia gravis auftrat, die bezogen auf die muskuläre Situation des Patienten eine deutliche Verschlechterung ergab. Weiters besteht eine hochgradige coronare Herzkrankheit mit Z. n. Bypass-Operation sowie ein Z. n. Aortenklappenersatzoperation 2012. Ebenfalls wesentlich sind mehrfache Bandscheibenoperationen, die den Patienten nachhaltig belasten.
Aus eben diesen Gründen erfolgte gemeinsam mit der Ehefrau die Überstellung im Jahr 2012 in das Seniorenpflegeheim
*****, wo eine weitere internistische Betreuung durch mich gewährleistet ist."

Mit Ergänzungsersuchen vom 28.4.2017 forderte das Finanzamt den Beschwerdeführer auf, Folgendes nachzureichen:
- Feststellungsbescheid bzgl. Behinderung
- Bestätigung der Apothekenkosten für das Jahr 2012 u. 2015
- Nachweis d. Pflegeheimkosten sowie der Krankenhauskosten für das Jahr 2015
- Verordnung u. Rechnung hinsichtlich der Kurkosten betr. den Zeitraum 2015

In seiner Vorhaltsbeantwortung vom 31.5.2017 legte der Beschwerdeführer durch seine steuerliche Vertreterin Belege für Apothekerkosten 2012 und 2015 sowie für Pflegeheim-, Krankenhaus- und Kurkosten 2015 vor. Weiters übermittelte er ein Sachverständigungsgutachten des Sozialministeriumservice Wien vom 12.5.2016.
Diesem Gutachten ist ua zu entnehmen:


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Lfd.
Nr
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos. Nr.
GdB %
1
Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Zustand nach Teilversteifung der Lendenwirbelsäule, Zustand nach Bandscheibenoperation mit Diskusersatz C3/C4 und C4/C5
Oberer Rahmensatz, da zwar kein radikuläres Defizit, jedoch deutlich eingeschränkte Beweglichkeit der HWS und LWS.
02.01.02
40%
2
Degenerative Gelenkserkrankungen
Unterer Rahmensatz, da bei totalem Hüftgelenksersatz rechts und Kniegelenksersatz beidseits sowie Abnützungserscheinungen der linken Schulter jeweils mäßig eingeschränkte Beweglichkeit.
02.02.02
30%
3
Zustand nach Aortenklappenersatz
Fixer Richtsatzwert.
05.06.04
30%
4
Koronare Herzkrankheit, Zustand nach Operation einer Eingefäßerkrankung
Unterer Rahmensatz, da kein Hinweis für kardiale Dekompensation, Belastbarkeit geringgradig eingeschränkt.
05.05.02
30%
5
Diabetes mellitus, nicht insulinpflichtig
1 Stufe über dem unteren Rahmensatz, da Diät und medikametöse Therapie für ausgeglichene Stoffwechsellage erforderlich.
09.02.01
20%
6
Myasthenia gravis
1 Stufe über dem unteren Rahmensatz, da geringgradige Funktionseinschränkungen, unter medikamentöser Therapie stabil.
04.07.01
20%

Gesamtgrad der Behinderung 60%

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Leiden 1 wird durch Leiden 2 um eine Stufe erhöht, da eine ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung vorliegt.
Leiden 3 und 4 erhöhen gemeinsam, da eine relevante Zusatzbehinderung aufgrund des Leidensumfangs gegeben ist. Leiden 5 erhöht nicht, da kein ungünstiges Zusammenwirken.
Leiden 6 erhöht nicht, da die ungünstige Auswirkung auf das führende Leiden nicht in einem Ausmaß gegeben ist, dass eine weitere Erhöhung gerechtfertigt wäre.
[...]
Dauerzustand
[...]
Folgende Gesundheitsschädigungen im Sinne von Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung liegen vor, wegen:
Tuberkulose, Zuckerkrankheit, Zöliakie, Aids oder eine vergleichbare schwere Stoffwechselerkrankung nach Pos. 09.03. GdB: 20
Aussagen über eine rückwirkende Feststellung der Tatsache der Behinderung bzw des Grades der Behinderung enthält das Gutachten nicht.

Mit den angefochtenen Bescheiden vom 4.7.2017 betreffend die Jahre 2012 bis 2014 wies das Finanzamt den Wiederaufnahmeantrag ab und führte zur Begründung jeweils aus, aus dem klaren Wortlaut des § 303 Abs 1 lit b iVm Abs 2 lit b BAO sei abzuleiten, dass bei einem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens das Neuhervorkommen von Tatsachen aus der Sicht des Antragstellers zu beurteilen sei. Da das Wissen über (selbst) verwirklichte Sachverhalte beim Abgabepflichtigen in der Regel anzunehmen sei, folge daraus, dass Wiederaufnahmeanträge bei Geltendmachung neu hervorgekommener Tatsachen aus Rechtsgründen abzuweisen seien, weil die tatbestandsmäßige Voraussetzung der fehlenden Kenntnis von den Wiederaufnahmegründen beim Antragsteller nicht gegeben sei.

Im angefochtenen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2015 berücksichtigte das Finanzamt unter Verweis auf den sich aus dem Einkommen ergebenden maximalen Selbstbehalt des Beschwerdeführers von € 4.439,11 außergewöhnliche Belastungen von € 2.669,69 unter Ansatz eines Selbstbehaltes in gleicher Höhe.

