Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 28.12.2020, RV/5101355/2020

Familienbeihilfenanspruch bei Karenz des Vaters und Wohnsitz der Kinder in Österreich, wenn die Mutter in Deutschland beschäftigt ist

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des ***FA*** vom betreffend Rückforderung zu Unrecht bezogener Beträge an Familienbeihilfe und Kinderabsetzbeträgen im Zeitraum November 2019 bis Jänner 2020 für das Kind ***Name_Kind***in Höhe von insgesamt 540,90 Euro zu Recht erkannt:

I. Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben.
Der angefochtene Bescheid wird - ersatzlos - aufgehoben.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

1. Am erging der Bescheid über die Rückforderung zu Unrecht bezogener Beträge an Familienbeihilfe und Kinderabsetzbeträgen im Zeitraum November 2019 bis Jänner 2020 für das Kind ***Name_Kind*** iHv. insgesamt 540,90 Euro.

2. Gegen diesen Bescheid erhob die BF mit Schriftsatz vom Beschwerde und führte begründend aus, dass der Wohnsitz der Familie bis in Österreich gewesen sei. Die BF sei seit in Deutschland beschäftigt und ihr Ehemann sei seit in Väterkarenz.

3. Mit Beschwerdevorentscheidung vom wurde die "Familienbeihilfe für die Monate November 2019 bis Dezember 2019 abgewiesen" und "die Ausgleichszahlung für die Monate November 2019 bis Dezember 2019 wieder gewährt". Die gewährte Ausgleichszahlung beläuft sich auf insgesamt 116,80 Euro (Kinderabsetzbetrag für zwei Monate). Die Begründung lautete:
"Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 in der ab gültigen Fassung regelt, welcher Mitgliedstaat für ein und denselben Zeitraum für ein und denselben Familienangehörigen vorrangig zur Gewährung der im jeweiligen Hoheitsgebiet vorgesehenen Familienleistungen verpflichtet ist.
Vorrangig muss grundsätzlich jener Mitgliedstaat die Familienleistungen gewähren, in dem eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird.
Anspruch auf Familienbeihilfe besteht grundsätzlich nur für die Dauer einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit im Inland oder bei Bezug einer Geldleistung infolge dieser Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit.
Laut Artikel 59 Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 ist immer von einem ,Ersten des Monats der Beschäftigung/Geldleistung' auszugehen. Liegt am Ersten des Monats keine Beschäftigung/Geldleistung vor, besteht für diesen Monat kein Anspruch auf eine Familienleistung.
Im Zuge der Beschwerde wurde eine Dienstgeberbestätigung von der Fa.
***Z*** GmbH in Deutschland, wo Sie seit unbefristet angestellt sind und eine Schulbesuchsbestätigung von der Volksschule ***Y*** in ***X``, wo der Schulbesuch vom Kind Friedrich ***Name_Kind*** bis bestätigt wurde, vorgelegt.
Unter anderem wurde noch eine Meldebestätigung von Deutschland, wo die gesamte Familie seit in
`***Ort1*** gemeldet ist, beigefügt.
Lt. Sozialversicherungsauszug hatte Ihr Gatte bis ein Dienstverhältnis bei der Fa.
***W*** GesmbH in Österreich.
Da in Österreich ab November 2019 keine Beschäftigung mehr vorliegt, ist Deutschland der Beschäftigungsstaat und daher für die Auszahlung der Familienleistungen vorrangig zuständig. Österreich ist nur der Wohnsitz und nur nachrangig zuständig. In Österreich steht somit nur die Ausgleichszahlung aufgrund des Wohnsitzes zu.
Ihrem Ansuchen wird insoweit entsprochen, dass die Ausgleichszahlung für das Kind
***Name_Kind*** von November 2019 bis Dezember 2019 wieder gewährt wird."