In seiner Beschwerde gegen die Bescheide betreffend die Jahre 2012 bis 2014 wendete der Beschwerdeführer durch seine steuerliche Vertreterin zusammengefasst ein, eine Wiederaufnahme setze voraus, dass die Kenntnis der geltend gemachten Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte. Für die Frage des Neuhervorkommens sei der Kenntnisstand der Abgabenbehörde maßgebend, nicht jedoch, ob im Zeitpunkt des abgeschlossenen Verfahrens diese Umstände der Partei bekannt gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe in den betreffenden Jahren außergewöhnliche Belastungen geltend gemacht, welche durch Ansatz eines Selbstbehaltes durch die Finanzbehörde zu Unrecht steuerlich unwirksam geworden seien. Zusätzlich habe der Beschwerdeführer nachträglich noch weitere außergewöhnliche Belastungen geltend gemacht. Belegnachweise sowie Kostenaufstellungen seien dem Antrag beigelegt worden. Da der Beschwerdeführer entscheidungswesentliche Sachverhaltselemente vorgebracht habe, die den Spruch der Bescheide 2012, 2013 und 2014 beeinflussten und kein grobes Verschulden der Partei vorliege, stehe der Bewilligung der Wiederaufnahme nichts entgegen.

In seiner Beschwerde gegen den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2015 wendete sich der Beschwerdeführer durch seine steuerliche Vertreterin unter Verweis auf seine körperliche Behinderung gegen den vom Finanzamt zum Ansatz gebrachten Selbstbehalt. Wegen zahlreicher Operationen mit nachhaltigen Folgen sei er genötigt gewesen, in ein Pflegeheim zu gehen. Bei Krankheitsgründen bzw Behinderung kommt kein Selbstbehalt zur Anwendung.
Als Beilage angeschlossen war nochmals das Schreiben des Dr. R**** A**** vom 27.9.2016. Weiters angeschlossen war eine Kostenaufstellung über die Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen für das Kalenderjahr 2015. Zusätzlich zur ursprünglichen Erklärung wurden noch Pflegeheim- und Apothekerkosten geltend gemacht:


Tabelle in neuem Fenster öffnen
PflegeheimkostenKuratorium ***** It. Bestätigung
2.337,04
Apothekerkosten***** Apotheke It. Bestätigung
2.605,30
Krankenhauskosten*****-Klinik
340,89
KurkostenMoorheilbad B****
1.883,58
ArztkostenDr. U****
36,22
SUMME
7.203,07

Da der Beschwerdeführer mit seiner ebenfalls behinderten Ehefrau im Pflegeheim wohne, sei die Haushaltsersparnis für das Kalenderjahr 2015 bei der Ehefrau berücksichtigt worden, sodass eine Berücksichtigung beim Beschwerdeführer entfalle.

Das Finanzamt erließ zunächst mit Datum vom 9.10.2017 für die Jahre 2012 bis 2014 als Beschwerdevorentscheidungen unveränderte Einkommensteuerbescheide.

Mit Aufhebungsbescheid gemäß § 299 BAO vom 15.1.2018 hob das Finanzamt diese Beschwerdevorentscheidungen vom 9.10.2017 wieder auf. Da über die Beschwerden vom 7.8.2017 gegen die Abweisungsbescheide vom 4.7.2017 nicht materiellrechtlich, sondern lediglich verfahrensrechtlich abzusprechen sei, habe sich der Spruch der Bescheide vom 9.10.2017 als unrichtig erwiesen. Gemäß § 264 Abs 7 BAO scheide der gegen diese Beschwerdevorentscheidungen gerichtete Vorlageantrag vom 6.11.2017 durch die Aufhebung einer Beschwerdevorentscheidung aus dem Rechtsbestand ex lege aus.

Mit Datum vom 18.1.2018 erließ das Finanzamt neuerlich Beschwerdevorentscheidungen für die Jahre 2012 bis 2014, mit welchen es, im Wesentlichen unter Wiederholung der Begründung der angefochtenen Bescheide und unter Hinweis auf das Erkenntnis des VwGH vom 19.10.2016, Ra 2014/15/0058, die Beschwerde als unbegründet abwies.

In dem gegen diese Beschwerdevorentscheidung gerichteten Vorlageantrag vom 23.2.2018 brachte der Beschwerdeführer durch seine steuerliche Vertreterin zusammengefasst vor, maßgebend für die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 303 BAO seien:
- Tatsachen oder Beweismittel, die neu hervorkommen,
- dass der Sachverhalt der Abgabenbehörde nicht bekannt gewesen sei,
- der Sachverhalt einen im Spruch anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätte und
- dass die Änderung nicht geringfügig sondern wesentlich sei.
Alle genannten Voraussetzungen seien erfüllt.
Stütze sich ein Gutachten auf Tatsachen, die "neu hervorgekommen" seien, so kämen diese Tatsachen als Wiederaufnahmegründe in Betracht (vgl Ritz BAO6, § 303 Rz 27).
Maßgebend sei der Wissensstand der Abgabenbehörde, bezogen auf die Aktenlage im Zeitpunkt der Erlassung des das Verfahren abschließenden Bescheides.
Für die Frage des Neuhervorkommens sei der Kenntnisstand der Abgabenbehörde im jeweiligen Verfahren maßgebend, nicht jedoch, ob diese Umstände im Zeitpunkt des abgeschlossenen Verfahrens der Partei bekannt gewesen seien.
Das obiter dictum des VwGH im Erkenntnis vom 19.10.2016, Ra 2014/15/0058, wonach für die Wiederaufnahme auf Antrag die Sicht des Antragstellers maßgebend sei, beziehe der VwGH auf § 303 Abs 2 lit b BAO.
Nach der Entscheidung des VwGH vom 29.3.2017, Ro 2016/15/0036, sei die Rechtsfrage zur Bedeutung des Kenntnisstandes der Parteien im Erkenntnis vom 19.10.2016, Ra 2014/15/0058, bereits beantwortet. Demnach habe ein Antrag auf Wiederaufnahme - bei Geltendmachung des Wiederaufnahmetatbestandes der neu hervorgekommenen Tatsachen - insbesondere die Behauptung zu enthalten, dass Tatsachen oder Beweismittel neu hervorgekommen seien.
Das Finanzamt habe abweichend vom VwGH-Erkenntnis die Beschwerde mit der Begründung abgewiesen, dass es aus dem Erkenntnis vom 19.10.2016, Ra 2014/15/0058, ableite, bei einem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens sei das Neuhervorkommen von Tatsachen aus der Sicht des Antragstellers zu beurteilen, das Wissen über (selbst) verwirklichte Sachverhalte sei beim Abgabepflichtigen in der Regel anzunehmen. Daraus folge, dass Wiederaufnahmeänträge bei Geltendmachung neu hervorgekommener Tatsachen aus Rechtsgründen abzuweisen seien, weil die tatbestandsmäßige Voraussetzung der fehlenden Kenntnis von den Wiederaufnahmegründen beim Antragsteller nicht gegeben sei.
Damit schaffe das Finanzamt die Wiederaufnahme auf Antrag de facto ab. Das Finanzamt habe sich damit in Widerspruch zur Rechtsprechung gesetzt.
Bei entsprechender Berücksichtigung des Zwecks der Wiederaufnahme wegen Neuerungen, nämlich die Berücksichtigung von bisher unbekannten, aber entscheidungswesentlichen Sachverhaltselementen, also Tatsachen/Beweisen, die zwar im Zeitpunkt der Bescheiderlassung im abgeschlossenen Verfahren bereits existierten, aber erst danach hervorgekommen seien, hätten diese tatsächlichen Umstände zu einem wesentlich anderen Ergebnis im Vergleich zu den rechtskräftigen Bescheiden geführt.

Mit Beschwerdevorentscheidung für das Jahr 2015 änderte das Finanzamt den angefochtenen Einkommensteuerbescheid insoweit ab, als es den als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigenden Betrag auf € 3.501,29 erhöhte, jedoch einen Selbstbehalt in gleicher Höhe zum Ansatz brachte. Die festgesetzte Einkommensteuer blieb daher unverändert. In einer gesonderten Bescheidbegründung führe das Finanzamt im Wesentlichen aus, die Tatsache der Behinderung und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) seien durch eine amtliche Bescheinigung der für diese Feststellung zuständigen Stelle nachzuweisen. Das vorliegende Sachverständigengutachten sei erst per 12.5.2016 ausgestellt worden. Eine rückwirkende Feststellung sei grundsätzlich nicht möglich. Da im Jahr 2015 kein Pflegegeld bezogen worden sei und aus dem Gutachten des Sozialministeriumservice keine Pflegebedürftigkeit ersichtlich sei, hätten die Pflegeheimkosten in Höhe von € 2.337,04 folglich auch nicht als außergewöhnliche Belastungen anerkannt werden können.
Nach Durchsicht der übermittelten Unterlagen und stichprobenartiger Recherche bezüglich der beantragten Apothekerkosten von gesamt € 2.605,30 erscheine dem Finanzamt ein Aufteilungsverhältnis dieser Kosten von 40:60 (Präparate für vorbeugende Maßnahmen : Medikamente für krankheitsbedingte Leiden) angemessen - sohin könnten € 1.563,18 als außergewöhnliche Belastungen mit Selbstbehalt geltend gemacht werden.
Die Krankenhauskosten (€ 722,89) sowie die anderen Arztkosten laut eingebrachter Honorare (€ 375,22) würden ebenso als außergewöhnliche Belastung mit Selbstbehalt berücksichtigt.
Die in der Rechnung vom 12.3.2015 als Prophylaxe angeführte zahnmedizinische Leistung entspreche nicht den Voraussetzungen des § 34 Abs 1 EStG. Demnach könnte der Betrag in Höhe von € 70,- nicht geltend gemacht werden.
Zu den Kurkosten (€ 1.883,58) sei zu sagen, dass die erforderliche ärztliche Verordnung nicht vorgelegt worden sei und die Erfordernisse des § 34 Abs 1 EStG daher nicht erfüllt seien.
Für die Massagen sei die Zwangsläufigkeit ebenfalls nicht nachgewiesen worden, weshalb diese in Höhe von € 171,45 auch nicht in Ansatz gebracht werden könnten.
Der pauschale Freibetrag wegen Krankendiätverpflegung hinsichtlich der Zuckerkrankheit sei gewährt worden.