4. Mit Schriftsatz vom , der als "Einspruch zur Beschwerdevorentscheidung" bezeichnet ist und in verständiger Beurteilung vom Finanzamt als Vorlageantrag qualifiziert wurde, bringt die BF vor, der angefochtene Bescheid sei aufgrund Fehlinterpretation der übermittelten Daten erstellt worden. Der Ehemann der BF sei seit in Karenz und für die Kinderbetreuung zuständig. Da das Beschäftigungsverhältnis des Ehemannes in Österreich noch nicht beendet sei, stehe bis zur Übersiedlung nach Deutschland im Jänner 2020 Familienbeihilfe in Österreich zu.

5. Am legte das Finanzamt die Beschwerde dem Bundesfinanzgericht zur Entscheidung vor und beantragte die Abweisung aus den in der Beschwerdevorentscheidung genannten Gründen.

6. Am übermittelte die BF -nach einem Telefonat am - dem Bundesfinanzgericht eine Darstellung der Sachlage und umfangreiche Unterlagen.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann waren ab in Österreich ansässig und beschäftigt.

Im Juni 2019 wurde das zweite Kind der BF geboren.

Das Beschäftigungsverhältnis der BF endete mit Beginn des Mutterschutzes.

Die BF war ab in Deutschland beschäftigt und pendelte an den Wochenenden zum Familienwohnsitz in Österreich. Unter der Woche bewohnte sie ein über "Airbnb" gebuchtes Privatzimmer.

Ihr Ehemann nahm bei seinem Arbeitgeber ab eine Karenz nach dem Väter-Karenzgesetz in Anspruch und bezog Kinderbetreuungsgeld von der österreichischen Gesundheitskasse.

Bis war die Familie in Österreich ansässig.

Beweiswürdigung

Die Feststellung der Ansässigkeit der Familie in Österreich basiert auf den von der BF dem Bundesfinanzgericht am übermittelten Unterlagen. Aus dem Schriftverkehr mit der Übersiedlungsfirma geht hervor, dass das Übersiedlungsgut am abgeholt wurde. Aus dem Schriftverkehr mit der neuen Schule der Tochter der BF in Deutschland geht hervor, dass ein Termin für eine Besichtigung der Schule erst nach Übersiedlung der Kinder im Jänner 2020 vereinbart wurde. Aus dem glaubhaften Vorbringen der BF kann geschlossen werden, dass die Kinder der BF bis in Österreich gewohnt haben.
Die übrigen Feststellungen, insbesondere die Karenz des Ehemannes und der Bezug des Kinderbetreuungsgeldes, gehen aus den übermittelten Unterlagen hervor.

Rechtliche Beurteilung

Zu Spruchpunkt I. (Stattgabe)

Im gegenständlichen Fall ist zu klären, ob ab Beginn der Beschäftigung der BF in Deutschland am bis zur Übersiedlung nach Deutschland im Jänner 2020 Österreich vorrangig für die Auszahlung der Familienbeihilfe zuständig ist, wenn der Ehemann der BF ab November 2019 in Karenz nach dem Väter-Karenzgesetz (VKG) ist.

Gemäß § 2 Abs. 1 lit. a FLAG 1967 haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, Anspruch auf Familienbeihilfe für minderjährige Kinder.

Anspruch auf Familienbeihilfe für ein in § 2 Abs. 1 FLAG 1967 genanntes Kind hat nach § 2 Abs. 2 FLAG 1967 die Person, zu deren Haushalt das Kind gehört.

Gemäß § 2 Abs. 8 FLAG 1967 haben Personen nur dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben. Eine Person hat den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in dem Staat, zu dem sie die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen hat.

Personen, die nicht österreichische Staatsbürger sind, haben gemäß § 3 Abs. 1 FLAG 1967 nur dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie sich nach §§ 8 und 9 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl I Nr 100/2005, rechtmäßig in Österreich aufhalten. Anspruch auf Familienbeihilfe besteht nach § 3 Abs. 2 FLAG 1967 für Kinder, die nicht österreichische Staatsbürger sind, sofern sie sich nach §§ 8 und 9 NAG rechtmäßig in Österreich aufhalten.

Gemäß § 5 Abs. 3 FLAG 1967 besteht kein Anspruch auf Familienbeihilfe für Kinder, die sich ständig im Ausland aufhalten.