In seinem Vorlageantrag betreffend das Jahr 2015 brachte der Beschwerdeführer durch seine steuerliche Vertreterin vor, die Berücksichtigung der außergewöhnlichen Belastungen sei mit der Begründung abgewiesen worden, dass er im Kalenderjahr 2015 kein Pflegegeld bezogen habe und das Sachverständigengutachten des Sozialministeriumservice Landesstelle Wien erst per 12.5.2016 ausgestellt worden sei.
Aufgrund vorgelegter Krankenhausberichte habe die sachverständige Ärztin eine ausführliche Anamnese durchführen können, welche im Sachverständigengutachten festgehalten sei. Aus der Anamnese sei der lange Leidensweg des Beschwerdeführers klar ersichtlich. Eine Knieprothese in beiden Beinen, in der rechte Hüfte eine Prothese, eine Bandscheibenoperation, Aortenklappenersatz und Bypassoperation. Die ständige Atemnot, die geschwollenen Beine, welche zweimal wöchentlich eine Lympfdrainage notwendig machten, beeinträchtigten den Beschwerdeführer extrem und dies schon viele Jahre. Die Unmöglichkeit der Versorgung aufgrund seiner Erkrankung sei der Anlass für die Entscheidung eines Daueraufenthaltes in einem Pflegeheim gewesen.
Es sei grundsätzlich üblich, im Sachverständigengutachten festzuhalten, seit wann der Gesamtgrad der Behinderung vorliege. Das habe die sachverständige Ärztin offenbar übersehen. Denn dass der Zustand des Beschwerdeführers nicht erst mit dem Tag der Ausstellung des Gutachtens bestehe verstehe sich von selbst und gehe auch klar aus dem Gutachten hervor.
In der Begründung der Beschwerdevorentscheidung werde darauf hingewiesen, dass eine rückwirkende Feststellung der Behinderung nicht möglich sei. Das entspreche nicht der geltenden Rechtslage.
"Ist die Behinderung die Folge eines Ereignisses, gilt der festgestellte Grad der Behinderung für Zwecke der Steuerermäßigung immer rückwirkend bis zum Zeitpunkt des Ereignisses (Unfall, Operation, Spitalsaufenthalt)." Lägen der Behörde entsprechende Befunde vor, könne festgestellt werden, dass der Grad der Behinderung schon ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit vorgelegen habe. Das habe die gutachtenerstellende Ärztin übersehen oder vergessen.
Unabhängig davon sei der Anlass für die Pflegeheimunterbringung des Beschwerdeführers seine sämtlichen Erkrankungen gewesen. Gemäß § 34 EStG stellten die Kosten für die Unterbringung und Verpflegung außergewöhnliche Belastungen dar, wenn Krankheit diese Aufwendungen verursache.
Für die Anerkennung von Krankheitskosten als außergewöhnliche Belastung sei erforderlich, dass nachweislich eine Krankheit vorliege. Unter Krankheit sei eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu verstehen, die eine Heilbehandlung bzw Heilbetreuung erfordere. Die gesundheitliche Beeinträchtigung des Beschwerdeführers sei mehrfach bestätigt und bedinge hohe Apothekerkosten sowie Kosten für Massagen, für Kuren, für Ärzte.
Der Beschwerdeführer erfülle alle Erfordernisse für die vollinhaltliche Anerkennung der beantragten außergewöhnlichen Belastungen ohne Abzug eines Selbstbehaltes. Krankenhausbefunde könnten bei Bedarf nachgereicht werden.

Über die Beschwerden wurde erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den vom Finanzamt vorgelegten Veranlagungsakt, insbesondere die im Verfahrensgang dargestellten Bescheide des Finanzamtes und Schriftsätze des Beschwerdeführers und das Gutachten des Sozialministeriumservice vom 12.5.2016, sowie in den elektronischen Akt des Finanzamtes, insbesondere das Abgabenkonto des Beschwerdeführers. Danach steht folgender Sachverhalt fest:

Am 12.5.2016 erstellte das Sozialministeriumservice Landesstelle Wien ein Sachverständigengutachten, aus welchem sich ergibt, dass der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt zu 60% behindert war.

Dieses Sachverständigengutachten enthält keine rückwirkenden Aussagen für vorangegangene Zeiträume (Kalenderjahre).

Aus dem Gutachten des Sozialministeriumservice ist keine Pflegebedürftigkeit des Beschwerdeführers ersichtlich.

Der Beschwerdeführer bezog in den Jahren 2012 bis 2015 kein Pflegegeld.

Diese Feststellungen gründen sich auf die angeführten Beweismittel sowie auf folgende Beweiswürdigung:

Die Feststellungen sind unstrittig.

Rechtlich folgt daraus:

Wiederaufnahme:

§ 303 Abs 1 und 2 BAO bestimmt:

(1) Ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren kann auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen wiederaufgenommen werden, wenn
a) der Bescheid durch eine gerichtlich strafbare Tat herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist, oder
b) Tatsachen oder Beweismittel im abgeschlossenen Verfahren neu hervorgekommen sind, oder
c) der Bescheid von Vorfragen (§ 116) abhängig war und nachträglich über die Vorfrage von der Verwaltungsbehörde bzw. dem Gericht in wesentlichen Punkten anders entschieden worden ist,
und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte.

(2) Der Wiederaufnahmsantrag hat zu enthalten:
a) die Bezeichnung des Verfahrens, dessen Wiederaufnahme beantragt wird;
b) die Bezeichnung der Umstände (Abs. 1), auf die der Antrag gestützt wird.

Welche gesetzlichen Wiederaufnahmegründe durch einen konkreten Sachverhalt als verwirklicht angesehen und daher als solche herangezogen werden sollen, bestimmt bei der Wiederaufnahme auf Antrag die betreffende Partei durch das Vorbringen im Wiederaufnahmeantrag (VwGH 7.11.2022, Ra 2021/15/0073 mwN).

Der Wiederaufnahmeantrag des Beschwerdeführers stützt sich auf neu hervorgekommene Tatsachen bzw Beweismittel iSd § 303 Abs 1 lit b BAO.
Aus den Ausführungen im Wiederaufnahmeantrag ist in Verbindung mit den als Beilage zu diesem Antrag angeschlossenen berichtigten Beilagen zu den Einkommensteuererklärungen - außergewöhnliche Belastungen samt Belegen und dem ärztlichen Schreiben vom 27.9.2016 als angeführter Wiederaufnahmegrund der schlechte Gesundheitszustand des Beschwerdeführers in den Streitjahren und eine daraus resultierende Behinderung samt den daraus erwachsenen Aufwendungen für Pflegeheim- und Apothekenkosten erkennbar.

Das Finanzamt hat den Wiederaufnahmeantrag im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, dass bei einem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens das Neuhervorkommen von Tatsachen aus der Sicht des Antragstellers zu beurteilen sei. Da das Wissen über (selbst) verwirklichte Sachverhalte beim Abgabepflichtigen in der Regel anzunehmen sei, folge daraus, dass Wiederaufnahmeanträge bei Geltendmachung neu hervorgekommener Tatsachen aus Rechtsgründen abzuweisen seien, weil die tatbestandsmäßige Voraussetzung der fehlenden Kenntnis von den Wiederaufnahmegründen beim Antragsteller nicht gegeben sei.

Nur neu hervorgekommene Tatsachen oder Beweismittel - das sind solche, die schon vor Erlassung des das wiederaufzunehmende Verfahren abschließenden Bescheides bestanden haben, aber erst nach diesem Zeitpunkt bekannt wurden (nova reperta) - kommen als tauglicher Wiederaufnahmsgrund iS des Neuerungstatbestandes (§ 303 Abs 1 lit b) in Betracht. Erst nach Erlassung des das wiederaufzunehmende Verfahren abschließenden Bescheides entstandene Tatsachen oder Beweismittel (nova producta) sind keine Wiederaufnahmsgründe (zB Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3 § 303 Anm 14).

Ein nach Rechtskraft erstelltes Sachverständigengutachten ist kein "neu hervorgekommenes" Beweismittel. Stützt es sich auf Tatsachen, die "neu hervorgekommen" sind, so kommen diese Tatsachen als Wiederaufnahmsgründe in Betracht (Ritz/Koran, BAO7, § 303 Tz 26 mwN).

Nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat ein Antrag auf Wiederaufnahme - bei Geltendmachung des Wiederaufnahmetatbestandes der neu hervorgekommenen Tatsachen - insbesondere die Behauptung zu enthalten, dass Tatsachen oder Beweismittel für den Steuerpflichtigen "neu hervorgekommen sind". Aus dem insoweit klaren Wortlaut des § 303 Abs 1 lit b iVm Abs 2 lit b BAO ist somit abzuleiten, dass bei einem derartigen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens das Neuhervorkommen von Tatsachen aus der Sicht der antragstellenden Person zu beurteilen ist.
Tatsachen, die dem Antragsteller schon immer bekannt gewesen sind, deren steuerliche Berücksichtigung er aber unterlassen hat, eröffnen ihm daher keinen Antrag auf Wiederaufnahme. Die Kenntnis eines Rechtsvertreters ist dabei der antragstellenden Person zuzurechnen (zB VwGH 29.9.2022, Ro 2022/15/0011 mwN).

Dem Beschwerdeführer waren die im Wiederaufnahmeantrag angeführten Umstände, nämlich sein Gesundheitszustand und die daraus resultierenden Aufwendungen bereits im Zeitpunkt der Erlassung der ursprünglichen Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2012 bis 2014 bekannt. Es handelt sich somit bei diesen Umständen nicht um neue Tatsachen.
Das nach Rechtskraft erstellte Sachverständigengutachten ist kein neu hervorgekommenes Beweismittel. Soweit es sich auf den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers in den Jahren 2012 bis 2014 stützt, sind diese Tatsachen nicht neu hervorgekommen. Soweit es sich auf den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers im Jahr 2016 bezieht, ist dieser für die Jahre 2012 bis 2014 nicht entscheidend.

Der Kenntnisstand des Finanzamtes spielt für die Beurteilung der Streitfrage hingegen keine Rolle.

Die Beschwerde gegen die Abweisung des Wiederaufnahmeantrages erweist sich somit als unbegründet.

Behinderung:

§ 34 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung bestimmte:

(1) Bei der Ermittlung des Einkommens (§ 2 Abs. 2) eines unbeschränkt Steuerpflichtigen sind nach Abzug der Sonderausgaben (§ 18) außergewöhnliche Belastungen abzuziehen. Die Belastung muß folgende Voraussetzungen erfüllen:
1. Sie muß außergewöhnlich sein (Abs. 2).
2. Sie muß zwangsläufig erwachsen (Abs. 3).
3. Sie muß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen (Abs. 4).
Die Belastung darf weder Betriebsausgaben, Werbungskosten noch Sonderausgaben sein.

(2) - (3) [...]

(4) Die Belastung beeinträchtigt wesentlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soweit sie einen vom Steuerpflichtigen von seinem Einkommen (§ 2 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 5) vor Abzug der außergewöhnlichen Belastungen zu berechnenden Selbstbehalt übersteigt. Der Selbstbehalt beträgt bei einem Einkommen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
von höchstens 7 300 Euro
6%.
mehr als 7 300 Euro bis 14 600 Euro
8%.
mehr als 14 600 Euro bis 36 400 Euro
10%.
mehr als 36 400 Euro
12%.

Der Selbstbehalt vermindert sich um je einen Prozentpunkt
- wenn dem Steuerpflichtigen der Alleinverdienerabsetzbetrag oder der Alleinerzieherabsetzbetrag zusteht
- wenn dem Steuerpflichtigen kein Alleinverdiener- oder Alleinerzieherabsetzbetrag zusteht, er aber mehr als sechs Monate im Kalenderjahr verheiratet oder eingetragener Partner ist und vom (Ehe-)Partner nicht dauernd getrennt lebt und der (Ehe-)Partner Einkünfte im Sinne des § 33 Abs. 4 Z 1 von höchstens 6 000 Euro jährlich erzielt
- für jedes Kind (§ 106).