Nach § 53 Abs. 1 FLAG 1967 sind "Staatsbürger von Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ..., soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, in diesem Bundesgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Hiebei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten."

Liegt ein Sachverhalt vor, der zwei oder mehr Mitgliedstaaten der Europäischen Union berührt, ist die Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rats vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl EU Nr L 166 vom in der durch ABl EU Nr L 200 vom berichtigten Fassung (im Folgenden: VO 883/2004) anzuwenden.

Art 2 VO 883/2004 ("Persönlicher Geltungsbereich") lautet:

"(1) Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.

(2) (…)"

Gem Art 3 Abs. 1 lit. j VO 883/2004 umfasst der sachliche Geltungsbereich der VO ua alle Rechtsvorschriften, die den Zweig der sozialen Sicherheit "Familienleistungen" betreffen. Der Begriff Familienleistungen wird in Art 1 lit z VO 883/2004 definiert als "alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I."

Zu den im österreichischen Recht vorgesehenen Familienleistungen in diesem Sinn gehören unter anderem die im FLAG 1967 geregelte Familienbeihilfe, der im EStG 1988 geregelte Kinderabsetzbetrag sowie das Kinderbetreuungsgeld iSd KBGG (Gebhart in Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG² § 53 Rz 148f).

Da die Beschwerdeführerin deutsche Staatsbürgerin und damit Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ist, im Streitzeitraum einen Wohnort in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hatte, und die Familienbeihilfe als Familienleistung iSd Art 3 Abs. 1 lit j VO 883/2004 qualifiziert ist, gilt die VO 883/2004 für sie sowie für ihre Familienangehörigen.

Art 7 VO 883/2004 ("Aufhebung der Wohnortklauseln") lautet:

"Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat."

Demzufolge finden die auf Wohnortklauseln beruhenden Bestimmungen des § 2 Abs. 1 FLAG 1967, die für den Familienbeihilfenbezug auf den Wohnort im Bundesgebiet abstellt, des § 2 Abs. 8 FLAG 1967, die auf den wesentlich durch den Wohnort bestimmten Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet abstellt, und des § 5 Abs. 3 FLAG 1967, das einen vom Wohnort abhängigen Ausschluss der Familienbeihilfe bei ständigem Aufenthalt des Kindes im Ausland vorsieht, gem Art 7 VO 883/2004 insoweit keine Anwendung.

Art 4 VO 883/2004 ("Gleichbehandlung") lautet:

"Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates."

Demnach finden die durch den Anwendungsvorrang dieser Bestimmung verdrängten Bestimmungen des § 3 Abs. 1 und 2 FLAG 1967 mit besonderen Voraussetzungen für Personen, die nicht österreichische Staatsbürger sind, auf die Beschwerdeführerin und ihre Familienangehörigen keine Anwendung.

Art 68 VO 883/2004 ("Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen") lautet:

"(1) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:

a) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge:

an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.

b) Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach den folgenden subsidiären Kriterien:

i) bei Ansprüchen, die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass dort eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, und subsidiär gegebenenfalls die nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zu gewährende höchste Leistung. Im letztgenannten Fall werden die Kosten für die Leistungen nach in der Durchführungsverordnung festgelegten Kriterien aufgeteilt;

ii) (...);

iii) bei Ansprüchen, die durch den Wohnort ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder.

(2) Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird.

(3) (...)"

Einer Anwendung des Art 68 VO 883/2004 vorgeschaltet ist zunächst die Prüfung, welcher Rechtsordnung die betreffenden Personen nach der Maßgabe der Art 11 ff VO 883/2004 unterliegen.

Art 11 VO 883/2004 lautet:

"(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2) Für die Zwecke dieses Titels wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dies gilt nicht für Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrenten oder für Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder für Geldleistungen bei Krankheit, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken.

(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

b) (…)

c) (…)

d) (…)

e) (…)

(4) (…)"

Demnach ist im beschwerdegegenständlichen Fall zunächst zu prüfen, ob beim Ehemann der BF gem Art. 11 Abs. 3 lit. a VO 883/2004 eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit vorliegt, die zur Anwendbarkeit des österreichischen Rechts führt.

Art. 1 lit. b der VO 883/2004 definiert den Begriff der Beschäftigung als "jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt".

Daneben fingiert Art. 11 Abs. 2 VO 883/2004 unter den dort genannten Umständen das Vorliegen einer Beschäftigung bzw selbstständigen Erwerbstätigkeit, wenn infolge der Beschäftigung bzw selbständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung bezogen wird. Diese Fiktion bewirkt, dass auch während des kurzfristigen Bezuges von Geldleistungen der sozialen Sicherheit bei vorübergehender Einstellung der Tätigkeit (zB Krankengeld) weiterhin von einer Ausübung der Tätigkeit auszugehen ist.

Während die Bestimmung des Art. 11 Abs. 2 VO 883/2004 nach der Rsp des OGH einen Kernbereich des unionsrechtlichen Begriffs "Beschäftigung" bzw "selbstständige Erwerbstätigkeit" darstellt und somit der Bezug von Leistungen, die unter diese Bestimmung zu subsumieren sind, unabhängig vom nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaates als Ausübung einer Beschäftigung bzw selbstständigen Erwerbstätigkeit zu werten ist, ist im Übrigen zur Präzisierung der Begriffsdefinition auf die nationalen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit zurückzugreifen (vgl. 10 Ob S 117/14z; 10 Ob S 51/17y).

Einheitliche europarechtliche Begriffsbestimmungen existieren somit - außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 11 Abs. 2 VO 883/2004 - in Bezug auf die in Rede stehende, der Ausübung einer Tätigkeit gleichgestellte Situation nicht. Die Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden: die Verwaltungskommission) hat allerdings mit Beschluss eine weitere Konkretisierung des in Art 68 VO 883/2004 verwendeten Begriffs "Beschäftigung" bzw "selbständige Erwerbstätigkeit" vorgenommen (Beschluss Nr. F1 vom zur Auslegung des Artikels 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Prioritätsregeln beim Zusammentreffen von Familienleistungen [2010/C 106/04], ABl EU Nr. C 106 vom ; im Folgenden: Beschluss Nr. F1). Dies vor dem Hintergrund, dass nach den Rechtsvorschriften verschiedener Mitgliedstaaten die Zeiten des Ruhens oder der Unterbrechung der tatsächlichen Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit (zB wegen Urlaubs, Arbeitslosigkeit etc) zum Teil unterschiedlich behandelt werden (vgl Erwägungsgrund 2 zum Beschluss Nr. F1).

Nach Z 1 des Beschlusses Nr. F1 gelten für die Zwecke des Art 68 VO 883/2004 "Ansprüche auf Familienleistungen insbesondere dann als ,durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst', wenn sie erworben wurden

a) aufgrund einer tatsächlichen Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit oder auch

b) während Zeiten einer vorübergehenden Unterbrechung einer solchen Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit

i) wegen Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Berufskrankheit oder Arbeitslosigkeit, solange Arbeitsentgelt oder andere Leistungen als Renten in Zusammenhang mit diesen Versicherungsfällen zu zahlen sind, oder

ii) durch bezahlten Urlaub, Streik oder Aussperrung oder

iii) durch unbezahlten Urlaub zum Zweck der Kindererziehung, solange dieser Urlaub nach den einschlägigen Rechtsvorschriften einer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt ist."

Zwar bezieht sich der Beschluss Nr. F1 auf die Prioritätsregeln des Art 68 VO 883/2004; da die Prioritätsregeln aber an die anzuwendenden Rechtsvorschriften anknüpfen, ist nach der im Schrifttum vertretenen Ansicht davon auszugehen, dass der Begriff "Beschäftigung" bzw "selbstständige Erwerbstätigkeit" des Art. 11 VO 883/2004 jenem des Art. 68 VO 883/2004 entsprechend zu interpretieren ist (vgl Felten in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg] Art 68 VO 883/2004 Rn 6 mwH). Vor diesem Hintergrund ist der Beschluss Nr. F1 maßgebend für die Begriffsdefinitionen in Art. 1 lit. a und lit. b VO 883/2004 im Allgemeinen - unabhängig davon, ob die Begriffsdefinition im konkreten Fall für die Auslegung des Art. 11 VO 883/2004 oder des Art. 68 VO 883/2004 von Bedeutung ist.