(5) Sind im Einkommen sonstige Bezüge im Sinne des § 67 enthalten, dann sind als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit für Zwecke der Berechnung des Selbstbehaltes die zum laufenden Tarif zu versteuernden Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, erhöht um die sonstigen Bezüge gemäß § 67 Abs. 1 und 2, anzusetzen.

(6) Folgende Aufwendungen können ohne Berücksichtigung des Selbstbehaltes abgezogen werden:
- Aufwendungen zur Beseitigung von Katastrophenschäden, insbesondere Hochwasser-, Erdrutsch-, Vermurungs- und Lawinenschäden im Ausmaß der erforderlichen Ersatzbeschaffungskosten.
- Kosten einer auswärtigen Berufsausbildung nach Abs. 8.
- Aufwendungen für die Kinderbetreuung im Sinne des Abs. 9.
- Mehraufwendungen des Steuerpflichtigen für Personen, für die gemäß
§ 8 Abs. 4 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 erhöhte Familienbeihilfe gewährt wird, soweit sie die Summe der pflegebedingten Geldleistungen (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage) übersteigen.
- Aufwendungen im Sinne des § 35, die an Stelle der Pauschbeträge geltend gemacht werden (§ 35 Abs. 5).
- Mehraufwendungen aus dem Titel der Behinderung, wenn die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 vorliegen, soweit sie die Summe pflegebedingter Geldleistungen (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage) übersteigen.

Der Bundesminister für Finanzen kann mit Verordnung festlegen, in welchen Fällen und in welcher Höhe Mehraufwendungen aus dem Titel der Behinderung ohne Anrechnung auf einen Freibetrag nach § 35 Abs. 3 und ohne Anrechnung auf eine pflegebedingte Geldleistung zu berücksichtigen sind.

(7) Für Unterhaltsleistungen gilt folgendes: [...]

(8) - (9) [...]

§ 35 EStG in der für die Streitjahre gültigen Fassung bestimmte:

(1) Hat der Steuerpflichtige außergewöhnliche Belastungen
- durch eine eigene körperliche oder geistige Behinderung,
- bei Anspruch auf den Alleinverdienerabsetzbetrag durch eine Behinderung des (Ehe-)Partners (§ 106 Abs. 3),
- ohne Anspruch auf den Alleinverdienerabsetzbetrag durch eine Behinderung des (Ehe-)Partners, wenn er mehr als sechs Monate im Kalenderjahr verheiratet oder eingetragener Partner ist und vom (Ehe-)Partner nicht dauernd getrennt lebt und der (Ehe-)Partner Einkünfte im Sinne des § 33 Abs. 4 Z 1 von höchstens 6 000 Euro jährlich erzielt,
- durch eine Behinderung eines Kindes (§ 106 Abs. 1 und 2), für das keine erhöhte Familienbeihilfe gemäß
§ 8 Abs. 4 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 gewährt wird,
und erhält weder der Steuerpflichtige noch sein (Ehe-)Partner noch sein Kind eine pflegebedingte Geldleistung (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage), so steht ihm jeweils ein Freibetrag (Abs. 3) zu.

(2) Die Höhe des Freibetrages bestimmt sich nach dem Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) richtet sich in Fällen,
1. in denen Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden, nach der hiefür maßgebenden Einschätzung,
2. in denen keine eigenen gesetzlichen Vorschriften für die Einschätzung bestehen, nach
§ 7 und § 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 bzw. nach der Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010, für die von ihr umfassten Bereiche.

Die Tatsache der Behinderung und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) sind durch eine amtliche Bescheinigung der für diese Feststellung zuständigen Stelle nachzuweisen. Zuständige Stelle ist:
- Der Landeshauptmann bei Empfängern einer Opferrente (
§ 11 Abs. 2 des Opferfürsorgegesetzes, BGBl. Nr. 183/1947).
- Die Sozialversicherungsträger bei Berufskrankheiten oder Berufsunfällen von Arbeitnehmern.
- In allen übrigen Fällen sowie bei Zusammentreffen von Behinderungen verschiedener Art das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen; dieses hat den Grad der Behinderung durch Ausstellung eines Behindertenpasses nach
§§ 40 ff des Bundesbehindertengesetzes, im negativen Fall durch einen in Vollziehung dieser Bestimmungen ergehenden Bescheid zu bescheinigen.

(3) Es wird jährlich gewährt

bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von [...] ein Freibetrag von Euro [...]

(4) - (8) [...]

Der Beschwerdeführer hat sich auf seinen schon in den Jahren vor dem Jahr 2016 vorhanden gewesen schlechten Gesundheitszustand (ua belegt durch das Schreiben des Facharztes für Innere Medizin Dr. R**** A**** (*****-Klinik) vom 27.9.2016) berufen. Er wäre daher schon in den Jahren 2012 bis 2015 behindert gewesen. Daher seien die geltend gemachten außergewöhnlichen Belastungen ohne Selbstbehalt zu berücksichtigen.

Hat der Steuerpflichtige Aufwendungen (außergewöhnliche Belastungen) ua durch eine eigene körperliche oder geistige Behinderung, so stehen ihm die in § 34 Abs 6 EStG und § 35 EStG vorgesehenen steuerlichen Begünstigungen nach Maßgabe der Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen, BGBl Nr 303/1996 idgF, zu.
Die Tatsache der Behinderung und das Ausmaß der Behinderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) sind durch eine amtliche Bescheinigung der für die Feststellung zuständigen Stelle nachzuweisen (LStR 2002 Rz 839).