Für den beschwerdegegenständlichen Fall ist wesentlich, dass der Beschluss Nr. F1 "unbezahlten Urlaub zum Zweck der Kindererziehung, solange dieser Urlaub nach den einschlägigen Rechtsvorschriften einer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt ist", während Zeiten einer vorübergehenden Unterbrechung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit der tatsächlichen Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gleichsetzt. Offen bleibt damit jedoch, inwieweit ein solcher unbezahlter Urlaub nach den einschlägigen (nationalen) Rechtsvorschriften einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt sein muss.

Diesbezügliche Rechtsprechung des EuGH besteht bisher nur zur Vorgängerverordnung zur VO 883/2004. Für den Anwendungsbereich der Vorgängerverordnung (EWG) 1408/71 war die Frage, ob der betroffene Mitgliedstaat für die Gewährung von Familienleistungen weiterhin zuständig bleibt und diese Leistungen als durch eine Beschäftigung ausgelöst gelten, in dem Beschluss der Verwaltungskommission Nr. 207 vom , ABl 2006, L 175/83, näher geregelt. Danach galt unter anderem ein unbezahlter Urlaub zum Zweck der Kindererziehung als "Ausübung der Erwerbstätigkeit", solange dieser Erziehungsurlaub nach den einschlägigen Rechtsvorschriften einer Erwerbstätigkeit gleichgestellt war.

Der EuGH verwies in seiner Entscheidung vom in der Rechtssache C-516/09, Borger, auf seine frühere Rechtsprechung (, Dodl und Oberhollenzer), wonach eine Person - trotz des Ruhens des Arbeitnehmerstatus wegen eines unbezahlten Urlaubes im Anschluss an die Geburt eines Kindes und für die Erziehung dieses Kindes - dann Arbeitnehmereigenschaft iSd VO (EWG) 1408/71 besitze, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko im Rahmen eines der in Art. 1 lit. a dieser VO genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, und zwar unabhängig vom aufrechten Bestehen eines Arbeitsverhältnisses.

In seiner Folgeentscheidung zum Urteil des EuGH in der Rs Borger vertrat der OGH (10 ObS 35/11m) die Ansicht, dass die Arbeitnehmereigenschaft iSd Art. 1 lit a VO (EWG) 1408/71 iSd Rsp des EuGH auch während des Zeitraums einer sechsmonatigen Verlängerung der Karenz gegeben sei, weil während dieser Zeit nach § 8 Abs. 1 Z 2 lit g ASVG eine Teilversicherung in der Pensionsversicherung bestand. Die Voraussetzung der Erziehung eines Kindes in den ersten 48 Lebensmonaten im Inland liege vor, weil das Erfordernis einer Erziehung im Inland zur Vermeidung einer Diskriminierung so zu verstehen sei, dass auch eine Erziehung des Kindes in der Schweiz unschädlich ist. Gleiches gilt für die Erziehung eines Kindes in einem anderen EU-Mitgliedstaat (vgl 10 Ob S 117/14z).

Nach der von Rief (Zuständigkeit für Familienleistungen - aktuelle EuGH-Judikatur und die neue Rechtslage, DRdA 2011, 480 [484]) vertretenen Ansicht sei die zur VO (EWG) 1408/71 ergangene EuGH-Rechtsprechung auch auf die VO 883/2004 zu übertragen, da sich die allgemeinen Zuständigkeitsregelungen in Art. 13 Abs. 2 lit. a und f der VO (EWG) 1408/71 inhaltlich kaum von jenen in Art. 11 Abs. 3 lit a und e der VO 883/2004 unterscheiden würden.

Auch die Verwaltungskommission stellt in Erwägungsgrund 5 zum Beschluss Nr. F1 Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH in der Rs C-543/03, Dodl und Oberhollenzer fest: "Ein solcher unbezahlter Urlaub [gemeint: unbezahlter Urlaub im Anschluss an die Geburt eines Kindes für die Erziehung dieses Kindes] muss daher auch als Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit gemäß Artikel 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gelten."