Die Feststellung, ob und in welchem Ausmaß eine Person behindert ist, ist nicht von der Abgabenbehörde, sondern gemäß § 35 Abs 2 EStG bindend von einer anderen Stelle zu treffen und durch eine amtliche Bescheinigung dieser Stelle nachzuweisen. Zuständig ist idR das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (kurz Sozialministeriumservice). Die Bestätigung eines praktischen Arztes bzw Amtsarztes ist nicht ausreichend. Der amtlichen Bescheinigung kommt eine feststellende, die Abgabenbehörde bindende Wirkung zu. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung eine bindende Beweisregel geschaffen. Dies hat den Vorteil, dass im Abgabenverfahren häufig schwer zu lösende medizinische Streitfragen nicht ausgetragen zu werden brauchen, der Abgabepflichtige den Abgabenbehörden gegenüber aber auch nicht einwenden kann, die in der von ihm vorgelegten amtlichen Bescheinigung enthaltenen Feststellungen träfen nicht zu und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei etwa ein höheres (VwGH 1.9.2015, 2012/15/0197; Althuber/Schimmer in Hofstätter/Reichel, EStG62 § 35 Tz 4; Jakom/Peyerl EStG 2022, § 35 Rz 7; Fuchs in Doralt/Kichchmayr/Mayr/Zorn, EStG20 § 35 Tz 7).

Eine rückwirkende Berücksichtigung der Pauschbeträge nach § 35 Abs 3 EStG und der Beträge nach der Verordnung BGBl 303/1986, die vor dem in der Bescheinigung nach § 35 Abs 2 EStG angegebenen Zeitraum liegen, etwa mit dem Hinweis, die Behinderung habe schon früher bestanden, ist wegen der Bindungswirkung nicht möglich. Die Abgabenbehörde hat ihrer Entscheidung die jeweils vorliegende amtliche Bescheinigung zugrunde zu legen.
Ist die Behinderung Folge eines Ereignisses (zB eines Unfalls, einer Operation oder eines Spitalsaufenthaltes im Zuge einer schweren Erkrankung) und wird die Behinderung vom Sozialministeriumservice rückwirkend festgestellt, gilt der Grad der Behinderung auch für steuerliche Zwecke rückwirkend bis zum Zeitpunkt des Ereignisses (Fuchs in Doralt/Kichchmayr/Mayr/Zorn, EStG20 § 35 Tz 7/1; Jakom/Peyerl EStG 2022, § 35 Rz 7; Althuber/Schimmer in Hofstätter/Reichel, EStG62 § 35 Tz 27; LStR 2002 Rz 839f).
Dies gilt auch für die Berücksichtigung von außergewöhnlichen Belastungen ohne Ansatz des Selbstbehaltes iSd § 34 Abs 6 EStG (LStR 2002 Rz 839).

Das Sozialministeriumservice hat mit Datum vom 12.5.2016 ein Sachverständigengutachten erstellt und dabei einen Behinderungsgrad des Beschwerdeführers von 60% festgestellt.
Rückwirkende Feststellungen über eine Behinderung des Beschwerdeführers in der Vergangenheit enthielt das Sachverständigengutachten nicht.
Die Berücksichtigung einer Behinderung des Beschwerdeführers für Zeiträume vor dem Jahr 2016 ist daher rechtlich wegen der Bindung an die amtliche Bescheinigung nicht möglich.
Die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Aufwendungen können somit nur mit Selbstbehalt berücksichtigt werden.

Die Beschwerde erweist sich damit insoweit als unbegründet.

Pflegeheimkosten:

Der Beschwerdeführer hat für das Jahr 2015 für die Unterbringung und Verpflegung in der Senioren-Wohnanlage ***** Pflegeheimkosten von € 2.337,04 als außergewöhnliche Belastung geltend gemacht.

Die Kosten der Unterbringung und Verpflegung in einem Altersheim, Seniorenheim oder Pflegeheim sind als übliche Kosten der Lebensführung dann keine außergewöhnlichen Belastungen, wenn die Unterbringung nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern "lediglich aus Altersgründen" erfolgt. Unter "Altersgründen" in diesem Sinn ist zu verstehen, dass die üblicherweise mit dem Aufenthalt in der eigenen Wohnung zu verrichtenden Arbeiten altersbedingt zu mühsam werden, sodass der "Hotelkomfort" eines Altersheimes genutzt wird, obwohl der Steuerpflichtige weiter zur Führung eines eigenen Haushaltes in der Lage wäre.
Die mit der Unterbringung in einem Altersheim verbundenen Kosten sind allerdings nur "solange" nicht als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, als mit ihnen nicht auch besondere Aufwendungen abzudecken sind, die durch Krankheit, Pflege- oder Betreuungsbedürftigkeit bedingt sind.
Die mit einer Unterbringung in einem Alters- oder Pflegeheim verbundenen Kosten stellen somit eine außergewöhnliche Belastung dar, sofern die Unterbringung durch Krankheit, Pflege- oder Betreuungsbedürftigkeit verursacht ist. Ist aus einem dieser Gründe die Unterbringung in einem Alters- oder Pflegeheim geboten sind auch die Kosten der Unterbringung absetzbar. Eine rechtliche Verknüpfung der Anerkennung der Heimkosten als außergewöhnliche Belastung mit einem Bezug von Pflegegeld besteht nicht; durch den Bezug von Pflegegeld kann allerdings (alternativ zu einem ärztlichen Gutachten) der besondere Pflege- oder Betreuungsbedarf nachgewiesen werden.
Es genügt, wenn jemand behinderungsbedingte nicht mehr der Lage ist den Haushalt selbst zu führen. Hiervon kann bei Vorliegen einer ärztlichen Bescheinigung bzw bei Anspruch auf Pflegegeld ausgegangen werden (Wanke in Wiesner/Grabner/Knechtl/Wanke, EStG § 34 Anm 78 Stichwort Altersheim, Seniorenheim, Pflegeheim; Fuchs in Doralt/Kichchmayr/Mayr/Zorn, EStG20 § 34 Tz 78 Stichwort Alters- und Pflegeheim; Fuchs/Unger in Hofstätter/Reichel, EStG54 § 34 Anhang II - ABC der außergewöhnlichen Belastungen Tz 4; Jakom/Peyerl EStG 2022, § 34 Rz 90 Stichwort Altersheim (Pflegeheim); LStR 2002 Rz 887).

Das Finanzamt hat die Berücksichtigung der Pflegeheimkosten als außergewöhnliche Belastung mit der Begründung verweigert, der Beschwerdeführer habe im Jahr 2015 kein Pflegegeld bezogen und aus dem Gutachten des Sozialministeriumservice vom 12.5.2016 sei keine Pflegebedürftigkeit ersichtlich.

Voraussetzung für die Berücksichtigung der Kosten eines Alters- oder Pflegeheimes als außergewöhnliche Belastung ist, dass die Unterbringung durch Krankheit, Pflege- oder Betreuungsbedürftigkeit verursacht ist sowie, dass dieser Umstand durch den Bezug von Pflegegeld oder durch eine ärztliche Bescheinigung bzw ein ärztliches Gutachten nachgewiesen wird.

Der Beschwerdeführer hat kein Pflegegeld bezogen. Auch dem Sachverständigengutachten vom 12.5.2026 ist keine Pflegebedürftigkeit zu entnehmen.
Allerdings hat der behandelnde Internist Dr. R**** A**** in seinem Schreiben vom 27.9.2016 ausgeführt, dass aus den in diesem Schreiben angeführten "Gründen (Erkrankungen des Beschwerdeführers) [...]gemeinsam mit der Ehefrau die Überstellung im Jahr 2012 in das Seniorenpflegeheim ***** [erfolgte], wo eine weitere internistische Betreuung durch [Dr. A****] gewährleistet ist." Die genannten Erkrankungen sind auch aus dem Sachverständigengutachten des Sozialministeriumservice vom 12.5.2016 ersichtlich; der Beschwerdeführer war im Jahr 2015 zudem bereits 84 Jahre alt.
Die Unterbringung im ***** erfolgte demzufolge krankheitsbedingt, die als Pflegeheimkosten geltend gemachten Aufwendungen sind daher als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen.

Die geltend gemachten Pflegeheimkosten betragen € 2.337,04. Von diesen Kosten ist eine Haushaltsersparnis für ersparte Verpflegungskosten von € 235,44 (1/10 [nur Frühstück] von € 196,20 mal 12) in Abzug zu bringen. Dies ergibt einen zu berücksichtigenden Betrag von € 2.101,60. Bei im Pflegeheim untergebrachten Ehegatten ist für beide eine Haushaltsersparnis anzusetzen (Jakom/Peyerl EStG 2022, § 35 Rz 7).

Liegt zugleich eine Behinderung vor, können die Aufwendungen ohne Selbstbehalt geltend gemacht werden (Jakom/Peyerl EStG 2022, § 34 Rz 90 Stichwort Altersheim (Pflegeheim)). Da eine rückwirkende Berücksichtigung der Behinderung des Beschwerdeführers nach dem oben Gesagten nicht zulässig ist, sind die Pflegeheimkosten zusätzlich als Krankheitskosten mit Selbstbehalt iSd § 34 EStG anzusetzen.
Es ergibt sich damit im Jahr 2015 als außergewöhnliche Belastung einschließlich des in der Beschwerdevorentscheidung berücksichtigten Betrages von € 3.501,29 ein Gesamtbetrag von € 5.602,89 bei einem Selbstbehalt von € 4.439,11.

Die Beschwerde erweist sich somit insoweit zum Teil als berechtigt.

Zur Unzulässigkeit der Revision

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Im Beschwerdefall liegt keine Rechtsfrage vor, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die zu lösenden Rechtsfragen beschränken sich einerseits auf Rechtsfragen, welche bereits in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes beantwortet wurden und solche, welche im Gesetz eindeutig gelöst sind. Im Übrigen hängt der Beschwerdefall von der Lösung von nicht über den Einzelfall hinausgehenden Sachverhaltsfragen ab. Tatfragen sind kein Thema für eine ordentliche Revision. Eine ordentliche Revision ist daher nicht zuzulassen.

Der Beschwerde betreffend Einkommensteuer für das Jahr 2015 ist daher gemäß § 279 BAO teilweise Folge zu geben, die Beschwerde betreffend die Abweisung eines Antrages auf Wiederaufnahme der Verfahren hinsichtlich Einkommensteuer für die Jahre 2012 bis 2014 ist als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 17. Jänner 2023

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
betroffene Normen
§ 35 Abs. 2 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
Verweise
VwGH 19.10.2016, Ra 2014/15/0058
VwGH 29.09.2022, Ro 2022/15/0011
VwGH 01.09.2015, 2012/15/0197
LStR 2002, Lohnsteuerrichtlinien 2002 Rz 839f
VwGH 07.11.2022, Ra 2021/15/0073
LStR 2002, Lohnsteuerrichtlinien 2002 Rz 839
VwGH 29.03.2017, Ro 2016/15/0036
VwGH 19.10.2016, 2014/15/0058
ECLI
ECLI:AT:BFG:2023:RV.7103475.2018

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at