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass eine Teilversicherung (insbesondere in der Pensionsversicherung) während Zeiten einer Karenz nach dem MSchG oder VKG grundsätzlich genügt, damit iSd Art. 1 lit. b VO 883/2004 eine einer Beschäftigung gleichgestellte Situation vorliegt, die iVm Art. 11 VO 883/2004 zu einer Anwendung der österreichischen Rechtsvorschriften führt (vgl. auch 10 Ob S 117/14z).

Voraussetzung für eine Teilversicherung in der Pensionsversicherung ist gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 lit. g ASVG die bisherige Pensionsversicherung nach dem ASVG. Dies war im beschwerdegegenständlichen Fall gegeben, da der Ehemann der BF bis zum Beginn der Karenz der Pflichtversicherung gem ASVG unterlag.

Da die österreichische gesetzliche Karenz des Ehemannes der BF, wie soeben ausgeführt, der Ausübung einer Beschäftigung gleichgestellt ist und die BF selbst im beschwerdegegenständlichen Zeitraum in Deutschland beschäftigt war, richtet sich die Rangfolge für Ansprüche auf Familienleistungen nach Art. 68 Abs. 1 lit. b VO 883/2004.

Demzufolge ist der Wohnort der Kinder maßgeblich und gebührt somit bis Jänner 2020 Familienbeihilfe in Österreich.

Der angefochtene Bescheid erweist sich daher als rechtswidrig (Art. 132 Abs. 1 Z 1 B-VG), er ist gemäß § 279 BAO ersatzlos aufzuheben.

Das FLAG 1967 kennt keine bescheidmäßige Zuerkennung von Familienbeihilfe. Gleiches gilt für den gemäß § 33 Abs. 3 EStG 1988 gemeinsam mit der Familienbeihilfe auszuzahlenden Kinderabsetzbetrag.

Steht Familienbeihilfe zu, ist diese gemäß § 11 FLAG 1967 vom Finanzamt auszuzahlen und hierüber vom Finanzamt gemäß § 12 FLAG 1967 eine Mitteilung auszustellen. Diese Mitteilung ist nicht rechtskraftfähig. Nur wenn einem Antrag auf Familienbeihilfe nicht oder nicht zur Gänze stattzugeben ist, ist hinsichtlich des(monatsbezogenen) Abspruchs über die Abweisung gemäß § 13 Satz 2 FLAG 1967 ein Bescheid (Abweisungsbescheid) auszufertigen (vgl. Wanke in Lenneis/Wanke, FLAG 2.A. 2020 § 26 Rz 3 m.w.N.).

Gemäß § 25 Abs. 1 BFGG und § 282 BAO ist das Finanzamt verpflichtet, im gegenständlichen Fall mit den ihm zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Bundesfinanzgerichtes entsprechenden Rechtszustand herzustellen und die Auszahlung der Familienbeihilfe vorzunehmen.

Zu Spruchpunkt II. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die ordentliche Revision ist im gegenständlichen Fall unzulässig, weil keine Rechtsfrage zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Vielmehr liegt der gegenständlichen Entscheidung im Wesentlichen die Feststellung eines Sachverhaltes zugrunde, wobei die hier maßgebende Rechtsfrage, eindeutig durch den Wortlaut der Art. 1 lit a, Art. 11 Abs. 2 und Art. 68 VO (EG) 883/2004 und den Beschluss F1 der Verwaltungskommission geregelt ist.

Linz, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
FLAG
betroffene Normen
§ 53 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
Art. 2 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
§ 2 Abs. 8 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 2 Abs. 2 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
Art. 3 Abs. 1 lit. j VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 1 lit. z VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 7 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 4 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 68 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 11 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 1 lit. b VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Beschluss 2010/C 106/04, ABl. Nr. C 106 vom S. 11
§ 8 Abs. 1 Z 2 lit. g ASVG, Allgemeines Sozialversicherungsgesetz, BGBl. Nr. 189/1955
ECLI
ECLI:AT:BFG:2020:RV.5101355.2020

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at